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01.07.2025
10 Minuten
Von Zivilcourage, Schuld und Vergebung
Er war als Pfarrer und Dichter nach NS-Diktatur und Krieg eine
vielbeachtete Stimme für Versöhnung und gegen Wiederaufrüstung.
Heute ist die Erinnerung an Albrecht Goes verblasst – zu Unrecht.
Zivilcourage. Dafür hat die deutsche Sprache nur ein Fremdwort.
Doch es gibt sie – und es gab sie selbst unter der Diktatur, wo
Zivilcourage lebensgefährlich sein konnte. Albrecht Goes war
„durch und durch ein Citoyen“, schrieb der Pfarrerkollege Herwig
Sander 2008 zum 100. Geburtstag: ein Bürger, der im Sinne der
Aufklärung den Staat, das Gemeinwesen, mitgestaltet. Das schließt
auch Zivilcourage ein. Als Dichter und als Theologe war Unruhe
für ihn die erste Bürgerpflicht – nicht als Aufsässigkeit, „aber
als Wachsamkeit um jeden Preis“.
Den Heldinnen und Helden des Alltags in der Nazizeit, die wachsam
waren und Zivilcourage bewiesen, hat Albrecht Goes in seiner
Erzählung „Das Brandopfer“ (1954) ein Denkmal gesetzt. Die
jüdische Bevölkerung einer Stadt darf nur noch in einer einzigen
Metzgerei einkaufen, und auch dies nur für zwei Stunden pro
Woche. Die Metzgersfrau muss mit ansehen, wie der Kreis ihrer
jüdischen Kundschaft immer kleiner wird, immer mehr werden
deportiert. Trotz strengen Verbots bemisst sie die kargen
Rationen so großzügig wie möglich und steht den Bedrängten auch
sonst bei. Immer stärker wird sie zur Mitwisserin, zur
Vertrauten. „Und das ist die winzige, die wunderbare Möglichkeit
des Menschen. Man kann ein Einwickelpapier weitergeben und eine
Nachricht darin unterbringen. (…) Eine Stunde Vertrauen, ein
Atemzug Frieden.“ Doch weil sie am Ende nicht helfen kann, fühlt
sie sich schuldig und bleibt bei einem Luftangriff in ihrem
brennenden Haus: Sie will ein Opfer bringen, ein Brandopfer.
Ausgerechnet ein Jude rettet ihr das Leben.
Zivilcourage bewies auch die Pfarrfrau Elisabeth Goes, die als
Mitglied der „Württembergischen Pfarrhauskette“ 1944 das jüdische
Ehepaar Max und Ines Krakauer vier Wochen im Pfarrhaus von
Gebersheim nahe Stuttgart versteckte, später noch zwei jüdische
Frauen. Die Pfarrhauskette war eine Untergrundorganisation, die
Juden und anderen Verfolgten Zuflucht bot. Ihr Ehemann erfuhr
erst nach seiner Rückkehr aus dem Krieg davon. Elisabeth Goes
wurde später vom Staat Israel als „Gerechte unter den Völkern“
geehrt.
„Das Brandopfer“ war das erste literarische Werk eines
nichtjüdischen Autors, das die deutschen Verbrechen an den Juden
zum Thema machte. Die Erzählung wurde in mehr als zehn Sprachen
übersetzt und verfilmt. Sie war auch ein früher Beitrag zur
Versöhnung nach der Shoa. Der evangelische Pfarrer Albrecht Goes
hatte bereits 1934 mit dem damals noch in Deutschland lebenden
jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber Kontakt aufgenommen.
Als dieser 1953 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
ausgezeichnet wurde, hielt Goes die Laudatio.
Schuld und Vergebung: ein großes Thema des 1908 in einem
schwäbischen Pfarrhaus geborenen Autors. Als Militärpfarrer
musste er am Russlandfeldzug teilnehmen und in mehreren Fällen
zum Tod verurteilte Deserteure bis zur Erschießung begleiten.
Dies hat er in der knappen Erzählung „Unruhige Nacht“ (1950)
verarbeitet, die ein großes internationales Echo hatte. Der
Auschwitz-Überlebende Primo Levi in Turin, die jüdische Dichterin
und spätere Nobelpreisträgerin Nelly Sachs in Stockholm, Thomas
Mann, noch in Kalifornien, Hermann Hesse, Carl Zuckmayer und
andere waren von dieser Geschichte beeindruckt.
