Erzählkünstler
Hochwertige Literatur, vorgelesen von professionellen Sprecherinnen und Sprechern
Podcaster
Episoden
02.12.2025
1 Minute
Kein Hinweis. Keine Ahnung. Keine Idee. Nichts spürte Gilbert
Clandon von der nahenden Katastrophe. Und die raste längst auf
ihn zu. Beschäftigt in politischen Kreisen der Londoner „upper
class“, also stets mit scheinbar wichtigen gesellschaftlichen
Treffen und Entscheidungen befasst, bemerkte er nicht, was im
Privaten ablief. Angela, seine Frau, liebte einen anderen.
Solange sie lebte, hatte er davon nichts gewusst. Und nun? Ihre
Tagebücher geben nach ihrem Tod Auskunft über ihr Leben. Doch
auch in diesen Aufzeichnungen bleibt vieles uneindeutig. Als
hätte sie befürchtet, dass er sie irgendwann lesen würde, hatte
Angela unklar geschrieben, offenbar immer die Gefahr des
Entdeckt-Werdens spürend. „Wer ist B.M.?“ wird zu Gilberts
Zentralfrage nach der Lektüre der Schriften. Zwei weitere, die
sich dem Leser und der Hörerin schon früh aufdrängen, lauten: War
es Suizid? Und: Was hat B.M. mit Angelas möglichem Freitod zu
tun?
Die mehrbändigen Tagebücher und ihr Inhalt sind die einzigen
Erbstücke, die Angela ihrem Mann hinterlässt. Ein schweres, ein
bitteres Erbe. Zugleich ist nirgends in dieser Erzählung so etwas
wie Bewertung oder Parteinahme zu lesen. Das liegt ihm ganz fern.
Leserinnen und Hörer gleiten gleichsam in Gilberts Gedankenwelt
(er hat ja überlebt), werden dann aber auch Zeugen einer
alternativen Sichtweise. Virginia Woolf gelingt somit etwas, das
selten in der Literatur gelingt: Sie stellt die Perspektive der
anderen, verstorbenen Figur – Angela – gewissermaßen
gleichberechtigt dar. Die gesamte Darstellung bleibt im
literarischen Sinne gerecht, ausgewogen. Eine wohltuende Art der
poetischen Balance, die auch inhaltlich ihre Funktion hat. Denn
Gilbert erfährt durch die Lektüre der Tagebücher Wesentliches
über seine Frau – das Ende ihrer Zuneigung zu ihm, die Annäherung
an einen anderen Mann. Und wir erfahren von Angelas Gefühlen und
Wünschen, die Gilbert auch im Zuge des Lesens noch nicht zu
reflektieren imstande ist. Wir hören sehr deutlich von seiner
Empathielosigkeit, seinem mangelnden Interesse für andere und
Angelas Sehnsucht nach engem zwischenmenschlichen Kontakt und
Nähe. Vielschichtig ist das Ganze – auch politisch,
weltanschaulich.
„Das Erbe“ stammt aus dem Jahr 1940, ist zweifellos einer der
stärksten Texte von Virginia Woolf und wird hier in der
Übersetzung von Brigitte Walitzek gelesen und uns ganz nahe
gebracht von Annette Hoppe.
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17.11.2025
44 Minuten
Eine Gesellschaft, ein Empfang. Offiziere, ein General, auch
Frauen sind da. Eine Fliederfarbene, eine Blonde ... Es wird
getanzt, Kognak wird gereicht. Und offenbar fühlen sich all die
zunächst als müde beschriebenen Gäste in dem aristokratischen
Herrenhaus wohl, angeregt. Der schüchterne Rjabowitsch jedoch,
der mit dem „Luchsbackenbart“ (schon früh spielen Bärte in dieser
Erzählung eine Rolle), wirkt wie überfordert von all dem. Und
verlässt den erotisierten Ort, schaut anderen beim Billard zu,
fühlt sich dann aber auch dort deplatziert, verirrt sich in all
den Gemächern und landet in einem dunklen Raum. „Na endlich ...“,
hört er eine Frauenstimme sagen, begleitet von Duft, schlanken
Armen, die sich aus dem raschelnden Kleid um ihn schlingen, und
zarter, warmer Haut. Alle Sinne werden aktiviert, nur das Sehen
fehlt. Und dann ... der titelgebende Kuss! Anschließend ein
Schrei der Dame, zu ihrem Entsetzen wurde ihr die Fehlhandlung
klar – spätestens wohl, als sie den Luchsbackenbart spürte. Von
wem auch immer der Kuss stammte, er bezaubert Rjabowitsch, der –
wie es heißt – noch nie eine anständige Frau um die Taille
gefasst hatte. Möglicherweise unanständige. Das wissen wir nicht.
