"Die Marquise von O...." (Heinrich von Kleist)

"Die Marquise von O...." (Heinrich von Kleist)

Eine Novelle aus dem Jahr 1808
1 Stunde 44 Minuten
Podcast
Podcaster
Hochwertige Literatur, vorgelesen von professionellen Sprecherinnen und Sprechern

Beschreibung

vor 5 Monaten

Satzzeichen hört man nicht. Das ist schade. Denn die Novelle, die
wir heute präsentieren, enthält den berühmtesten Gedankenstrich
der deutschsprachigen Literatur. Und was er ersetzt, wofür er
steht, ist etwas Abscheuliches: die Vergewaltigung einer Frau.
Erzählt wird darüber nicht, jedoch davon, wie es dazu kam und was
das alles bedeutet für die Marquise von O.... Verstoßen von den
Eltern, die ihr nicht glauben, sich an nichts zu erinnern,
veröffentlicht sie eine Zeitungsannonce, in der sie ihre
Schwangerschaft bekanntmacht – und auch, dass sie den werdenden
Vater „aus Familienrücksichten“ heiraten würde. Den
Vergewaltiger! Den sie nicht kennt! Nach einigen Wirrungen taucht
er auf. Was das in ihr, bei den Eltern, bei allen irgendwie
Beteiligten hervorruft, ist an einigen Textstellen überraschend.
Heinrich von Kleist ist ein Autor, der in seinen Prosawerken
einer eigenen, sehr am Individuum und an der Emotionskultur der
Empfindsamkeit orientierten Psychologie folgt – das wirkt
manchmal verwirrend. Nahezu jede Szene ist dramatisch. Und Kleist
schreibt radikal, exzentrisch. Die Wirkung all dessen ist immens.
Selten in der Literatur begegnen wir einer solchen Erzähldichte
und Gefühlsintensität, ohne dass das Ganze lächerlich oder
kitschig wirkt. Das in „Die Marquise von O....“ Erzählte ist von
alldem jedenfalls das Gegenteil: Es ist komplex und –
entsetzlich! Zugleich ästhetisch schön.


Es gibt in diesem Text noch ein weiteres wichtiges nicht hörbares
Satzzeichen, und auch dieses repräsentiert ganz Wesentliches im
Leben der Marquise. Ihrem Bruder, der ihr im Auftrag des
gemeinsamen Vaters die Kinder wegnehmen will, erwidert sie: „Sag
deinem unmenschlichen Vater, dass er kommen und mich
niederschießen: nicht aber mir meine Kinder entreißen könne!“ Der
eigentümlich gesetzte Doppelpunkt markiert den Trennungsakt vom
Vater. Selbst die angedrohte Gewalt – bis hin zur Tötung der
scheinbar unzüchtigen Tochter! – lässt sie unerschrocken: Die
Kinder bleiben bei ihr. Die Emanzipation vom bislang
gesetzgebenden Vater ist längst vollzogen. Daher das Detail „Sag
deinem ...“ statt „Sag unserem ...“. Sie fühlt sich nicht mehr
als seine Tochter. Und doch wird noch eine lange Versöhnungsszene
der beiden wiedergegeben, die Kleist merkwürdig erotisch auflädt.
Dieser Autor geht halt immer aufs Ganze. Ein
Grenzenüberschreiter, ein Regel- und Tabubrecher.


Sicher nicht nur: aber auch aufgrund dieser Szene sorgte die
Novelle nach ihrem Erscheinen im Jahr 1808 für reichlich Protest
und Unverständnis. So etwas hatte die Welt noch nicht gelesen.
Wir präsentieren eine hervorragende Lesung von Margret
Schmidt-John.

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15