Zu viel Vorschriften, zu wenig Zeit für Patient:innen? FMH-Präsidentin Yvonne Gilli über Bürokratie & Digitalisierung
39 Minuten
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vor 5 Tagen
Bürokratie frisst Zeit, die eigentlich den Patient:innen gehören
sollte. Gleichzeitig sollen DigiSanté, neue Tarife und die
Ambulantisierung das System effizienter machen – in einem Umfeld,
in dem der Ärztemangel immer spürbarer wird. FMH-Präsidentin
Yvonne Gilli spricht Klartext über Mikroregulierung, digitale
Versprechen, Fehlanreize und die Frage, was es braucht, damit
Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf auch in Zukunft sinnvoll ausüben
können.
In der Folge erwähnte Studien:
Begleituntersuchung FMH
Transkript zur Episode
00:00:13 Lukas Herzlich willkommen zu gfs.echo, dem Podcast von
gfs.bern, der die wichtigen Themen des Sorgenbarometers aufnimmt.
In dieser Staffel geht es um das Gesundheitswesen. Und heute ein
Thema, das ganz tief ins Gesundheitswesen geht, nämlich
Bürokratisierung. Jenny, Bürokratisierung ist sicherlich für die
Ärzteschaft ein ganz grosses Thema. Du hast ein wenig
reingeschaut in die letzte FMH-Begleitforschung. Was ist dort
herausgekommen?
00:00:36 Jenny Ja, es ist auf jeden Fall ein Thema. Zum Beispiel
geben in der praxisambulanten Ärzteschaft die Leute im Schnitt
an, dass sie fast eine Stunde pro Tag damit verbringen, Vorgaben
von Behörden und Versicherungen einzuhalten. Das ist doch ein
relativ beträchtlicher Anteil des Arbeitsalltags. Das sind so
Geschichten ... wie Anfragen bei der Rechnungsstellung oder auch
Berichte für Erwerbsausfallversicherungen. Gleichzeitig ist es
natürlich so: Die Versicherungen unterliegen selber auch
verschiedenen behördlichen Vorgaben. Darum ist es nicht nur ein
Problem von einzelnen Prozessen, sondern wirklich insgesamt ein
Problem des Systems mit dieser Bürokratisierung.
00:01:17 Lukas Ja, schauen wir einfach in das System hinein. Und
da haben wir die bestmögliche Gästin, auch die oberste Ärztin der
Schweiz, die aber eben selber auch im ambulanten Bereich lange
als Ärztin tätig war. Herzlich willkommen, Yvonne Gilli. Wir
haben in diesem Bereich der Bürokratisierung recht viel Kritik im
Umfeld der FMH. Sie sprechen von fortschreitender
Mikroregulierung und dysfunktionaler Bürokratie. Was sind die
Probleme mit dieser Bürokratisierung für die Ärzteschaft?
00:01:49 Yvonne Ja, die sind natürlich ganz vielschichtig. Also
das eine ist der Arbeitsaufwand. Also: Was gibt es für
Schreibarbeiten oder für Abfragearbeiten zu machen, die man nicht
als sinnvoll anschaut im Hinblick auf die Kerntätigkeit? Also das
heisst Behandlung, Diagnosestellung, Begegnung mit dem Patienten
und der Patientin. Und das hat natürlich zugenommen in den
letzten 20 Jahren, bis hin dazu, dass eben ein zu grosser Teil
der Arbeitszeit dann auch ineffizient verbracht wird, weil wir ja
auch zu wenige Ärzte und Ärztinnen haben. Und dazu gehören zum
Beispiel Versicherungsanfragen. Und Ärzte und Ärztinnen reagieren
in der Regel auch ganz negativ, wenn das Wort fällt. Es ist aber
so, wie es auch schon gesagt wurde: Auch Versicherungen werden
kontrolliert, und das heisst, vieles, was in der Gesetzgebung
eben an Rahmenbedingungen festgehalten ist und nachher im Detail
in der Verordnung geregelt wird, das schlägt dann eben über die
Versicherer letztendlich an das Endglied der Kette zurück, und
das ist dann der Arzt oder die Ärztin, die dann diese Arbeiten
erledigen muss und oft gar nicht merkt, dass das im Hintergrund
einen ganz anderen Anfang hatte und die Versicherung auch nur ein
Zwischenglied ist dazwischen. Also ein Beispiel sind begrenzte
Zulassungen von Medikamenten. Also ich nehme jetzt ein Beispiel
von einem Betäubungsmittel, weil mir das jetzt einfach gerade
spontan einfällt: Leute, die an einem Hyperaktivitätssyndrom
erkranken – und das wächst sich ja nicht einfach aus –, die haben
als Kinder eine Diagnose und brauchen dann als Erwachsene oft
Medikamente wie Ritalin, das bekannteste, eben situativ immer
noch. Und dann kommt eine Kostengutsprache, eine Anfrage von der
Krankenkasse: Können Sie uns dokumentieren, dass diese Diagnose
schon in der Kindheit gestellt wurde? Und wenn es dann auch noch
nicht gerade Ritalin ist, sondern ein neueres Medikament, also
eine jüngere Generation von ähnlich wirksamen Medikamenten, dann
muss man auch noch begründen, warum man nicht ein Medikament der
ersten Generation gibt, sondern ein Medikament der zweiten
Generation. Und das sind Aufwände, die eigentlich die ärztliche
Expertise übersteuern, und die schauen wir nicht als sinnvoll an.
Das ist jetzt ein einziges Beispiel dazu, aber ich würde gerne
ein bisschen anschaulich bleiben.
