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Beschreibung
vor 5 Monaten
Von Zivilcourage, Schuld und Vergebung
Er war als Pfarrer und Dichter nach NS-Diktatur und Krieg eine
vielbeachtete Stimme für Versöhnung und gegen Wiederaufrüstung.
Heute ist die Erinnerung an Albrecht Goes verblasst – zu Unrecht.
Zivilcourage. Dafür hat die deutsche Sprache nur ein Fremdwort.
Doch es gibt sie – und es gab sie selbst unter der Diktatur, wo
Zivilcourage lebensgefährlich sein konnte. Albrecht Goes war
„durch und durch ein Citoyen“, schrieb der Pfarrerkollege Herwig
Sander 2008 zum 100. Geburtstag: ein Bürger, der im Sinne der
Aufklärung den Staat, das Gemeinwesen, mitgestaltet. Das schließt
auch Zivilcourage ein. Als Dichter und als Theologe war Unruhe
für ihn die erste Bürgerpflicht – nicht als Aufsässigkeit, „aber
als Wachsamkeit um jeden Preis“.
Den Heldinnen und Helden des Alltags in der Nazizeit, die wachsam
waren und Zivilcourage bewiesen, hat Albrecht Goes in seiner
Erzählung „Das Brandopfer“ (1954) ein Denkmal gesetzt. Die
jüdische Bevölkerung einer Stadt darf nur noch in einer einzigen
Metzgerei einkaufen, und auch dies nur für zwei Stunden pro
Woche. Die Metzgersfrau muss mit ansehen, wie der Kreis ihrer
jüdischen Kundschaft immer kleiner wird, immer mehr werden
deportiert. Trotz strengen Verbots bemisst sie die kargen
Rationen so großzügig wie möglich und steht den Bedrängten auch
sonst bei. Immer stärker wird sie zur Mitwisserin, zur
Vertrauten. „Und das ist die winzige, die wunderbare Möglichkeit
des Menschen. Man kann ein Einwickelpapier weitergeben und eine
Nachricht darin unterbringen. (…) Eine Stunde Vertrauen, ein
Atemzug Frieden.“ Doch weil sie am Ende nicht helfen kann, fühlt
sie sich schuldig und bleibt bei einem Luftangriff in ihrem
brennenden Haus: Sie will ein Opfer bringen, ein Brandopfer.
Ausgerechnet ein Jude rettet ihr das Leben.
Zivilcourage bewies auch die Pfarrfrau Elisabeth Goes, die als
Mitglied der „Württembergischen Pfarrhauskette“ 1944 das jüdische
Ehepaar Max und Ines Krakauer vier Wochen im Pfarrhaus von
Gebersheim nahe Stuttgart versteckte, später noch zwei jüdische
Frauen. Die Pfarrhauskette war eine Untergrundorganisation, die
Juden und anderen Verfolgten Zuflucht bot. Ihr Ehemann erfuhr
erst nach seiner Rückkehr aus dem Krieg davon. Elisabeth Goes
wurde später vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“
geehrt.
„Das Brandopfer“ war das erste literarische Werk eines
nichtjüdischen Autors, das die deutschen Verbrechen an den Juden
zum Thema machte. Die Erzählung wurde in mehr als zehn Sprachen
übersetzt und verfilmt. Sie war auch ein früher Beitrag zur
Versöhnung nach der Shoa. Der evangelische Pfarrer Albrecht Goes
hatte bereits 1934 mit dem damals noch in Deutschland lebenden
jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber Kontakt aufgenommen.
Als dieser 1953 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
ausgezeichnet wurde, hielt Goes die Laudatio.
Schuld und Vergebung: ein großes Thema des 1908 in einem
schwäbischen Pfarrhaus geborenen Autors. Als Militärpfarrer
musste er am Russlandfeldzug teilnehmen und in mehreren Fällen
zum Tod verurteilte Deserteure bis zur Erschießung begleiten.
Dies hat er in der knappen Erzählung „Unruhige Nacht“ (1950)
verarbeitet, die ein großes internationales Echo hatte. Der
Auschwitz-Überlebende Primo Levi in Turin, die jüdische Dichterin
und spätere Nobelpreisträgerin Nelly Sachs in Stockholm, Thomas
Mann, noch in Kalifornien, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer und
andere waren von dieser Geschichte beeindruckt.