In der heutigen Ukraine lernt ein deutscher Soldat eine junge
Witwe mit kleinem Kind kennen, deren Mann von seinesgleichen, den
Deutschen, getötet worden ist. Eine Liebe im Krieg – der Deutsche
tarnt sich als ukrainischer Bauer und will ein neues Leben
beginnen, wird durch Zufall verraten und nach Kriegsrecht
hingerichtet. Der Wehrmachtspfarrer, Alter Ego von Albrecht Goes,
sagt vorher im Gespräch mit einem anderen deutschen Pfarrer: „Wir
sind hineinverstrickt, der Hexensabbat findet uns schuldig, uns
alle.“ Doch wenn eines Tages alles vorbei wäre, dann käme es
darauf an, den Krieg zu entzaubern: „Man muß es dem Bewußtsein
der Menschen eintränken, wie banal, wie schmutzig dieses Handwerk
ist. (…) Krieg, das ist Fußschweiß, Eiter und Urin. Übermorgen
wissen das alle und wissen es für ein paar Jahre. Aber lassen Sie
nur erst das neue Jahrzehnt herankommen, da werden Sie’s erleben,
wie die Mythen wieder wachsen wollen wie Labkraut und Löwenzahn.
Und da werden wir zur Stelle sein müssen…“
Albrecht Goes war zur Stelle, als in der jungen Bundesrepublik
wieder eine Armee aufgebaut werden sollte. Gemeinsam mit dem
Theologen Helmut Gollwitzer, dem späteren Bundespräsidenten
Gustav Heinemann und vielen anderen schloss er sich der
„Paulskirchenbewegung“ an, die sich gegen die Wiederbewaffnung
einsetzte und 1955 in der Frankfurter Paulskirche ein Manifest
verabschiedete. „Unruhige Nacht“ wurde in über zwölf Sprachen
übersetzt und zweimal verfilmt.
1953 gab er seine Pfarrstelle auf, predigte weiterhin zweimal im
Monat und lebte als freier Autor in Stuttgart. Aus Albrecht Goes‘
lyrischem Werk spricht eine tiefe Glaubenszuversicht. Seine Verse
weisen zumeist formal ins 19. Jahrhundert. Oft in Geburtsanzeigen
und Taufeinladungen zitiert: das Gedicht „Die Schritte“ des
dreifachen Vaters:
Klein ist, mein Kind, dein erster Schritt,
Klein wird dein letzter sein.
Den ersten gehn Vater und Mutter mit,
Den letzten gehst du allein.
Sei’s um ein Jahr, dann gehst du, Kind,
Viel Schritte unbewacht.
Wer weiß, was das dann für Schritte sind,
Im Licht und in der Nacht.
Geh kühnen Schritt, tu tapfren Tritt
Groß ist die Welt und dein.
Wir werden, mein Kind, nach dem letzten Schritt
Wieder beisammen sein.
Doch es gibt auch freie Rhythmen und Montagetechnik – wenn das
Thema es nahelegt: Die Erfahrungen von Krieg und Massenmord legen
sich würgend auf die unschuldigen Kindheitserinnerungen:
Die unablösbare Kette
Als wir im Thujabaum schaukelten einst,
Weißt du noch, Bruder,
Und die Mutter rief unsre Namen hinauf
In den Baumwipfel, Bruder,
Dachte sie wohl, daß Streit uns erwarte,
Denn auch sie, die Tapf’re,
Wußte zu streiten –
Süß war, mild noch und nahe der
Apfelbaumduft um Jakobi,
Bitter des Nußbaums Arom.
Tisch und Bank war bereit,
Vieles lernen die Knaben:
Sprachen und Länder und Zeit
Und den pythagoräischen Lehrsatz.
Einen Lehrsatz noch nicht:
NUSSBAUMHOLZ IST GUT FÜR GEWEHRSCHÄFTE.
Später dann, die Platanenallee,
Und wir führten den Nachen,
Ausruhend jetzt, in das grüne
Dunkel am Hölderlinturm.
Eure Stimmen waren mit uns:
Rahel, Susanne –
Eure Namen:
Rahel, Susanne –
Heiter dir, Bruder – doch mir
Bang und flüsternd geliebt.
Schöne, vorläufige Namen. Und
Keiner hat uns wissen lassen
DEN DEFINITIVEN SAMMELNAMEN ANNE FRANK.
Aber jetzt, wenn das Quittenbaumlaub
Noch im Novemberlicht uns
Seligkeit gaukelt und Glück,
Unschuld der Kreatur –
Wem gehört diese letzte,
Die vergessene Frucht
Dort in der Krone?
Rahel, Susanne, Bruder im Thujabaum –
Jetzt freilich würgt am Halse sogleich die
Unablösbare Kette:
BAUMFRUCHT FRUCHTKERN KERNHAUS
BLAUSÄURE AUSCHWITZ.
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01.06.2025
7 Minuten
Reklamekönig und Säulenheiliger
Bis heute ist der nach ihm benannte Werbeträger zehntausendfach
im Gebrauch: die Litfaßsäule. Ernst Litfaß hat Public Relations
und Öffentlichkeitsarbeit beherrscht, lange bevor es diese
Begriffe gab.