00:04:32 Lukas Ja, nein, tiptop. Wenn ich dich richtig verstehe,
ist die Ärzteschaft sehr schnell kritisch, wenn es Nachfragen der
Krankenkassen gibt. Also Kostengutsprache als Beispiel, auch wenn
man zum Beispiel Rehabilitation möchte oder so. Das ist offenbar
schon etwas, wo man sehr rasch das Gefühl hat, die Krankenkassen
wollen einfach bürokratisieren. Aber wenn ich dich richtig
verstehe, ist im Prinzip dahinter die Mikroregulierung, die du
eben so anprangerst.
00:04:56 Yvonne Genau, es ist Mikroregulierung. Also
Krankenkassen werden dann eben auch geprüft, die kommen wirklich
an die Kassenstellen und schauen, ob sie bei der Verschreibung
dieser Medikamente wirklich eine Kostengutsprache eingeholt haben
oder ob sie die nicht eingeholt haben. Also es ist wirklich nur
das Endglied der Kette. Ärzte und Ärztinnen sind skeptisch
gegenüber Versicherern, natürlich noch aus einem anderen Grund.
Und das hat manchmal mit dem Arztgeheimnis oder mit der
Schweigepflicht gegenüber einem Patienten oder einer Patientin zu
tun. Man will versicherungsrechtlich und darf auch
versicherungsrechtlich nur genau die Auskünfte an einen
Versicherer weitergeben, die er wirklich auch braucht, um seine
Arbeit zu erledigen und wozu er auch berechtigt ist. Und sonst
wird der Arzt oder die Ärztin strafrechtlich belangt. Und das
heisst, es gibt eine Hemmung im Kontakt zwischen den Versicherern
und den Ärzten und Ärztinnen.
00:05:52 Jenny Ein Punkt, der mir in der Begleitforschungsstudie
sehr fest aufgefallen ist, ist die Dokumentationsarbeit, die man
zu Abrechnungszwecken macht. Über die Jahre hinweg gibt die
Ärzteschaft in grosser Mehrheit an, dass bei ihr seit einigen
Jahren der Eindruck entsteht, dass der Aufwand immer mehr wird.
Also eigentlich schon seit einiger Zeit entsteht immer stärker
der Eindruck, es wird mehr und mehr. Jetzt aus Sicht der FMH: Was
müsste am dringendsten passieren, um so einen langjährigen Trend
endlich mal umzukehren?
00:06:21 Yvonne Was wir natürlich versuchen, ist, wirklich am
Anfang zu schauen. Der Gesetzgeber hat in den letzten zehn Jahren
eine riesige Dynamik entwickelt, etwa 44 KVG-,
Krankenversicherungsgesetz-Revisionen. Auf jede folgt dann auch
eine Verordnung, und jede wirkt sich wieder ganz direkt auf die
Arbeitstätigkeit aus. Das heisst, man muss wirklich zurückgehen,
auch bei den Rahmenbedingungen für die Gesellschaft gegenüber den
Ärzten und Ärztinnen, und wirklich nur die Rahmenbedingungen
festlegen und nicht ins letzte Detail gehen. Es gibt jetzt gerade
wieder ein Gesetz in der Revision, das ist das Epidemiengesetz
als Learning von Covid. Dort hat man sich zum Beispiel überlegt,
ob man Ärzte oder Ärztinnen verpflichten soll, dass sie
rechtfertigen müssen, wenn sie ein Antibiotikum verschreiben,
oder dass sie eine spezifische Fortbildung machen müssen, damit
sie überhaupt noch in Zukunft ein Antibiotikum verschreiben
dürfen. Wir haben in der Schweiz in der Kultur ein
Vertrauensprinzip. Das heisst, wir schauen, dass die Leute gut
ausgebildet sind und dann fähig sind, ihre Arbeit auch
qualifiziert zu machen. Und dem widerspricht natürlich eine
Mikroregulierung, die einem Arzt oder einer Ärztin nicht mehr
zutraut, ein einzelnes Medikament, das man dann auch im täglichen
Gebrauch hat, auch selbstständig zu verschreiben.
00:07:46 Lukas Wenn wir über Effizienz reden, die ja quasi auch
eine Antwort auf Bürokratisierung ist, dann hat man manchmal – in
den letzten, sagen wir, schweren Diskussionen über das EPD und
darüber, dass es nicht vom Fleck kommt – den Eindruck gewonnen,
dass die Ärzteschaft nicht nur beschleunigt, sondern manchmal
auch ein bisschen bremst. In der Strategie ist das ganz anders.
Die setzt eigentlich auf Digitalisierung. Ist da ein neuer Wind
bei der Ärzteschaft, oder ist es jetzt besonders wichtig, dass
wir in diese Richtung gehen?
