Episoden

Jehona Kicaj über Sprachlosigkeit
27.11.2025
1 Minute
Dieses Mal ist Jehona Kicaj bei Dear Reader zu Gast. Die 1991 in Kosovo geborene Autorin ist in Göttingen aufgewachsen und hat Philosophie, Germanistik und Neue Deutsche Literaturwissenschaft studiert. Neben wissenschaftlichen Publikationen hat sie den Re:sonar Verlag mitgegründet und in diesem Jahr ihren Debütroman „ë” im Wallstein Verlag veröffentlicht. Eine der Fragen, die Jehona Kicaj auch während ihres literaturwissenschaftlichen Studiums interessiert hat, ist, wie sich Sprachlosigkeit mit den Mitteln der Sprache darstellen lässt. Bis heute kommen immer wieder neue Gräueltaten ans Licht. Was sich, während der Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ereignet hat, was sich Menschen gegenseitig antun können. Dass die Schrecken eines jeden Krieges nicht enden, sobald die Waffen ruhen und dass ihm Grausamkeiten und Erbarmungslosigkeit vorangehen, ahnen wir – auch diejenigen, die keinen Krieg erlebt haben. Wir haben davon gehört, haben uns davon erzählen lassen. Auch Jehona Kicaj hat den Kosovokrieg Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts nicht unmittelbar erlebt. Ihre Eltern waren ein paar Jahre zuvor nach Deutschland geflohen. In „ë“, der dieses Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, nähert sich Jehona Kicaj diesem Krieg, mit einem doppelten Blick. Er ist nah und fern, distanziert und getroffen. In einer Sprache, die reduziert und genau ist, umkreist sie die Leerstellen, ihre eigenen fragmentarischen Erinnerungen, das Schweigen und die Sprachlosigkeit, die dieser Krieg – wie so viele andere auch – bei den Menschen im Kosovo und in der Diaspora ausgelöst hat. Mitgebracht hat Jehona Kicaj „Die Marquise von O…“ von Heinrich von Kleist, der 1808 erschienen ist. Kleist hat hier mit dem längsten Bindestrich der Literaturgeschichte ein Zeichen als Geste für das Unsagbare benutzt. In dieser Novelle und in vielen seiner Texte erklärt er die Figuren nicht durch den Erzähler und psychologisiert ihre Handlungen nicht, sondern zeigt mit kleinen, oft unbewussten Gesten und körperlichen Zeichen, was die Figuren umtreibt. Es ist der Körper, der spricht, wenn die verbale Sprache ausbleibt. „Der Platz“ von Annie Ernaux, der zweite Text über den Jehona Kicaj und ich sprechen, bleibt „ganz nah an den gehörten Wörtern und Sätzen“. Mit diesem hypergenauen Blick auf die „Worte, Gesten, Vorlieben“ ihres Vaters, den sie in diesem Buch zu fassen versucht, hat Ernaux einen schmalen Text geschrieben, der viele andere autofiktionale Texte der letzten Jahre geprägt hat. Ernaux gelingt es in dem ursprünglich schon 1986 veröffentlichten kurzen Text, einen nüchternen und schonungslosen Blick auf sich selbst und die nach und nach entstehende Klassendistanz zu werfen – ohne Pathos und ohne Kunstanspruch. Wir haben ihn in der Übersetzung von Sonja Finck, die im Suhrkamp Verlag erschienen ist, gelesen. Und Jehona Kicaj hat aufs Schönste beim erneuten Lesen rekapituliert, wie der sachliche Ton und die fragmentarische Schreibweise ihren eigenen Text beeinflusst hat. „Die Marquise von O…“ von Heinrich von Kleist, Reclam.1986 (1808). „Der Platz“ von Annie Ernaux. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp 2019 (1986).