Anschlagzettel und Plakate wurden wild auf Hauswände, Zäune und
sonstige öffentlich sichtbare Flächen geklebt. Das missfiel nicht
nur dem Berliner Druckereibesitzer und Verleger Ernst Litfaß,
sondern auch dem gestrengen Polizeipräsidenten Karl Ludwig von
Hinckeldey. Diesem kam ein Angebot des umtriebigen Litfaß gerade
recht. Er wollte die alleinige Konzession zur Aufstellung von
Anschlagsäulen in der preußischen Hauptstadt. Dem preußischen
Beamten Hinckeldey konnte er dies schmackhaft machen, indem er
ihm die Möglichkeit eröffnete, eine Zensur gegen den
Plakatanschlag einzuführen. Litfaß erhielt 1854 die Konzession
zur „Errichtung einer Anzahl von Anschlagsäulen auf fiskalischem
Straßenterrain zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate
öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von
Privatanzeigen“. Außer den neu zu errichtenden Säulen umfasste
der Vertrag auch bereits bestehende Brunnen und Pissoirs, die
Litfaß mit Holz verkleiden ließ, um sie für den Plakatanschlag zu
nutzen.
Ordnung als Geschäftsidee: Die Anschlagsäulen waren anfangs in
Berlin umstritten. Litfaß wusste das und startete eine intensive
Presse- und Werbekampagne für das neue Medium. Die Idee für die
Säule hatte er übrigens von Reisen aus London und Paris
mitgebracht, was er aber nicht an die große Glocke hängte.
Um die Berliner neugierig zu machen und für sein Vorhaben zu
gewinnen, kooperierte er mit einer Tageszeitung, die fortlaufend
und wohlwollend über den Entwicklungsstand des verheißungsvollen
Projekts berichtete. Bald schon stand das Fundament der ersten
Probesäule vor dem Haus seiner Druckerei. Und die Zeitungsleser
erfuhren auch, wie die künftige Uniform der „Anschlagspediteure“
aussehen würde: Für die Plakatkleber waren eine graue Bluse mit
roten Biesen, ein schwarzer Hut und ein Schild aus Messing
vorgesehen.
Großformatige Anzeigen in allen wichtigen Berliner Zeitungen kurz
vor dem 1. Juli 1855 kamen hinzu, um an diesem Tag den
„Geburtstag“ der Litfaßsäule zu feiern. Die Berliner strömten
herbei und hörten zunächst ein kleines Platzkonzert: Es erklang
erstmals die „Ernst-Litfaß-Annoncir-Polka“ des damals berühmten
Komponisten Kéler Béla. Nun war Litfaß in seiner Heimatstadt zum
„Reklamekönig“ oder, spöttisch-liebevoll, zum „Säulenheiligen“
geworden.
Aus einer alten Buchdruckerfamilie stammend, hatte Ernst Litfaß
1845 den väterlichen Betrieb mit Druckerei und Verlag übernommen.
Sein breites kulturelles Interesse, besonders an Literatur und
Theater, nutzte er für verlegerische Aktivitäten. Im Auftrag von
sieben Theatern gab er die „Theater-Zwischen-Acts-Zeitung“
heraus. Ein Erfolg, denn sie enthielt nicht nur die aktuellen
Theaterzettel mit der Besetzung der Inszenierungen, sondern auch
Berichte und Feuilletons und kostete trotzdem nicht mehr als der
einfache Theaterzettel bisher.
Seine Druckerei modernisierte er ständig. Er betrieb mehrere
Schnellpressen, was die Kosten senkte, konnte Riesenplakate im
Format von 6,28 mal 9,42 Meter drucken und war der Erste in
Berlin, der sich an den Buntdruck wagte.
In den Kriegsjahren 1866 und 1870/71 bekam Litfaß, inzwischen zum
Kommissionsrat und Königlichen Hofbuchdrucker avanciert, die
alleinige Konzession für die Erstveröffentlichung von
Kriegsdepeschen. Das bedeutete einen weiteren geschäftlichen
Erfolg, denn die offiziellen Nachrichten lockten viele
Interessenten an die Litfaßsäulen. So erhielten auch die
Reklameplakate höhere Aufmerksamkeit, was die Werbekunden zu
schätzen wussten.
Doch Litfaß wollte nicht als Profiteur der militärischen
Nachrichtenvermittlung gelten. Er organisierte
Wohltätigkeitsveranstaltungen, die er „patriotische Feste“
nannte. Diese beliebten „Litfaß-Bälle“ waren originell gestaltet
und hatten Volksfestcharakter. Der Erlös kam zum Beispiel
Kriegsinvaliden zugute.