00:08:15 Yvonne Wir sind einfach in einer digitalen Gesellschaft,
und das hat Vorteile und Nachteile. Wir unterscheiden natürlich:
Für uns ist Digitalisierung ein Instrument. Wie wenn ich ein
Stethoskop oder einen Blutdruckapparat brauche oder ein
EKG-Gerät, brauche ich Digitalisierung, damit sie mir bei der
Arbeit hilft. Und es ist eigentlich mittlerweile unbestritten
über fast alle Fachrichtungen, dass man die Krankengeschichte von
Patientinnen und Patienten elektronisch führt. Das hat natürlich
auch Vorteile, weil, wenn man andere Dienste wie Abfragen von
Versicherern oder auch Abfragen von Behörden, zum Beispiel von
meldepflichtigen Erkrankungen, gut in die Kommunikation mit der
elektronischen Krankengeschichte integriert hat, dann muss man
nicht ein separates Formular ausfüllen, sondern dann wird das
Formular eigentlich schon vorausgefüllt über die Angaben, die man
schon drin hat. Das wäre eben die effiziente Digitalisierung. Die
ineffiziente ist, wenn die Systeme eben nicht miteinander
kommunizieren können, weil das Spital es anders braucht als mein
Spezialarzt, mit dem ich zusammenarbeite, und dessen System sich
wieder von meinem unterscheidet. Und wir können nicht direkt
elektronisch kommunizieren, sondern es geht manchmal so weit,
dass man wirklich etwas ausdrucken muss und wieder neu einscannen
und dann per E-Mail-Anhang zum Beispiel abschicken – dann auch
verschlüsselt abschicken, je nachdem. Und dann wird man natürlich
verlangsamt, dann ist man plötzlich viel langsamer, als wenn man
noch ein Blatt Papier vor sich hat und einfach von Hand schreibt.
Und mit dem waren wir eher konfrontiert in der Vergangenheit als
mit dem Gewinn der Digitalisierung.
00:09:59 Jenny Vielleicht eben einfach, um das positive Beispiel,
das du vorher schon erwähnt hattest, wieder einzubringen mit der
elektronischen Krankengeschichte. Also da hat der Bund auch
Zahlen dazu. Und man hat schon gesehen, bei der letzten Erhebung
2022 führen 58% der Arztpraxen oder ambulanten Zentren schon
vollständig die Krankenakte elektronisch. Vor zehn Jahren waren
es erst 35%. Das ist sicher ein positives Beispiel, wo man sieht,
es geht etwas in die richtige Richtung. Was sind aus deiner Sicht
die Punkte, die man bei der Digitalisierung als Nächstes angehen
sollte, um einerseits den Arbeitsalltag der Ärztinnen und Ärzte
zu erleichtern, aber im Endeffekt natürlich auch die Versorgung
der Patienten?
00:10:42 Yvonne Also für uns ist es ganz wichtig, dass wir mehr
strukturierte Informationen haben, also zum Beispiel einen
Blutdruckwert, bei dem man wirklich genau weiss: Das ist jetzt
der Blutdruckwert vom rechten Oberarm und der ist so und so viel,
sodass man dann wirklich, wenn man einen Patienten oder eine
Patientin überweist, diese Werte direkt in das Dokument
importieren kann, das man dann braucht. Für das braucht es aber
eine kodierte Sprache, damit nachher alle auch das Gleiche
verstehen. Es braucht zum Beispiel eine geeignete
Diagnosekodierung. Und es braucht dahinter natürlich das Gleiche
auf der technischen Seite. Es braucht einen einheitlichen
Standard auf der technischen Seite. Und wir haben beides noch
nicht in der Schweiz. Wir haben noch keine nationalen Standards
für die Inhalte und wir haben noch keine nationalen Standards bei
der Technologie. Und da sind wir wirklich um Jahre hintendrein
gegenüber gewissen anderen Ländern, den nordischen Ländern zum
Beispiel oder den USA.
00:11:51 Lukas Dort ist DigiSanté der Versuch, aufzuholen. Man
spürt eine Aufbruchstimmung, man spürt den politischen Rückenwind
in Richtung Digitalisierung. Das grosse Plädoyer, das jetzt so
rund um das Projekt DigiSanté herrscht, ist, dass die Akteure
dort voll auch mitziehen. Ist der neue Spirit da? Kann die
Ärzteschaft sagen, diese Digitalisierung unterstützen wir, jetzt
wollen wir voll auch mitgehen und mithelfen, eben so Standards
zum Beispiel zu schaffen und zu nutzen?
00:12:21 Yvonne Man muss wirklich unterscheiden, was die
Ärztinnen und Ärzte wollen und was uns die IT-Provider
bereitstellen. Ob diese Hürde schon genommen ist, wissen wir zum
jetzigen Zeitpunkt nicht. Für uns ist es wichtig, dass die
Digitalisierung einen Nutzen bringt und die Effizienz
unterstützt. Das heisst, wir wünschen uns das. Aber wir sind auch
gleichzeitig abhängig von dieser Software, die uns zur Verfügung
steht und uns notabene für teures Geld verkauft wird. Wir zahlen
auch noch Lizenzgebühren und Schnittstellengebühren, damit wir
miteinander kommunizieren können. Auf diesem Faktor sind die
Ärzte schon sensibel, weil sie viele IT-Systeme in der älteren
Generation noch selbst entwickelt haben, also sehr viel Geld in
die IT-Entwicklung investiert haben. Danach haben sich die KMUs
gebildet, die in der Schweiz die Software angeboten haben. Sie
sind aber auch nicht wirklich zukunftsfähig und in einem
internationalen Kontext nicht wirklich entwicklungsfähig. Diese
Systeme haben die Ärzte dann wieder teuer bezahlt. Und wenn sie
plötzlich den IT-Provider einfach wechseln müssen, weil es eine
Strukturbereinigung gibt, die wir uns im Grunde genommen
wünschen, dann zahlen sie für diesen Wechsel auch nochmals. Die
öffentliche Hand hat in der Schweiz bis jetzt nie Mittel für
diese Investitionen eingesetzt, und das ist ein grosser
Unterschied zu allen anderen Ländern, wo die IT weiter
fortgeschritten ist, weil dort wirklich die öffentliche Hand
nicht nur die Standards gesetzt hat, die wir uns wünschen,
sondern wirklich auch finanzielle Incentives geschaffen hat,
damit man nachher auch die Instrumente genutzt hat. Und ich
glaube, das braucht es in der Schweiz auch noch.