Doch eins ist klar: Die Küsserin war nicht nur anständig, sie war
natürlich auch hinreißend. War es etwa das „fliederfarbene
Fräulein“, das ihm so gefiel? Oder doch die Blonde? Rjabowitsch
macht Zukunftspläne, die eine Frau einschließen, die er nicht
kennt. Dass all seine Wunschideen unrealistisch bleiben, lässt
Tschechow ihn einige Zeit später am Flussufer spüren, und er
stellt dies auf symbolische Weise dar. „Hier“, schreibt der
Germanist Peter von Matt, „haben die jungen Frauen gebadet,
wahrscheinlich auch die eine, die ihn im Dunkeln küsste.“ Und das
raue, kalte Badetuch, das er am Steg berührt? „Dies ist das
genaue Gegenteil zu den weichen, warmen Armen, die sich ihm an
jenem Abend um den Hals legten. So wie damals Haut und Nerven
früher auf das Ereignis reagierten als sein langsames Gehirn, ist
es auch jetzt die fühlende Hand, die ihm die Botschaft sendet:
Mit dem Glück ist es nichts, und alles ist aus! Die Literatur
denkt in Szenen.“ Und in Symbolen. – Anton Tschechows berühmte
Erzählung rund um das Spüren erschien 1887 und wird hier gelesen
von Thomas Gehringer.
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03.11.2025
7 Minuten
Ach, Kafka! Was ist das denn schon wieder für ein Meisterstück!?
Arbeiterliteratur der anderen Art? Ging es in jener der 1960er-
und 70er-Jahre stets um die harte Realität der werktätigen
Bevölkerung, machst du das alles natürlich ganz anders. Obwohl
hier, in „Ein Besuch im Bergwerk“, anfangs, im ersten Satz, alles
noch seine Ordnung hat. Die Hierarchie eines
Bergwerk-Unternehmens vergangener Tage wird zwar unauffällig,
doch klar dargestellt. Im zweiten geht es noch eine
Hierarchiestufe höher, erwähnt werden eben nicht – wie zuvor –
die Ingenieure der Zwischenstufe und die Stollenarbeiter auf der
buchstäblich untersten Ebene, sondern die Direktoren. Doch dann
wirbelt der scheinbar unscheinbare Text gewohnte Ordnungen und
Kategorien durcheinander und wird so zu einer ästhetischen
Sensation. Denn es ist offenbar einer der Arbeiter, der hier
erzählt, der alle Bergwerksbesucher aus der Ingenieur-Ebene
präzise beschreibt, deren Verbindungen und
Abhängigkeitsverhältnisse scharf beleuchtet und Vermutungen
darüber anstellt, wer in welcher Beziehung zu wieder anderen
steht, welche Funktion dieser oder jener auf den höheren Etagen
möglicherweise auszuüben pflegt – und das mit einem
Selbstverständnis, das wir angesichts der hierarchischen
Verhältnisse nicht vermuten würden. Der wohl jüngste Mitarbeiter
schiebe, so lesen wir, „eine Art Kinderwagen, in welchem die
Messapparate liegen“, vor sich her, so kostbar, dass sie „tief in
zarteste Watte eingelegt“ sind. Der Wagenschieber kenne die
Funktion der Geräte nicht, ein anderer aber verstehe „offenbar
die Apparate von Grund aus und scheint ihr eigentlicher Verwahrer
zu sein. Von Zeit zu Zeit nimmt er (...) einen Bestandteil der
Apparate heraus, blickt hindurch, schraubt auf oder zu, schüttelt
und beklopft, hält ans Ohr und horcht“. Und dann ist da noch der
unbeschäftigte Diener, der jenen Hochmut, den die Herren
Ingenieure längst abgelegt haben, „in sich aufgesammelt zu haben“
scheint. Und so weiter. Auf diesem Sprachniveau wird hier
erzählt. So souverän, so gekonnt, so komisch im eigentlichen
Sinne werden Miniatur-Porträts der Gäste geboten. Dies ist also
keine Arbeiterliteratur, es geht nicht um das Werken unten im
Stollen – es geht um die ungewohnten Gäste dort. All die
Beschreibungen des erzählenden Arbeiters – oder sollten wir
besser sagen: des arbeitenden Erzählers? – sind verfasst in einer
sehr eigenen, einer deutlich literarischen Sprache, mit dosiert
und präzise eingesetztem Humor und gewagten Querverbindungsideen
bezüglich der Figuren, welche die Gäste ja nun geworden sind. Um
so selbstbewusst erzählen zu können, muss ein Geschichtenerzähler
schon sehr geübt sein. Er tarnt sich hier als dokumentarisch
schreibender, berichterstattender Bergmann – so, als wäre er gar
nicht der Schriftsteller, der er aber nun einmal eindeutig ist:
ein moderner literarischer Erzähler im Gewand des
Stollenarbeiters oder im Arbeitsanzug des Bergwerkers, jedenfalls
einer, der im falschen Kostüm steckt.
Womit wir natürlich, liebe Leserinnen und Leser dieser Zeilen,
beim wirklichen Autor und seiner Lebenssituation sind, beim
dichtenden Versicherungsangestellten in Prag. Doch das ist eine
ganz andere, biographische Geschichte. Die, die wir heute mit
großer Überzeugung und Begeisterung präsentieren, ist ein aus den
Tiefen der Erde bzw. Literaturgeschichte geborgener Erzählschatz,
zuerst im Jahr 1920 erschienen und mehr als 100 Jahre später
vorgelesen von Volker Drüke.