Ernst Litfaß starb am 27. Dezember 1874 bei einem Kuraufenthalt
in Wiesbaden. Er hinterließ er ein Millionenvermögen.
Die ersten Säulen maßen 3,28 Meter in der Höhe und 2,80 Meter im
Umfang, hatten einen Schaft aus Eisenblech und waren von einem
gusseisernen Palmettenfries bekrönt. Später baute man sie höher;
Beton, Eternit und schließlich auch Kunststoff ersetzten das
Metall. Das heutige Standardmodell bietet auf einer Standfläche
von nur 1,25 Quadratmetern eine Werbefläche von stattlichen 13
Quadratmetern. Nach Angaben des Fachverbandes Außenwerbung gibt
es heute deutschlandweit gut 35.000 Litfaßsäulen verschiedener
Art. „Die Säule als Form, wie Ernst Litfaß sie einst in
Deutschland populär machte, bleibt ein prägendes Medium in der
Außenwerbung, obgleich sie sich von der Säule mit geklebten
Plakaten hin zur Säule mit gehängten hinterleuchteten Plakaten
entwickelt hat“, sagt Christian Knappe von der Wall GmbH in
Berlin, die heute insgesamt rund 1070 Litfaßsäulen
bewirtschaftet. Da sich die Firma Wall dem kulturellen Erbe von
Litfaß verpflichtet fühlt, pflegt sie nach eigenem Bekunden „die
Grabstelle des ‚Säulenheiligen‘ auf dem Dorotheenstädtischen
Friedhof in Berlin.“
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01.05.2025
7 Minuten
Als Erster mit dem Schiff nach Indien
Er segelte als erster Europäer nach Indien und wurde als kühner
Seefahrer gefeiert. Seinem Land erschloss er den lukrativen
Gewürzhandel, seine Reisen stehen am Beginn des Kolonialismus.
Doch seine Brutalität steht zu Recht in der Kritik.
In Hamburg stehen zwei Denkmäler, eines für Christoph Kolumbus
und eines für Vasco da Gama. Wer den Zollkanal überquert, um in
die Speicherstadt zu gelangen, passiert die beiden steinernen
Figuren.
Wer war dieser Portugiese, Zeitgenosse des ungleich bekannteren
Kolumbus? Vasco da Gama lichtete im Juli 1497 in Lissabon die
Anker und landete im Mai 1498 in Calicut (heute Kozhikode) in
Indien. Er begründete die Route, auf der bis zur Eröffnung des
Suezkanals alle europäischen Schiffe nach Asien fuhren.
Seit Beginn des 15. Jahrhunderts strebte das Königreich Portugal
danach, das arabische Monopol im Handel mit indischen Gewürzen zu
brechen. Der Seeweg nach Indien, das wusste man, führte um die
Südspitze Afrikas: Erstmals 1434 gelang es, Kap Horn zu umsegeln.
Die Portugiesen waren in Europa führend als Seefahrernation.
Wirtschaftliche wie auch politische Interessen waren die
Triebfeder: Es ging darum, neue Länder zu unterwerfen und
auszubeuten und den Islam zu bekämpfen.
So startete König Manuel I. 1497 eine Expedition nach Indien. Zum
Oberbefehlshaber ernannte er den jungen Vasco da Gama, der sich
einen Ruf als fähiger Navigator erworben hatte. Als Sohn eines
königlichen Beamten wurde er um 1469 geboren.
Dass die Reise ein Erfolg wurde, war auch dem Mut des
Kommandanten zu verdanken, denn bis dahin fuhren die Schiffe fast
nur in Sichtweite der Küsten. Niemand traute sich, unbekannte
Ozeane zu durchqueren: Man fürchtete Stürme und Seeungeheuer als
tödliche Gefahren. „Um gegenüber der See, dem Wetter, den
Mannschaften, den Krankheiten, der Feindseligkeit der Afrikaner,
Araber und Inder, dem tropischen Klima und politischen Intrigen
bestehen zu können, bedurfte es neben navigatorischer Fertigkeit
einer Mischung aus Diplomatie, Entschlossenheit, Schläue,
Geistesgegenwart (…) und einer Hartnäckigkeit, die selbst in den
hoffnungslosesten Situationen nicht zu erschüttern war“, schreibt
Gernot Giertz, Herausgeber der zeitgenössischen Reiseberichte.
Als das Flaggschiff „São Gabriel“, vollbeladen mit kostbaren
Gewürzen, im September 1498 wieder in Lissabon eintraf, wurde
Vasco da Gama triumphal empfangen. Doch er hatte in Indien und
Afrika „Hass gegen alles Portugiesische gesät“, wie Giertz
feststellt: durch sein stolzes, anmaßendes und skrupelloses
Auftreten. 1502 stach Vasco da Gama zu seiner zweiten Indienfahrt
in See, diesmal mit 21 schwer bewaffneten Fahrzeugen. Portugals
Stellung an der indischen Malabarküste wurde von Vasco da Gama
ausgebaut und militärisch gestärkt. Er begründete das
portugiesische Kolonialreich in Asien.