00:14:09 Lukas Wenn man jetzt ein bisschen visionär sein möchte,
wäre das fast das Plädoyer, zu sagen, jetzt ist der Moment, mit
dieser Lösung, die da vorbereitet wird, mitzuziehen und dann auch
bereits Bereitschaft zu entwickeln, wirklich zu wechseln oder in
ein neues System zu investieren, statt dass quasi Zug um Zug
jetzt eben die ganzen Akteure versuchen, mehr zu digitalisieren.
00:14:30 Yvonne Ja, das sehe ich genau gleich. Ich sehe natürlich
auch die Demografie der Ärzteschaft. Und wenn ich auch den
Ärztemangel anschaue, dann sind wir natürlich wirklich darauf
angewiesen, dass Ärzte und Ärztinnen nicht mit 65 Jahren aufhören
zu arbeiten, weil das die Babyboomer-Generation ist, die jetzt in
Pension geht. Und wir können diese nur abfedern mit mehr
Nachwuchs, wenn diese Ärztinnen und Ärzte noch etwas länger
arbeiten. Und viele sind auch bereit, länger zu arbeiten, aber
sie können ihre Investitionen nicht mehr amortisieren. Das
heisst, hier sind wir eigentlich auf eine gewisse Grosszügigkeit
angewiesen oder auch auf Übergangsregelungen, die dann nicht
grosse Investitionen abverlangen.
00:15:15 Lukas Dort wäre das Thema schon gesetzt:
Fachkräftemangel. Ich glaube, wir können nicht über die
Ärzteschaft reden, wenn wir nicht auch über den Mangel sprechen,
der vor allem jetzt noch eher grösser wird. Grundversorgung ist
ein riesiges Thema. Man hat jetzt bei den Studienplätzen schon
gewisse Bewegungen gemerkt. Aber wenn wir jetzt mehr über die
Arbeitsbedingungen reden, wo man quasi zum Beispiel die Leute
motivieren möchte, vielleicht etwas höherprozentig zu sein,
vielleicht etwas länger im Beruf zu bleiben, vielleicht auch mehr
Verantwortung zu übernehmen, vielleicht auch bei den Frauen, von
denen man weiss, dass die Karriereschritte sehr anspruchsvoll
sind mit den Belastungen, stundenmässig, anstellungsgradmässig,
wie man sie heute hat: Wo muss man ansetzen, damit die
Arbeitsbedingungen motivierend bleiben und der
Ärzte-Fachkräftemangel auch indirekt bekämpft wird?
00:16:05 Yvonne Ich glaube, das ist nicht einmal so
branchenspezifisch, sondern hängt eher mit der gesellschaftlichen
Entwicklung und mit den Generationenbedürfnissen zusammen. Und
das sagen uns eigentlich die jungen Ärzte und Ärztinnen sehr
direkt. Die Bürokratie, die wir schon angesprochen haben, ist ein
ganz wichtiger Ausstiegsgrund, weil sie den Sinn nicht mehr sehen
in einer Arbeit, in der sie mehr dokumentieren, als sie
Patientinnen und Patienten betreuen. Also man muss sie entlasten
von den Arbeiten, die auch andere Berufe eigentlich übernehmen
können, die nicht unbedingt der Arzt oder die Ärztin machen muss,
oder ihnen die Hilfsmittel geben, die sie entlasten. Und
gleichzeitig wollen sie flexiblere Arbeitsbedingungen, und sie
schauen ihre Arbeit eher als Job und weniger als Berufung an. Das
heisst, sie wollen auch geregelte Arbeitszeiten. Das heisst
mittlerweile schon, dass man einen Arzt oder eine Ärztin, die in
Pension geht, durch ungefähr anderthalb Personen ersetzen muss.
Das zeigt nochmal, was für ein Bedarf da auf uns zukommt in
Zukunft.
00:17:17 Jenny Ja, du sprichst da verschiedene Punkte an, die
auch in den Begleitforschungsstudien sehr deutlich zum Zuge
gekommen sind. Also man sieht einerseits eben: Den Sinn in der
Arbeit sehen die allermeisten weiterhin. Also es ist eine grosse
Zufriedenheit mit den Aufgaben, die man macht als Ärztin oder
Arzt in der Schweiz. Aber tatsächlich, je nach Art der
Ärzteschaft, aber beispielsweise bei den praxisambulanten
Ärztinnen und Ärzten, denkt rund ein Fünftel schon darüber nach,
in den nächsten Jahren aufzuhören. Und da sind tatsächlich eben
auch Faktoren dabei, die viel mit den Arbeitsbedingungen zu tun
haben. Einerseits die langen Arbeitszeiten, das weiss man ja,
dass das oft so ist im ärztlichen Bereich. Aber auch Stress, der
ein grosses Thema ist, mangelnde Vereinbarkeit von Familie und
Beruf. Einerseits hast du vorhin gesagt, wir bräuchten eigentlich
fast mehr Leute, die länger arbeiten, um diesen Mangel zu decken.
Gleichzeitig scheinen diese Faktoren bei den Arbeitsbedingungen
doch auch eine grosse Rolle zu spielen. Siehst du da irgendeinen
Weg, der Ärzteschaft entgegenzukommen, was die Bedingungen
anbelangt?