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20.10.2025
41 Minuten
Als Leserin und Hörer sollten wir misstrauisch sein, wenn in
einem literarischen Werk von einer „wahren Geschichte“ die Rede
ist. Denn Dichter heißen ja so, weil sie ein Geschehen – ob
wirklich stattgefunden oder frei erfunden – zu verdichten und
auch zu erdichten wissen. Wertvolle künstlerische Texte sind
alles andere als etwa Abbildung dessen, was allgemein
Wirklichkeit, Wahrheit oder Realität genannt wird, auch wenn in
unseren Tagen überall in der westlichen Welt Autofiktionen,
Memoirs usw. veröffentlicht werden. In der andersartigen
Literatur, also jener Kunst des Erzählens, in der auch
gewöhnliche Ereignisse zu aufregenden Geschichten gestaltet
werden, wird höchstens so getan, als hätte sich das Dargestellte
tatsächlich ereignet.
So auch in „Der Auftrag“ von Honoré de Balzac. Mitten im
Todeskampf, so hören wir, wird ein adeliger Mann „von dem
Gedanken an den Schrecken gepeinigt, der seiner Geliebten
eingejagt werden würde, wenn sie seinen Tod plötzlich aus der
Zeitung erführe“. Ein Zeichen der Liebe, der Zuneigung, der
Rücksichtnahme, vor allem, wenn wir bedenken, dass sich dies im
Kopf eines Sterbenden abspielt, in der finalen Zeit, in der ein
gewisser Egoismus ja durchaus verständlich wäre. Doch hier ist es
anders. Und so wird der Begleiter des Sterbenden zum Kurier
seiner Botschaft an die Geliebte. Der Überlebende erzählt davon,
wie er sein Ziel zu erreichen, seinen Auftrag zu erfüllen
versucht und welche Emotionen diesen Weg begleiten. Er wird
dadurch zum Erzähler. Und er wird vor landadeliger Kulisse zu
einem äußerst diplomatischen Handeln gezwungen. Denn die Frau ist
verheiratet! Der Bote wird Zeuge extrem unterschiedlicher
Reaktionen auf die Nachricht. Diese und die „Geheimnisse dieser
Ehe“ kennenzulernen, ist auch fast 200 Jahre nach dem
Erscheinungsjahr der Geschichte noch immer bewegend. Sie war Teil
des großen Balzac-Erzählprojekts „La Comédie humaine“ (Die
menschliche Komödie) und erschien zuerst im Jahr 1836.
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06.10.2025
7 Minuten
Es liegt nahe, hier zu schreiben: Heute geht es um die Wurst! Das
stimmt zwar, ist aber doch zu albern. Daher nochmal von vorne:
Es war einmal eine Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hat
(frei nach Peter Handke). Oder doch nicht? Doch nur im Märchen?
Johann Peter Hebel jedenfalls war ein Pfarrer und Autor in der
romantischen Märchenzeit und schrieb volkstümliche Geschichten,
die er 1811 in einem Bauernkalender versammelte. Darin
veröffentlichte er u.a. „Drei Wünsche“, einen Text, der zu einem
Klassiker wurde und in dem es eben ums Wünschen geht. Zugleich
spielt ein wirklich sehr gewöhnliches, literarisch aber
ungewöhnliches Objekt eine bedeutende Rolle: die Bratwurst – ob
mit Senf, ist nicht übermittelt (Ketchup gab’s im
deutschsprachigen Kulturraum noch nicht). Und dann ist da noch
ein Feenbesuch – der ist entscheidend.
Das Ehepaar, das die Fee trifft, hat drei Wünsche frei und acht
Tage Zeit, sich was zu überlegen. Das macht die beiden
nervös, sie sprechen und handeln nun erst recht unbedacht. Bald
geht es nur noch um die Wurst, die Bratwurst halt, die
schließlich wie ein „Husarenschnauzbart“ unter der Nase der Frau
hängt. Aus dem Plan einer möglicherweise zukunftsweisenden
Wunscherfüllung wird nichts. Nichts als eine Bratwurst, die mal
da ist, mal dort und schließlich wieder weg.
Kalendergeschichten waren in längst vergangenen Zeiten durchaus
in Mode und wichtig zur „Volkserziehung“. Literatur als
Lehrmeisterin. So war das einmal. Und wer weiß? Vielleicht hat
das Wünschen ja wirklich mal geholfen. In diesem kleinen Werk
lässt es die Protagonisten jedenfalls ratlos zurück. Es liest
Volker Drüke.
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Über diesen Podcast
In diesem Podcast werden regelmäßig vorgelesene Novellen und
Erzählungen präsentiert. Es geht also um Literatur, aus
urheberrechtlichen Gründen um jene vergangener Jahrhunderte. Die
Texte wurden meist von Schauspielerinnen und Schauspielern
eingelesen, und das, was zu hören ist, befindet sich auf
professionellem Niveau. Zunächst jeden Dienstag, ab März 2024 jeden
zweiten Dienstag gibt es Neues aus der reichhaltigen und
vielfältigen Welt der Literatur. Ein Erlebnis für alle, die sich
gerne etwas vorlesen lassen.
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