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Annekathrin Kohout über die Reaktionskultur und Hyperinterpretation
23.10.2025
1 Stunde 11 Minuten
Die Autorin und promovierte Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout hat bereits mehrere tolle Sachbücher über Themen wie Netzfeminismus, K-Pop und Nerds veröffentlicht. Aktuell schreibt sie die Kolumne »Feed Interrupted« für die taz. Für die Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« , die sie gemeinsam mit Mascha Jacobs und anderen herausgibt, hat sie in der aktuellen Ausgabe über das Generische nachgedacht. Neben einzelnen Ausgaben des »Kunstforum International« verantwortet sie auch die Reihe »Digitale Bildkulturen« im Klaus Wagenbach Verlag. Dort ist auch ihr aktuelles Buch »Hyperreaktiv. Wie in Sozialen Medien um Deutungsmacht gekämpft wird« erschienen. Ein Text, in dem sie sich anschaut, wie sich eine Kultur verändert, wenn Reaktionen die wichtigste Form der Kommunikation werden, wichtiger als das Ereignis, auf das sie sich beziehen. Annekathrin Kohout beschreibt die »Reaktionskultur«, in der wir leben, genau und anhand sehr vieler Beispiele. Sie sucht nach Antworten auf die Frage, warum Kommunikation in den digitalen Medien – aber natürlich nicht nur dort – oft von »Überreizung, Missverständnissen und gegenseitigem Misstrauen« geprägt ist. Sie analysiert die destruktive Kommunikationskultur, die auch durch die technische Architektur der sozialen Medien mitbestimmt wird. Denn »sie belohnt nicht Qualität oder Wahrheit, sondern Reaktionstauglichkeit. Inhalte, die starke Emotionen auslösen – Empörung, Angst, Begeisterung –,werden systematisch bevorzugt, während nuancierte, ausgewogene Beiträge in der Versenkung verschwinden.« Trotz dieser nicht sehr hoffnungsvollen Analyse, ist Annekathrin Kohout dennoch ein unterhaltsames Buch gelungen, das die spielerischen und emanzipatorischen Seiten der Internetkultur weiterhin feiert. Im Podcast sprechen Mascha Jacobs und Annekathrin Kohout über Likes und Voyeurismus, über die Antwort ohne Rede, Schnelligkeit und Deutungsdifferenzen. Was die Unterschiede zwischen Interpretationen, Überinterpretationen und Hyperinterpretationen sind. Und warum Nichtreaktionen als Reaktion gelesen werden und Hyperinterpretation instrumentell benutzt werden. Annekathrin Kohout hat den Essay »Against Interpretation« von Susan Sontag aus den frühen Sechzigerjahren mitgebracht. Er ist 1982 in der deutschen Übersetzung von Mark W. Rien als Taschenbuch bei Rowohlt erschienen. Außerdem hat sie den ebenfalls Anfang der Sechzigerjahre erschienenen Roman »Die Glasglocke« von Sylvia Plath als einen ihrer Lieblingstexte ausgewählt. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Christian Grote; der Roman wurde 1968 bei Suhrkamp veröffentlicht. In »Die Glasglocke« geht es unter anderem um Suizid und Suizidgedanken, was beunruhigend wirken kann. Bitte entscheidet selbst, ob ihr dem Podcast gerade zuhören könnt und möchtet.
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Marius Goldhorn über Dopplungen und Gegenwarten
25.09.2025
55 Minuten
Der Schriftsteller Marius Goldhorn war bereits bei Dear Reader zu Gast. Vor fünf Jahren, als sein Softcover-Roman „Park” im Suhrkamp Verlag erschien. „Sie sahen Systeme stürzen. Sie gingen in den Park“ steht auf dem Buchrücken, dieses schmalen, aber dichten Romans. Sein gerade bei Kiepenheuer & Witsch erschienener neuer Roman „Die Prozesse” führt uns erneut in ein unsicheres Europa. Und wieder wird hier die persönliche Geschichte stark von den politischen Ereignissen beeinflusst. Der Roman spielt in der nahen Zukunft, zunächst in Brüssel. Nach dem Bekanntwerden schrecklicher Gräueltaten in libyschen Lagern und während des Gedenkens an die koloniale Gewaltgeschichte Belgiens kommt es dort zu einem Aufstand. Das ungleiche Paar, T., der Ich-Erzähler und Ezra, sein reicher Freund, bewertet diesen anarchistischen Moment, der sich in einer kleinen Kommune verstetigt, unterschiedlich. Mit dieser Doppelbewegung steigen wir in den dichten Text ein, der große Themen wie Auslöschung und Archivierung, Verbergen und Entblößung, aber