00:18:24 Yvonne Es gibt ja ganz unterschiedliche Arbeitsumfelder.
Ein Spital ist nochmals anders als die freie Praxis. In der
freien Praxis, wo viele Ärzte und Ärztinnen erst einmal
angestellt sind, in einer Gruppenpraxis, merken sie nach drei,
vier Jahren aber plötzlich, dass sie auch zusätzliche Freiheiten
und Gestaltungsmöglichkeiten hätten, wenn sie Teilhabende einer
Praxis sind. Das heisst, man muss ihnen eigentlich die Zeit
geben, man muss sie einführen, und dann ist das genau ein
Arbeitsmodell, das eigentlich dann wieder besser auch Beruf und
Familie vereinbaren lässt, weil man beispielsweise nicht einfach
die vorgegebenen Ferien dann hat, wenn der Arbeitgeber die einem
geben will, sondern weil man einfach mehr Freiraum hat, gerade
wenn man eine Familie hat, zum Beispiel auch die Arbeitszeit ganz
bewusst zu reduzieren während der Schulferienzeit. Das ist an
Spitälern viel weniger so, natürlich auch viel weniger möglich,
weil die ja andere Auslastungen haben. Auch dort braucht es aber
flexiblere Arbeitszeitmodelle.
00:19:29 Lukas Wir haben von den Bedürfnissen gesprochen, die
sich ändern. Wir haben über die jüngeren Generationen gesprochen,
Teamarbeit, andere Formen von Aufteilung, vielleicht auch andere
Verantwortlichkeit. Ist da ein neues Rollenverständnis, dass man
vielleicht weniger Einzelkämpferin, Einzelkämpfer ist und mehr
vernetzter Gesundheitsprofi auch mit den anderen Akteuren? Ist
das schon im Gang, oder sind wir noch erst am Anfang von diesem
Prozess?
00:19:54 Yvonne Also man ist weniger Einzelkämpfer, sodass man
wirklich ganz alleine in einer Einzelpraxis arbeiten will. Das
rechnet sich übrigens im jetzigen Modell auch wirtschaftlich
nicht. Man braucht eine Praxis, die ungefähr 200 bis 300
Stellenprozent, also zwei bis drei Vollzeitstellen, wie auch
immer die dann verteilt sind, hat, damit man überhaupt ein
angemessenes Einkommen erwirtschaften kann. Da kommen wieder die
Regulatorien dazu, die sind eben auch nicht gratis zu haben. Da
geht es zum Beispiel um Vorschriften zum Sterilisieren oder zur
Arbeitssicherheit der Angestellten. Das muss alles bezahlt sein.
Auch die IT-Infrastruktur natürlich.
00:20:38 Lukas Wie sieht es bei der stationären Versorgung aus?
Dort ist schon mein Eindruck, dass es sehr stark noch
hierarchisch ist und dass fast Fürstentümer in den einzelnen
Kliniken bestehen, wo man wenig miteinander und mit der Pflege
zum Beispiel arbeitet. Ist es dort noch weniger weit mit dem
Team?
00:20:58 Yvonne Also das Miteinander im Team, das sind sich Ärzte
und Ärztinnen ja eigentlich gewohnt vom Spital her, aber mit
einer sehr traditionellen Rollenverteilung und immer noch mit
sehr stark ausgeprägten Hierarchien. Das Miteinander in einem
interprofessionellen Bereich mit flachen Hierarchien, also eine
vielleicht echtere Teamarbeit, das sind sich Ärzte in gewissen
Bereichen gewohnt, wo man gar nicht anders funktionieren konnte.
Zum Beispiel in der Rehabilitation oder in der
Entwicklungspädiatrie, also in der Kinderheilkunde. Dort kann man
gar nicht anders betreuen als im Team. Und alle anderen Ärzte
sind sich dort schon noch sehr stark gewohnt, in ihrer eigenen
Rolle eine grosse Verantwortung zu übernehmen und höchstens noch
zu delegieren, aber wenig partizipativ auch Verantwortung abgeben
zu können. Unsere Strukturen bilden das auch nicht ab. Das ist
ein Kulturprojekt, und es fängt in der Ausbildung an, solange man
nicht gemeinsame Ausbildungsgänge hat. Die gibt es im Ansatz,
aber erst im Ansatz. An der Uni Bern hat man zum Beispiel einen
teilgemeinsamen Ausbildungsgang mit Apothekerinnen und
Apothekern. So werden natürlich beide Berufe von Anfang an ganz
anders sozialisiert. Die merken, wie sie zusammenarbeiten können.
Das wird lange brauchen und kann man auch nicht einfach
übertragen aus anderen Ländern, weil auch dort sind es
kulturspezifische Projekte. Ich habe selber noch in England
Medizin studiert, und dort hat man ja immer, früher, Respekt
gehabt vor den Nurses, weil die viel selbstständiger gearbeitet
haben gegenüber dem Arzt oder der Ärztin. Also es war dort
weniger hierarchisiert, aber gleichzeitig durften sie viel
weniger machen als eine Pflegefachfrau in der Schweiz. Und das
hat eben gezeigt, die Kulturen sind einfach unterschiedlich, und
man kann nicht einfach dann sagen, weil jetzt dort das so
funktioniert, kann man das jetzt einfach übertragen auf die
Schweiz. Aber wir lernen ja jetzt auch, gerade im internationalen
Vergleich mit den neuen Berufen, dass ärztliche Aufgaben zum Teil
übernommen werden müssen, damit wir überhaupt noch sinnvoll
betreuen können.