Gernot Giertz: „Seine zweite Reise hinterließ eine breite Spur
von nutzlos vergossenem Blut, fast unvorstellbarer Grausamkeit,
Tod und Verderben“. Seitdem herrschten die portugiesischen
Vizekönige in Indien mit Raub und Mord und bereicherten sich
durch Günstlingswirtschaft, Bestechung und Betrug. Die Kolonie
verfiel.
König João III., Manuels Nachfolger, wollte die Missstände
abstellen. 1524 ernannte er Vasco da Gama zum Vizekönig von
Indien und entsandte ihn auf seine letzte Reise dorthin. Nachdem
er eine „gnadenlose Säuberungswelle“ (Giertz) in Gang gesetzt und
mit rigorosen Verordnungen und drakonischen Strafen gegen
Korruption und Misswirtschaft vorgegangen war, starb er drei
Monate nach seiner Ankunft, wahrscheinlich an Malaria.
Wie ist Vasco da Gama heute zu sehen und zu beurteilen? Im 19.
Jahrhundert, der Hoch-Zeit des europäischen Kolonialismus und
noch lange danach, galt er – wie Kolumbus – als Pionier, dessen
Tat für die Entwicklung der Menschheit von größter Tragweite war.
Deshalb errichtete man Denkmäler. Heute werden sie gestürzt. In
den USA, aber auch in Südamerika sind seit 2020 zahlreiche
Kolumbus-Statuen vom Sockel gestoßen worden – weil sie Rassismus
und Kolonialismus verherrlichen würden.
Für den Historiker Franz-Josef Arlinghaus besteht Vasco da Gama
eigentlich aus drei Personen, auf die sich heute der Blick
richtet: Zunächst die historische Figur, um 1500 unterwegs, um
das arabische Handelsmonopol zu brechen; dann der Entdecker, den
das 19. Jahrhundert aus ihm machte; und schließlich der
menschenverachtende Kolonialist, wie ihn heute einige sehen. Aus
dieser Perspektive werde der Vasco da Gama des 19. Jahrhunderts
angegriffen, nicht der historische. „Die postkoloniale Diskussion
tut sich keinen Gefallen, wenn sie zwischen den Epochen nicht
genug differenziert“, so Arlinghaus, der in Bielefeld Geschichte
des Hoch- und Spätmittelalters lehrt.
Das 19. Jahrhundert sei ebenso in den Blick zu nehmen wie die
Zeit um 1500, um zu einem differenzierten Urteil zu kommen. Das
bedeutet für den Historiker jedoch nicht, alles zu tolerieren.
Für Vasco da Gama war die Folter ein selbstverständliches
Herrschaftsmittel. Auch wenn es die Menschenrechte in der
Vormoderne noch nicht einmal als Idee gab, sagt Arlinghaus klar:
„Wer foltert, hat unrecht.“ Von Denkmalstürzen hält er trotzdem
nichts. Das Schwarzweißdenken der Bilderstürmer widerstrebt
ihm.
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01.04.2025
9 Minuten
Affe der Macht oder Retter der Verfolgten?
Sein mimisches Talent war herausragend, seine Erfolge waren
triumphal, seine Inszenierungen setzten Maßstäbe. Seine Person
jedoch war hoch umstritten, sein Leben unglücklich. Gustaf
Gründgens wurde 1899 in Düsseldorf geboren.
Als er 1934 Intendant des Preußischen Staatsschauspiels in Berlin
wurde, hatte Gustaf Gründgens, alles erreicht, was ein
Theatermann in Deutschland erreichen konnte. Die staatlichen
Bühnen führte er zu ungeahntem Glanz. Genau das war der Ehrgeiz
des Preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring, dem die
Staatstheater direkt unterstanden. Göring, der wenig später die
Schauspielerin Emmy Sonnemann heiratete, hatte das Amt des
Intendanten dem Schauspieler Gründgens angeboten, den er
bewunderte, und ließ ihm viele Freiheiten. Seine Rolle als
Künstler im Dienst der Nazidiktatur ist krass zwiespältig, die
Ambivalenz lässt sich nicht auflösen.