auch ganz konkret den Ortswechsel von der Stadt aufs Land durchspielt. Wir begleiten die beiden nach Ligurien. Auch hier gibt es keine Idylle, keinen Frieden und keine Rückzugsmöglichkeit. In dem Gespräch zwischen Marius Goldhorn und Mascha Jacobs geht es zunächst um das Interesse des Autors, seine Figuren von der Stadt aufs Land umzusiedeln. Sie sprechen über literarische Figuren als Container für Ideen, über Gegenwärtigkeit, die Oberfläche der Sprache und Verdopplungen. Außerdem sprechen sie über Krisenmindsets, Kriegszeiten und wie man darin Güte und Gnade bewahrt. Sie sprechen über das Notieren, Abschreiben und Überschreiben und warum Marius Goldhorn sich als Text-Admin versteht. Seine Texte sind stark von anderen Texten geprägt, und seine Figuren sind Behälter für Aussagen und Ideen bestimmter historischer oder noch lebender Menschen. Neben Internettheoretiker*innen der amerikanischen neuen Rechten haben ihn in „Die Prozesse“ Schriftsteller*innen und Künstler*innen der Moderne interessiert, um die Gegenwart und den neuen Faschismus zu verstehen. Im Klappentext wird „Die Prozesse” als ein Roman von rätselhafter Klarheit beworben. Das trifft auch auf die von Marius Goldhorn mitgebrachten Lieblingstexte von Clarice Lispector und Gertrude Stein zu. Im Podcast geht es um „The Winner Loses: A Picture of Occupied“ France von Gertrude Stein. Dieser Text wurde 1940 im Atlantic Monthly veröffentlicht und ist in der Textsammlung „How Writing is Written“, die 1974 von Robert Bartlett Haas herausgegeben wurde, erschienen. Eine deutsche Übersetzung gibt es bisher nicht. Er ist online auf der Homepage des Atlantic frei zugänglich (https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1940/11/the-winner-loses-a-picture-of-occupied-france/654686/). Das Gespräch über die Literatur von Clarice Lispector bezieht sich vor allem auf die Texte „Água Viva” (im brasilianischen Portugiesisch 1973 veröffentlicht) und den gerade von Luis Ruby neu übersetzten Roman von 1964 „Die Passion nach G. H.” Beide sind bei Penguin erschienen.
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Sebastian Guggolz über Vertrauen
24.07.2025
1 Stunde 9 Minuten
Dieses Mal ist Sebastian Guggolz bei Dear Reader zu Gast. Er ist Verleger, Lektor und Herausgeber. Zunächst war er Lektor bei Matthes und Seitz, als der Verlag noch sehr klein war, und erhielt dort Einblicke in alle Arbeitsbereiche eines Verlags. Mit einer Gewinnsumme von 250.000 Euro aus einer ZDF-Quizshow sicherte er sich ein gutes Polster für die kommenden Jahre der Verlagsarbeit. Seither sind in seinem Guggolz Verlag über 50 Bücher entstanden. In enger Zusammenarbeit mit den Übersetzer*innen, die konsequent mit auf dem Cover der Bücher stehen. Zu ihnen pflegt er ein vertrauensvolles Verhältnis – nicht zuletzt, weil er ausschließlich aus Sprachen übersetzen lässt, die er selbst nicht spricht. Sebastian Guggolz hat sein Verlagsprogramm auf bereits verstorbene Autor*innen aus Nord- und Osteuropa ausgerichtet. Und obwohl oder gerade weil er nur vier Bücher im Jahr veröffentlicht, sind darunter überproportional viele sehr gute Bücher. Es gibt Übersetzungen aus dem Mazedonischen, Norwegischen, Lettischen oder Isländischen, um nur einige der Sprachen zu nennen, aus denen Sebastian Guggolz Bücher verlegt. Er schreibt zudem hervorragende Nachworte und arbeitet seit 2022 auch im Lektorat des S. Fischer Verlags. Zuletzt hat er dort die Anthologie »Kafka gelesen« herausgegeben. Zusammen mit seinen Lektoratskolleg*innen hat er außerdem die aktuelle Ausgabe der Neuen Rundschau (2/25) unter dem Titel »Flops/Misslingen/Sackgassen/Aufhören« verantwortet. Mit Mascha Jacobs spricht er über Vertrauen, Relektüren, Paratexte, Übersetzungen, das Vergessen und Wiederentdecken sowie den Weltzugang über Literatur und Kunst. Natürlich sprechen sie auch wie immer über die Bücher, die Sebastian Guggolz zu Dear Reader mitgebracht hat. »Rombo« von Esther Kinsky, das 2023 bei Suhrkamp veröffentlicht wurde. Und »Das Phantom des Alexander Wolf« von Gaito Gasdanow, das 2012 in einer Übersetzung von Rosemarie Tietze beim Carl Hanser Verlag erschienen ist.