00:23:33 Lukas Vielleicht auch ein Weg gegen Fachkräftemangel,
eben die Hierarchiefreiheit und dass es entspannter vielleicht
auch zugeht in einem Spital, wo vielleicht auch häufig halt
Stress ist und es um Leben und Tod geht – das darf man nicht
unterschätzen –, aber ja, das habe ich ein bisschen als Plädoyer
rausgehört.
00:23:47 Yvonne Ich glaube übrigens nicht, dass das den
Fachkräftemangel löst. In Europa auch nicht in den Ländern, die
ein anderes Verständnis von der Zusammenarbeit haben, weil man
kann nicht einen Mangelberuf mit einem anderen Mangelberuf
ersetzen. Aber es hilft uns natürlich in der sinnhaften Ausübung
des Berufs. Und damit haben wir eben auch ganz viel gewonnen,
weil wir dann sehr motivierte Leute haben, die arbeiten.
00:24:17 Lukas Auch in der Pflege, ein Motiv für den Ausstieg aus
der Pflege ist halt auch vielleicht die Struktur oder der Druck,
den man empfindet, im Kontext einer starken Hierarchie, die
vielleicht nicht mehr zeitgemäss ist. Das Kulturthema wird uns
sicher weiter beschäftigen. Ein anderes aktuelles Thema ist die
Abstimmung vor einem Jahr im November 2024 über die neue Form der
Finanzierung. Das war im Kern eine Entscheidung der Bevölkerung,
aber mit der Unterstützung der Ärzteschaft Richtung mehr
ambulante Versorgung. Bringt das eine bessere Versorgung, wenn
man ambulant versorgt wird?
00:24:54 Yvonne Also man kann ganz viele Behandlungen heute
ambulant durchführen, auch komplexe Behandlungen, auch nicht ganz
gefahrlose Behandlungen, zu Hause, ambulant, in der Praxis, wo
man vorher mehrere Tage oder sogar mehrere Wochen im Spital war.
Und das ist eigentlich auch der Wunsch der Patienten und
Patientinnen. Allein die stressfreie Umgebung, also zu Hause sein
dürfen oder wieder nach Hause zu gehen, ist ein ganz wichtiger
Faktor auch für eine schnellere Heilung und weniger
Nebenwirkungen. Also in ganz vielen Fällen bringt das zusätzliche
Lebensqualität. Und es spart natürlich enorm Kosten, und es spart
eben auch Personal, weil es im Hintergrund nicht eine
Infrastruktur braucht, die 24 Stunden am Tag, über sieben Tage in
der Woche alles zur Verfügung stellt, wie im stationären Bereich
im Spital.
00:25:57 Jenny Was mir auch sehr stark aufgefallen ist in der
Begleitforschung, ist, dass die Ärzteschaft in den Spitälern
sagt, oder ein grösserer Teil sagt: Wir merken jetzt langsam,
dass die Ambulantisierung stärker kommt. Also das fängt schon an.
Gleichzeitig auffällig für mich ist, dass ein grosser Anteil, um
die 40%, aktuell nicht weiss, ob ihr spezifisches Spital eine
Strategie für diese ganze Umwandlung hat. Also es scheint noch
viel Unwissen da zu sein. Da habe ich mir die Frage gestellt, wie
kann man eigentlich am besten gewährleisten, dass auch die
Ärzteschaft, die das im Alltag umsetzen muss, auf der
strategischen Ebene besser informiert ist und das mittragen kann,
diese fortschreitende Ambulantisierung.
00:26:43 Yvonne Ja, rein von dem, was sie lehren, tragen sie es
ja schon mit. Aber ich meine, man sieht ja das jetzt wieder mit
dem Spital Oberengadin, das man krampfhaft versucht hat, offen zu
behalten. Jetzt ist die Finanzierung entzogen. Jetzt geht es
wahrscheinlich innerhalb von kurzer Zeit zu. Und damit fallen
natürlich auch wieder Weiterbildungsplätze weg. Das ist
eigentlich unser grösstes Thema von der ärztlichen Seite, dass
wir ja, wenn wir mehr Ärzte und Ärztinnen ausbilden wollen, diese
Weiterbildungsplätze brauchen – eben nicht nur an den Spitälern,
sondern neu brauchen wir sie eben auch in den ambulanten Praxen,
und zwar in den operativen, in den Operationszentren der
ambulanten Versorgung, wie auch in den Praxen ohne Operationen,
also die nicht invasiv arbeiten, die nicht operieren, also in der
Medizin oder auch in der Grundversorgung. Und bis jetzt gibt es
ausser in der Grundversorgung, wo auch noch ganz viel privat
finanziert wird, noch gar keine öffentliche Finanzierung für die
ambulanten Weiterbildungsplätze, sondern sie ist noch rein an den
Spitälern angesiedelt. Und das heisst, es braucht eigentlich mehr
Sensibilisierung in der betrieblichen Führung der Spitäler und in
der strategischen Führung der Spitäler, dass sie weiterdenken,
dass man mittlerweile auch Weiterbildungsplätze schafft, die von
Anfang an kombiniert sind, im ambulanten Setting und im
stationären Setting, und dass man sich dafür einsetzt, dass auch
die ambulanten Plätze öffentlich mitfinanziert werden.
00:28:27 Lukas Dort kommen auch sehr rasch Tarife ins Spiel, die
sind nicht direkt für die Weiterbildung und Ausbildung
entscheidend, aber die sind indirekt natürlich auch wichtig.