Einerseits konnte er als Protegé des mächtigen Göring manchen
Schauspielerkollegen helfen, die entweder Juden oder mit einer
Jüdin verheiratet oder als Regimegegner gefährdet waren. 1943
erreichte Gründgens, dass der Sänger und Schauspieler Ernst
Busch, ein Kommunist, nicht zum Tode verurteilt wurde, sondern zu
vier Jahren Zuchthaus. Der Anteil der Nazis im
Staatsschauspiel-Ensemble war gering. Die Bühne unter der
Diktatur war für den Intendanten ein geschützter, berechenbarer
Raum. Rückblickend sprach er von einem „Planquadrat“, auf dem er
genau wusste, „wenn ich den Satz sage, geht hinten eine Tür auf,
und eine Dame in einem grünen Kleid kommt herein – und nicht ein
SS-Mann“.
Andererseits verhalf er den mörderischen Machthabern zu einem
beachtlichen kulturellem Renommee und machte sie damit ein Stück
weit salonfähig. Dabei war Gründgens selbst schon allein wegen
seiner Homosexualität eindeutig gefährdet. Es war ein Tanz „auf
dem Rasiermesser“, stellte Carl Zuckmayer später fest. Die Heirat
mit der Kollegin Marianne Hoppe 1936 sollte dem Gerede über seine
sexuelle Orientierung entgegenwirken. Mit begrenztem Erfolg, wie
der Spottvers zeigt, der damals entstand: „Hoppe hoppe Gründgens,
die kriegen keine Kindgens, und wenn die Hoppe Kindgens kriegt,
dann sind sie nicht von Gründgens nicht.“
Klaus Mann, ältester Sohn von Thomas Mann, kannte Gründgens gut,
denn dieser war von 1926 bis 1929 mit seiner Schwester Erika
verheiratet gewesen. In dem Roman „Mephisto“, 1936 im Exil
erschienen, gibt Klaus Mann dem Schauspieler Hendrik Höfgen
deutliche Züge seines vormaligen Schwagers. Und nach einer
erfolgreichen Hamlet-Premiere lässt er in einem inneren Monolog
den Hamlet zu seinem Darsteller sagen, er sei „ein Affe der Macht
und ein Clown zur Zerstreuung der Mörder“.
Der Theaterwissenschaftler und Gründgens-Biograf Thomas Blubacher
spricht von einem „schillernd widersprüchlichen Menschen, der
sicher als Nutznießer des Dritten Reiches betrachtet werden kann,
der sich aber auch erfolgreich für Kollegen eingesetzt hat“.
Gerade in solchem Einsatz sieht Klaus Mann in seinem Roman
egoistische Motive: Sie beruhigen nicht nur das Gewissen des
Karrieristen Höfgen alias Gründgens, sondern sind auch
„Rückversicherungen“, die er „sich ohne gar zu große Risiken
leisten durfte“: für seine Reinwaschung, wenn das NS-Regime eines
Tages nicht mehr bestehen sollte. Tatsächlich war es 1946 Ernst
Busch und anderen zu verdanken, dass Gründgens nach neun Monaten
aus einem sowjetischen Internierungslager entlassen wurde. Nun
konnte er in der Bundesrepublik erneut eine glänzende Karriere
beginnen.
Gründgens und später sein Erbe haben jahrzehntelang juristisch
verhindert, dass das Buch in Westdeutschland erscheinen konnte.
Das geschah erst 1980. Doch Klaus Mann hatte beteuert, sein
„Mephisto“ sei kein Schlüsselroman: „Mir lag nicht daran, die
Geschichte eines bestimmten Menschen zu erzählen […] Mir lag
daran, einen Typus darzustellen und mit ihm die verschiedenen
Milieus (mein Roman spielt keineswegs nur im ‚braunen‘), die
soziologischen und geistigen Voraussetzungen, die solchen
Aufstieg erst möglich machten.“ Dennoch: Die Übereinstimmungen
bis ins Detail, nicht nur mit der Hauptfigur, liegen auf der
Hand. Aber trotzdem, erklärt Thomas Blubacher, „erzählt der Roman
beispielhaft etwas Allgemeingültiges“.
Wie aber konnte Gründgens im Faschismus künstlerisch bestehen?
Hat er seinen Anspruch verraten? Keineswegs, meint Blubacher.
Seine „werkintegren“ Klassikerinszenierungen in Verbindung mit
höchster handwerklicher Professionalität waren ihm „eine
Möglichkeit, den ‚heiligen Raum‘ des Theaters freizuhalten von
nationalsozialistisch-propagandistischer Indienstnahme“, so der
Experte. Sein „hoher und strenger Stil“ habe durchaus ins System
gepasst. Er musste sich also gar nicht in den Dienst des plumpen
„Überwältigungtheaters“ der Nazis stellen – anerkennend urteilte
später der Kollege Fritz Kortner, der als Jude vor den Nazis
fliehen musste, Gründgens habe zu den „Widerstandskämpfern gegen
den Hitlerstil“ gehört.