In der heutigen Ukraine lernt ein deutscher Soldat eine junge
Witwe mit kleinem Kind kennen, deren Mann von seinesgleichen, den
Deutschen, getötet worden ist. Eine Liebe im Krieg – der Deutsche
tarnt sich als ukrainischer Bauer und will ein neues Leben
beginnen, wird durch Zufall verraten und nach Kriegsrecht
hingerichtet. Der Wehrmachtspfarrer, Alter Ego von Albrecht Goes,
sagt vorher im Gespräch mit einem anderen deutschen Pfarrer: „Wir
sind hineinverstrickt, der Hexensabbat findet uns schuldig, uns
alle.“ Doch wenn eines Tages alles vorbei wäre, dann käme es
darauf an, den Krieg zu entzaubern: „Man muß es dem Bewußtsein
der Menschen eintränken, wie banal, wie schmutzig dieses Handwerk
ist. (…) Krieg, das ist Fußschweiß, Eiter und Urin. Übermorgen
wissen das alle und wissen es für ein paar Jahre. Aber lassen Sie
nur erst das neue Jahrzehnt herankommen, da werden Sie’s erleben,
wie die Mythen wieder wachsen wollen wie Labkraut und Löwenzahn.
Und da werden wir zur Stelle sein müssen…“
Albrecht Goes war zur Stelle, als in der jungen Bundesrepublik
wieder eine Armee aufgebaut werden sollte. Gemeinsam mit dem
Theologen Helmut Gollwitzer, dem späteren Bundespräsidenten
Gustav Heinemann und vielen anderen schloss er sich der
„Paulskirchenbewegung“ an, die sich gegen die Wiederbewaffnung
einsetzte und 1955 in der Frankfurter Paulskirche ein Manifest
verabschiedete. „Unruhige Nacht“ wurde in über zwölf Sprachen
übersetzt und zweimal verfilmt.
1953 gab er seine Pfarrstelle auf, predigte weiterhin zweimal im
Monat und lebte als freier Autor in Stuttgart. Aus Albrecht Goes‘
lyrischem Werk spricht eine tiefe Glaubenszuversicht. Seine Verse
weisen zumeist formal ins 19. Jahrhundert. Oft in Geburtsanzeigen
und Taufeinladungen zitiert: das Gedicht „Die Schritte“ des
dreifachen Vaters:
Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehn Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.
Sei’s um ein Jahr, dann gehst du, Kind,
Viel Schritte unbewacht.
Wer weiß, was das dann für Schritte sind,
Im Licht und in der Nacht.
Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt
Groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
Wieder beisammen sein.
Doch es gibt auch freie Rhythmen und Montagetechnik – wenn das
Thema es nahelegt: Die Erfahrungen von Krieg und Massenmord legen
sich würgend auf die unschuldigen Kindheitserinnerungen:
Die unablösbare Kette
Als wir im Thujabaum schaukelten einst,
Weißt du noch, Bruder,
Und die Mutter rief unsre Namen hinauf
In den Baumwipfel, Bruder,
Dachte sie wohl, daß Streit uns erwarte,
Denn auch sie, die Tapf’re,
Wußte zu streiten –
Süß war, mild noch und nahe der
Apfelbaumduft um Jakobi,
Bitter des Nußbaums Arom.
Tisch und Bank war bereit,
Vieles lernen die Knaben:
Sprachen und Länder und Zeit
Und den pythagoräischen Lehrsatz.
Einen Lehrsatz noch nicht:
NUSSBAUMHOLZ IST GUT FÜR GEWEHRSCHÄFTE.
Später dann, die Platanenallee,
Und wir führten den Nachen,
Ausruhend jetzt, in das grüne
Dunkel am Hölderlinturm.
Eure Stimmen waren mit uns:
Rahel, Susanne –
Eure Namen:
Rahel, Susanne –
Heiter dir, Bruder – doch mir
Bang und flüsternd geliebt.
Schöne, vorläufige Namen. Und
Keiner hat uns wissen lassen
DEN DEFINITIVEN SAMMELNAMEN ANNE FRANK.
Aber jetzt, wenn das Quittenbaumlaub
Noch im Novemberlicht uns
Seligkeit gaukelt und Glück,
Unschuld der Kreatur –
Wem gehört diese letzte,
Die vergessene Frucht
Dort in der Krone?
Rahel, Susanne, Bruder im Thujabaum –
Jetzt freilich würgt am Halse sogleich die
Unablösbare Kette:
BAUMFRUCHT FRUCHTKERN KERNHAUS
BLAUSÄURE AUSCHWITZ.
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