TARDOC ist das Thema, wo es um die ambulanten Tarife geht, die
eben auch zum Teil pauschal kommen. Dort ist die FMH offiziell
mit an Bord, sagt man. Aber gewisse Stimmen sind sehr kritisch,
sagen, das könne gar nicht gut kommen, das kommt jetzt
unmittelbar nächstes Jahr auf uns zu. Wo stehen wir da? Muss man
sich Sorgen machen, dass gewisse Versorgungsengpässe entstehen
wegen der neuen Tarifsituation?
00:29:03 Yvonne Ich glaube nicht, dass Versorgungsengpässe für
die Patienten und Patientinnen entstehen. Es gibt vielleicht
nicht so gescheite Verlagerungen, also dass etwas nicht ambulant
gemacht werden kann, sondern es muss mit einer
Kurzhospitalisation im Spital gemacht werden, weil es
beispielsweise nicht kostendeckend erbracht werden kann im
ambulanten Setting. Unsere Sorge ist, dass niemand zufrieden ist.
Der Einzelleistungstarif, das ist der TARDOC. Das ist das, wie
Ärzte und Ärztinnen heute im ambulanten Bereich abrechnen. Der
ist eigentlich gut ausgereift, aber die Daten sind sechs Jahre
alt. Also wenn Sie Infrastrukturkosten, Lohnentwicklung
anschauen, Mieten anschauen, dann ist jedem von uns klar, der
Tarif ist schon nicht mehr up to date. Den muss man sofort den
Gegebenheiten von heute anpassen. Und das werden wir nicht so
schnell schaffen. Und das ist eine recht grosse Herausforderung,
weil gerade die Grundversorgung sehr unzufrieden ist, weil sie
schon die letzten 20 Jahre benachteiligt war, als ihre
Entschädigungen nie mehr angepasst worden sind. Und bei der
Pauschale haben wir ein riesiges Problem. Es gab ja bis jetzt
keine ambulante Pauschale. Das ist etwas komplett Neues. Und man
hat sie rein betriebswirtschaftlich berechnet, mit Daten aus den
Spitalambulatorien und ohne ärztliche Expertise. Und sie
beinhalten gravierende Fehler. Die werden ja jetzt auch
illustriert in den Zeitungen. Manchmal wird auch Angst gemacht
davor. Ich habe nicht so Angst davor, aber es ist für uns von der
FMH-Seite her teilweise auch schwierig abzuschätzen, wen das
wirklich sehr gravierend auch treffen könnte, weil die ambulante
Medizin ausserhalb des Spitals hoch spezialisiert ist. Also
dieser Irrglaube von der politischen Seite her: Ja, eine
Pauschale ist eine Pauschale, mal ist sie halt beim einen
Patienten ein bisschen defizitär, dafür ist sie dann beim anderen
Patienten ein bisschen gut gerechnet, und im Durchschnitt kommt
dann das gut raus. Das stimmt im ambulanten Bereich nicht, weil
man dort das Spektrum an Leistungen gar nicht erbringt. Und das
heisst, dort läuft man Gefahr, dass dann plötzlich die Mehrzahl
aller Leistungen defizitär ist. Und das können sich
spezialärztliche Praxen nicht lange leisten. Die bekommen dann
wirklich existenzielle wirtschaftliche Probleme. Wir halten jetzt
einen sehr hohen Druck aufrecht und haben das Gefühl, es muss
wirklich zuerst in der realen Welt aufprallen, bis auch unsere
mitgestaltenden Akteure, also die anderen Tarifpartner wie eben
die politische Seite mit dem Bundesrat und mit den Kantonen und
die Versicherer, wirklich realisieren, dass wir hier noch ganz
viele Fehler zu korrigieren haben. Und das unter einem grossen
zeitlichen Druck. Es ist schon eine Challenge.
00:32:17 Jenny Also eben, Stichwort ambulante Pauschale, das ist
etwas – also über die Vergütung hast du schon vieles erwähnt –,
aber in der Begleitforschung sehen wir, dass das eine der grossen
Sorgen ist von der Ärzteschaft, aber auch, dass man das Gefühl
hat, das führt dazu, dass man eher mal gute Risiken selektioniert
und schlussendlich steht bei vielen die Befürchtung im Raum, dass
es effektiv zu Qualitätseinbussen führen könnte. Was, glaubst du,
müssen wir dort jetzt am ehesten machen, damit das einen Erfolg
gibt?
00:32:47 Yvonne Ja, gute Risiken selektionieren heisst, man
behandelt dann die Patienten und Patientinnen, die kostendeckend
vergütet sind, und die, die defizitär sind, die würde man dann
eher an ein Spital überweisen. Das zeigt einfach, wie wichtig
wirklich betriebswirtschaftlich korrekt gerechnete und
sachgerechte Tarifierung ist. Diese bilden sonst sofort
Fehlanreize, und zwar in beide Richtungen. Also im
hochspezialisierten ambulanten Bereich wird man nicht in der Lage
sein, defizitäre Leistungen zu erbringen, wenn sie einen grossen
Teil der Behandlungen betreffen. Man kann nicht ausgleichen und
querfinanzieren wie an einem Spital. Das ist der Bereich der
Untertarifierung. Der Bereich der Übertarifierung bildet klar
einen Fehlanreiz für die Behandlungsqualität, weil es eigentlich
ein Mengenanreiz ist, oder das, was man eigentlich immer am
TARDOC vorgeworfen hat. Das könnte sich dann bei der Pauschale
ebenso fatal auswirken. Wir möchten wirklich an diesem System
arbeiten. Der Vorteil ist ja, wir können jährlich korrigieren,
damit wir eben möglichst schnell möglichst gute Tarife haben,
weil es wirklich für die Qualität der Versorgung ganz wichtig
ist.