Die Rolle seines Lebens aber war der Böse in Person:
Mephistopheles in Goethes „Faust“, den er erstmals 1932 und im
Lauf seines Lebens rund 600-mal spielte. Schon vorher war er
immer wieder als durchtriebener Schurke auf der Bühne erfolgreich
gewesen, auch im Film: als Schränker, Geldschrankknacker, in „M –
Eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang (1931). Dem Teufel
aber, der mit Faust einen Pakt schließt, verlieh er schalkhafte,
witzige Züge. 1957 kam in Hamburg „Faust I“ mit Gründgens als
Mephisto heraus – seine berühmteste Inszenierung, die 1960
verfilmt wurde.
Von Anfang an strebte er energisch nach oben. Nach Engagements in
Halberstadt, Kiel, Hamburg, kam er 1928 in die Kulturmetropole
Berlin. Immer verhandelte er hart und entschlossen um hohe Gagen.
Sein luxuriöser Lebensstil verschlang viel Geld. Der Arbeit
ordnete Gründgens alles andere unter – menschliche Beziehungen
und die eigene Gesundheit. „Ein Fanatiker der Präzision“, schrieb
er über sich selbst, „ist er ein geschworener Feind alles
Zufälligen, Unklaren und Unkontrollierbaren. Der Zuschauer soll
verstehen, was der Schauspieler sagt. Der Schauspieler soll
verstehen, was der Dichter sagt, und der Dichter soll verstehen,
was er selber sagt.“
Als Chef, so Thomas Blubacher, zeigte er „enorme
Führungsqualitäten und eine stupende Menschenkenntnis, setzte auf
Respekt und Disziplin, forderte Einsatz und Höchstleistungen von
allen und duldete nicht die kleinste Nachlässigkeit.“ Seine
wirtschaftliche Bilanz war beeindruckend: Unter Gründgens‘
Intendanz waren die Häuser voll, spielten die Theater den
allergrößten Teil ihrer Kosten ein.
Nach dem Krieg wurde er in seiner Heimatstadt Düsseldorf
Generalintendant des neu eröffneten Schauspielhauses, dann des
Deutschen Schauspielhauses in Hamburg.
Am 7. Oktober 1963 starb Gustaf Gründgens auf einer Weltreise in
der philippinischen Hauptstadt Manila an einer Überdosis
Schlaftabletten.
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12.03.2025
6 Minuten
Arzt, Geologe, Sozialreformer, Menschenfreund
Sein Name ist untrennbar mit der Krankheit verbunden, die er als
erster beschrieben hat. Doch James Parkinson war weit mehr als
ein Arzt.
Es ist eine kurze Arbeit, die dem Mediziner James Parkinson
dauerhafte Bekanntheit einbrachte: „Ein Essay über die
Schüttellähmung“ aus dem Jahr 1817. Er berichtet darin lediglich
über sechs Fälle, nur drei davon hat er selbst eingehend
untersucht. Doch die Symptome beschreibt er treffend:
„Unwillkürliche, zitternde Bewegungen, verbunden mit verminderter
Muskelkraft, zeitweise selbst mit Unterstützung völlig
unbeweglich; Neigung zu vornübergebeugter Körperhaltung und zum
Übergang von einer laufenden in eine vorwärts rennende Bewegung;
die Sinne und der Intellekt bleiben unbeeinflusst.“ Heute ist die
Paralysis agitans nach ihm benannt: Parkinson-Krankheit.
60 Jahre nach Parkinsons Tod 1824 prägte der französische
Neurologe Jean-Marie Charcot bereits die Bezeichnung „Maladie de
Parkinson“ und empfahl seinen Studenten wärmstens die Lektüre:
„Lesen Sie das ganze Buch und es wird Ihnen Befriedigung
verschaffen und Wissen vermitteln, wie man es immer gewinnen kann
von der direkten klinischen Beschreibung bei einem ehrlichen und
sorgfältigen Beobachter.“
Und heute? Weder Parkinson noch Charcot konnten ahnen, dass das
Absterben der Dopamin produzierenden Nervenzellen im Hirnstamm
eine Schlüsselrolle spielt, schreibt die Medizinjournalistin
Sabine Schuchart im Deutschen Ärzteblatt: „Aber die eigentliche
Ursache der Erkrankung kennen wir auch 200 Jahre nach Parkinsons
Entdeckung nicht.“ Die Krankheit ist bis jetzt nicht heilbar.
Allein in Deutschland leiden 400.000 Menschen an Morbus
Parkinson.
Ein beherrschendes Lebensthema des Mediziners James Parkinson
aber war nicht die Krankheit, die er als erster beschrieb,
sondern der Einsatz für Unterprivilegierte, Arme und Schwache. Er
wurde 1755 als Sohn eines Chirurgen und Apothekers in London
geboren, übernahm dann die Praxis seines Vaters in einem Londoner
Armenviertel. Und er wurde Mitglied von politischen
Vereinigungen, die sich für eine grundlegende Reform der Steuer
und des Strafvollzugs einsetzten.