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Mara Genschel über instabile Texte
01.07.2025
1 Stunde 10 Minuten
Dieses Mal ist Mara Genschel bei DEAR READER zu Gast. Vielleicht erinnert ihr euch an ihren Auftritt beim Wettbewerb um den Ingeborg Bachmann Preis 2022, als diese Schönheit mit Schnurrbart mit leicht bescheuerten amerikanischen Akzent, einen sehr lustigen, verspielten, konzeptuellen und abgründigen Text vorgelesen hat. Er heißt DAS FENSTER ZUM HOF. Der Text ist Teil der „Midlife-Prosa“, wie Mara Genschel ihre Textsammlung genannt hat, die 2024 im Engeler Verlag erschienen ist. Im Untertitel steht „Performative Erzählungen“. Denn die Texte sind nicht nur für Performances geschrieben, sondern oft selbst performativ. Der Text übernimmt dann plötzlich, schreibt über die Autorin, verwirft sich, streicht sich durch. Die Texte werden zu einer Bühne. Ein weiteres Motiv vieler Texte ist die Suche nach einem Titel. Man hat manchmal den Eindruck, die Texte hätten keine Lust sich festzulegen, starr zu werden. Vielmehr interessiert sich die Autorin Mara Genschel dafür, was aus den Texten werden kann, und wie sie sich in der Konfrontation mit einem Publikum verändern. Damit fordert sie die normative Regelpoetik heraus. Sie hat ein Händchen dafür, Inhalt und Form auf humorvolle Weise auseinanderklaffen zu lassen. Zudem macht sie die gängigen Textkonventionen sichtbar, indem sie diese spielerisch unterläuft. Mascha Jacobs ist fasziniert von Mara Genschels konzeptuellen und musikalischen Texten! Von ihrer literarischen Institutionskritik, die klug spielerisch und sinnlich zugleich ist. Mara Genschel hat „Einkreisung eines dicken Mannes“ mitgebracht, die Titelerzählung des gleichnamigen Bandes von Paul Pörtner, der 1968 bei Kiepenheuer und Witsch erschienen ist. Außerdem hat sie „Geist der Peinlichkeit“ von Birgit Kempker dabei, das 2022 im Engeler Verlag erschienen ist. Mara Genschel arbeitet als Schriftstellerin und Performerin an einem Literaturbegriff, der nicht nur das klassische "Buch" umfasst. Die Performativität ihrer Texte entfaltet sich sowohl in speziellen Publikationskonzepten (etwa ihrer 2012-2016 in Kleinstauflage erschienenen und heute nur noch ausleihbaren "Referenzfläche") als auch in der bewussten Begegnung mit dem Publikum. Sie arbeitet interdisziplinär, auch in der Neuen Musik manchmal und im Hörspiel. Sie war Gastdozentin am Institut für Sprachkunst an der Angewandten in Wien, an der Kunstuni Linz und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Und arbeitet zur Zeit als Dozentin an der Kunshochschule für Medien Köln. 2024 hat sie die Hildesheimer Poetikvorlesung gehalten. Neben vielen anderen Publikationen und interdisziplinären Arbeiten erschienen 2024 das Hörspiel "Utopische Dialoge" (SWR2) und "Midlife-Prosa" (Engeler Verlag). Und im September 2025 erscheint „Das narzisstische Skript“ (Theorie und Praxis) ‎ eine erste kleine Werkschau bei edition text + kritik. Mara Genschel: Midlife-Prosa. Performative Erzählungen. Engeler Verlag 2024. Paul Pörtner: Einkreisung eines dicken Mannes. Erzählungen, Beschreibungen, Grotesken. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1968. Birgit Kempker: Geist der Peinlichkeit. Engeler Verlag 2022.
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Über diesen Podcast

Bei Dear Reader unterhält sich Mascha Jacobs einmal im Monat mit Autor*innen über die Bücher ihres Lebens. Über die Wege, auf denen sie zu ihnen finden, wie das Gelesene sie verändert und wie oder ob für sie Lesen und Schreiben zusammengehören.

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