00:34:12 Lukas Der erste Schritt ist mit der Abstimmung da,
einheitliche Finanzierung. Das soll ein Anreiz für die
Ambulantisierung sein. Jetzt spüren wir, dass es hier schwere
Baustellen gibt. Aber nicht nur das. Wenn wir mit Chancenoptik in
die Zukunft schauen: Wo kann man am meisten dazu beitragen? Wir
haben Fachkräftemangel. Wir haben die ganzen
Tarifierungsprobleme, Ambulantisierungsprobleme. Wir haben bei
der Bürokratisierung Themen, die die FMH in der Strategie
bekämpfen möchte. Wo kann man am meisten Hoffnung schöpfen? Wo
muss man, wo kann man etwas für die Zukunft der Ärzteschaft
mitgeben?
00:34:46 Yvonne Also ich bin eigentlich sehr hoffnungsvoll. Und
zwar haben wir im internationalen Vergleich – und das sagen ja
auch alle Leute, wenn sie ins Ausland gehen oder vom Ausland
kommen – eines der bestfunktionierenden Gesundheitssysteme auf
der Welt. Und es ist erst noch nicht teurer als jene, die
schlechter sind in anderen europäischen Ländern. Das heisst, wir
bauen eigentlich auf einem gut funktionierenden System auf. Und
es gibt zwei Elemente, die für die Zukunft ganz wichtig sind. Wir
müssen auf einer Vertrauensbasis weiterarbeiten. Missbrauch soll
man sanktionieren, aber man soll uns nicht regulieren, weil man
einfach denkt, alles, was nicht ganz genau kontrolliert ist, wird
dann sowieso missbraucht. Dem ist nicht so. Wir wissen überall,
dass das nicht zu einer guten Regulierung führt. Und ich glaube,
wir haben noch eine Schweizer Spezialität, das ist das
kooperative Modell. Also dass auch die politische Regulierung
nahe an den Branchen ist. Also wir arbeiten in der
Tarifpartnerschaft. Wir verhandeln zwischen der Ärzteschaft und
den Unfallversicherern und den Krankenversicherern und werden uns
dort einig, was jetzt der korrekte Tarif ist. Und nur wenn der
nicht gut belegt ist oder dem Krankenversicherungsgesetz
widerspricht, nur dann kann die politische Behörde oder der
Bundesrat eingreifen. Und das schützt die Schweizer
Gesundheitsversorgung ein bisschen vor einer politischen
Steuerung, die dann nur noch von den quasi Reserven vom
Staatsbudget abhängt. Das ist ja eine grosse Gefahr jetzt mit
einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis international. Weil eine gute
Gesundheitsversorgung immer teurer ist in einer Gesellschaft und
das Staatsbudget immer wesentlich belastet wird, verschiebt man
dann einfach vom Gesundheitssystem zum Beispiel in die
Sicherheitspolitik Geld. Das heisst, man entzieht dem System
Geld, und das führt sehr schnell zu einer qualitativen
Verschlechterung der Versorgung. Und da ist die Schweiz
eigentlich ein bisschen geschützt davor, genau wegen der
Tarifautonomie zum Beispiel, also dem Verhandeln zwischen den
Versicherern und der Ärzteschaft. Und ich glaube, das System
sollten wir nicht gefährden. Was halt immer ein Thema ist, ist
der soziale Ausgleich. Also wer bezahlt wie viel Prämie? Und das
ist ganz klar, finde ich, eine politische Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass sich jeder Haushalt eigentlich auch Prämien leisten
kann.
00:37:30 Lukas Eine Berufsgruppe, die jeden Tag viel
Verantwortung trägt, jeden Tag aber auch viele Herausforderungen
hat. Das haben wir jetzt mitgenommen. Vielen Dank für diesen
Besuch, Yvonne Gilli. Und du, Jenny? Hast du irgendwo auch
Zuversicht, dass man an Sachen anpacken kann, damit die
Ärzteschaft auch in Zukunft in genügender Zahl mit genügender
Motivation in der Schweiz ihre Leistung bringen kann?
00:37:52 Jenny Ja, das ist für mich sicher auch aus dem Gespräch
heraus einerseits der Punkt mit den Arbeitsbedingungen. Da haben
wir darüber geredet. Ich habe das Gefühl, da muss sich doch noch
einiges bewegen. Aber wir haben es auch gesehen, grundsätzlich
ist die Ärzteschaft sehr motiviert und hat Freude an ihrer
Aufgabe. Darum hoffe ich, dass wir da gute Rahmenbedingungen
haben werden in Zukunft, damit das so bleibt. Ja, ich denke, ich
habe grundsätzlich eine Zuversicht, was endlich mal die Bewegung
in der ganzen Tarifdiskussion anbelangt. Aber wir sehen ja auch,
dass es dort noch lange nicht fertig ist und dass es verschiedene
Anpassungen brauchen wird, damit es ein Erfolg wird. Ja, aber ich
hoffe sehr, dass es dadurch bald bergauf geht.
00:38:36 Lukas Und ich erhoffe mir natürlich viel unter dem
digitalen, partizipativen Kulturwandel, der angetönt wurde. Ja,
spannend. Bleiben wir dran.
00:38:44 Jenny Yes, und wer es genauer wissen möchte, alle
genauen Resultate zu den FMH-Begleitforschungsstudien findet ihr
unten in der Beschreibung.
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