Es war die Zeit der Französischen Revolution. Unter dem Pseudonym
„Old Hubert“ veröffentlichte Parkinson antiroyalistische
Schriften. 1795 wurde König George III. in London von einer
aufgebrachten Menge mit dem Ruf nach Brot, Frieden und gleichem
Wahlrecht angegriffen, am Ende war ein Loch in der Fensterscheibe
der Staatskarosse. Auch der Armenarzt Parkinson war angeklagt, zu
den Aufrührern zu gehören, wurde aber freigesprochen.
Der vielseitige Doktor interessierte sich aber auch für Geologie
und Paläontologie und trug eine Sammlung von Fossilien zusammen,
die über England hinaus berühmt wurde. Er war Mitbegründer der
bis heute bestehenden „Geological Society of London“, der
weltweit ältesten geologischen Organisation. Als er öffentlich
erklärte, vor Tausenden von Jahren seien in England gigantische
Reptilien herumgelaufen, rieten ihm wohlmeinende Freunde, darüber
zu schweigen, um seinem wissenschaftlichen Ruf nicht zu schaden.
Von Dinosauriern hatte man damals noch nichts gehört.
Seine Bücher richteten sich oft an medizinische Laien, etwa mit
gesundheitlichen Ratschlägen, Grundkenntnissen der Chemie oder
der Warnung vor Unfallgefahren. Mit der damaligen Ausbildung von
Ärzten setzte er sich kritisch auseinander. Gemeinsam mit seinem
Sohn John veröffentlichte er 1812 den ersten englischen Aufsatz
über Blinddarmentzündung als Todesursache. Er schrieb außerdem
über Kindesmissbrauch und psychische Krankheiten, die er als
Mitarbeiter einer privaten psychiatrischen Klinik kennengelernt
hatte, und engagierte sich für menschenwürdige Zustände in den
sogenannten „Mad-Houses“, auf Deutsch damals „Irrenanstalten“
genannt.
„Parkinsons breites wissenschaftliches Interesse und sein
Engagement für soziale Gerechtigkeit sind für uns Inspiration und
Ansporn“, würdigt ihn Joseph Claßen, erster Vorsitzender der
Deutschen Gesellschaft für Parkinson und Bewegungsstörungen
(DPG), die die Erforschung der Krankheit fördert. Die DPG fühle
sich auch der Persönlichkeit Parkinsons verpflichtet.
Bei Diagnostik und Behandlung seien entscheidende Fortschritte zu
verzeichnen, vor allem in der medikamentösen Therapie, die das
fehlende Dopamin ersetze, erklärt Claßen: „Für viele Patienten
ein erheblicher Gewinn an Lebensqualität.“ Es habe zuletzt
„einige denkwürdige Veröffentlichungen von verschiedenen Ansätzen
gegeben, die darauf hindeuten, dass die Krankheit verlangsamt
werden kann oder sogar zum Stehen gebracht werden kann.“
Allerdings, betont der Direktor der Klinik für Neurologie am
Universitätsklinikum Leipzig, sei 200 Jahre nach Parkinsons Tod
trotz erheblicher Fortschritte „eine vollständige Heilung noch
nicht in greifbarer Nähe.“
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Über diesen Podcast
Jahrgang 1956, geboren in Reutlingen. Neun Jahre Volksschule, dann
sechs Jahre Internat: Evangelisches Aufbaugymnasium Mössingen bei
Tübingen. Dort habe ich begeistert Theater gespielt und 1976 Abitur
gemacht. Nach dem Zivildienst im Kreiskrankenhaus Reutlingen
studierte ich mit großer Freude in München Germanistik,
Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichte.Ich arbeitete
als Dramaturgie- und Regieassistent, als Fremdenführer, Taxifahrer,
Bänkelsänger, Archivar und – schon als Schüler und permanent – als
Journalist. In der Diakonie Neuendettelsau war ich Pressesprecher,
dann Öffentlichkeitsreferent der Lippischen Landeskirche (Detmold)
und anschließend Pressesprecher der Evangelischen Kirche von
Westfalen (Bielefeld). Journalistisch bin ich auch als Rentner
(seit 2020) für verschiedene Medien aktiv, so etwa für den
Evangelischen Pressedienst (epd), die Tageszeitung Neue
Westfälische und die Evangelische Wochenzeitung Unsere Kirche. Die
Podcasts Duderstedt auf Kultour entstehen auf der Grundlage von
Features für diese Medien. Michael Schulte danke ich herzlich für
die Idee und Umsetzung der Podcasts.
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Bad Salzuflen
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