"Im Siegeskranze" (Wilhelm Raabe)

"Im Siegeskranze" (Wilhelm Raabe)

Eine Erzählung aus dem Jahr 1866
1 Stunde 24 Minuten
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Hochwertige Literatur, vorgelesen von professionellen Sprecherinnen und Sprechern

Beschreibung

vor 4 Monaten

In der Medizin spricht man von einem multifaktoriellen Geschehen,
wenn es um die Ursachen einer Störung geht. Immer seltener gehen
die Forscher von einem einzigen Grund aus, sie sehen eher ein
biopsychosoziales Ursachenbündel am Werk, insbesondere bei
psychischen Erkrankungen. In der Literatur des 19. Jahrhunderts
war das anders. Da werden Figuren von einem Moment auf den
nächsten „wahnsinnig“, „verlieren den Verstand“ oder sind nicht
mehr erreichbar. Auch in Wilhelm Raabes Erzählung „Im
Siegeskranze“ aus dem Jahr 1866 gibt es diesen einen Augenblick,
der das Leben einer Frau völlig ruiniert, der sie verändert und
von nun an verrückt werden lässt, verrückt vom eigenen Zentrum,
aus der inneren Balance geraten. Ludowike heißt sie, und sie
ahnte ihr Schicksal schon. Sie schrieb einen Trostbrief an den
Vater ihres Bräutigams, als sie vom Tod des Geliebten erfuhr.
Gefallen im Befreiungskrieg gegen napoleonische Truppen. Ab
diesem einen Moment ist sie eine andere. Sie kehrt sich völlig in
sich selbst, wie verkapselt, niemand kann sich ihr nähern. Und es
ist kein Zufall, dass von diesem Ereignis ziemlich genau in der
Mitte des Textes erzählt wird. Raabe war ein Autor, der sehr viel
Wert auf die Gestaltung seiner Werke legte. Und seine Sprache,
Symbole, Augenblicks- und Szenenbeschreibungen präzise einsetzte.
So auch, wenn wir erfahren, dass die Nachricht vom Tod des
Geliebten für Ludowike zugleich Sprachverlust und Schreibverlust
bedeutete: „Die Schwester hat schön geschrieben wie der beste
Schreibmeister, und ihre Gedanken konnte sie mit der Feder so
trefflich hinstellen, dass keiner es besser machen konnte.“ Doch
dann, als die Todesnachricht sie erreicht, wird der Brief, den
sie verfasste, „mit einem Mal irr“ – „wie die, welche ihn
schrieb“.


Erzählen lässt Wilhelm Raabe dieses Familiengeheimnis und vieles
drumherum von Ludowikes Schwester, die Zeugin des Geschehens
gewesen war. Sie erzählt es der eigenen Tochter – und uns. Anders
als Ludowike hat sie ihre Erzählstimme keineswegs verloren, im
Gegenteil: Wilhelm Raabe verleiht ihr eine ganz eigene poetische
Sprache. Und so traurig, mitleiderregend die Geschichte ist – an
keiner Stelle spüren wir banale Sentimentalität. Es liest –
ebenfalls unsentimental – Carola von Seckendorff.

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