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Beschreibung
vor 3 Tagen
Kein Hinweis. Keine Ahnung. Keine Idee. Nichts spürte Gilbert
Clandon von der nahenden Katastrophe. Und die raste längst auf
ihn zu. Beschäftigt in politischen Kreisen der Londoner „upper
class“, also stets mit scheinbar wichtigen gesellschaftlichen
Treffen und Entscheidungen befasst, bemerkte er nicht, was im
Privaten ablief. Angela, seine Frau, liebte einen anderen.
Solange sie lebte, hatte er davon nichts gewusst. Und nun? Ihre
Tagebücher geben nach ihrem Tod Auskunft über ihr Leben. Doch
auch in diesen Aufzeichnungen bleibt vieles uneindeutig. Als
hätte sie befürchtet, dass er sie irgendwann lesen würde, hatte
Angela unklar geschrieben, offenbar immer die Gefahr des
Entdeckt-Werdens spürend. „Wer ist B.M.?“ wird zu Gilberts
Zentralfrage nach der Lektüre der Schriften. Zwei weitere, die
sich dem Leser und der Hörerin schon früh aufdrängen, lauten: War
es Suizid? Und: Was hat B.M. mit Angelas möglichem Freitod zu
tun?
Die mehrbändigen Tagebücher und ihr Inhalt sind die einzigen
Erbstücke, die Angela ihrem Mann hinterlässt. Ein schweres, ein
bitteres Erbe. Zugleich ist nirgends in dieser Erzählung so etwas
wie Bewertung oder Parteinahme zu lesen. Das liegt ihm ganz fern.
Leserinnen und Hörer gleiten gleichsam in Gilberts Gedankenwelt
(er hat ja überlebt), werden dann aber auch Zeugen einer
alternativen Sichtweise. Virginia Woolf gelingt somit etwas, das
selten in der Literatur gelingt: Sie stellt die Perspektive der
anderen, verstorbenen Figur – Angela – gewissermaßen
gleichberechtigt dar. Die gesamte Darstellung bleibt im
literarischen Sinne gerecht, ausgewogen. Eine wohltuende Art der
poetischen Balance, die auch inhaltlich ihre Funktion hat. Denn
Gilbert erfährt durch die Lektüre der Tagebücher Wesentliches
über seine Frau – das Ende ihrer Zuneigung zu ihm, die Annäherung
an einen anderen Mann. Und wir erfahren von Angelas Gefühlen und
Wünschen, die Gilbert auch im Zuge des Lesens noch nicht zu
reflektieren imstande ist. Wir hören sehr deutlich von seiner
Empathielosigkeit, seinem mangelnden Interesse für andere und
Angelas Sehnsucht nach engem zwischenmenschlichen Kontakt und
Nähe. Vielschichtig ist das Ganze – auch politisch,
weltanschaulich.
„Das Erbe“ stammt aus dem Jahr 1940, ist zweifellos einer der
stärksten Texte von Virginia Woolf und wird hier in der
Übersetzung von Brigitte Walitzek gelesen und uns ganz nahe
gebracht von Annette Hoppe.
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