Podcaster
Episoden
03.12.2025
34 Minuten
Wie viel Pharma braucht die Schweiz – und zu welchem Preis? Lukas
Golder und Jenny Roberts sprechen mit David Traub, CEO von
Novartis Schweiz, über Kritik an Medikamentenpreisen, lange
Wartezeiten auf neue Therapien, Innovationsdruck und politische
Regulierung. Im Zentrum steht die Frage, wie sich Interessen von
Patient:innen, Öffentlichkeit, Politik und Industrie überhaupt
austarieren lassen – und was das für die Zukunft des
Gesundheitsstandorts Schweiz bedeutet.
Im Podcast zitierte Studien:
Swiss eHealth Barometer
UBS Sorgenbarometer
EFPIA Patients W.A.I.T. Indicator 2024 Survey
Transkript zur Episode
00:00:12 Lukas Herzlich willkommen bei gfs.echo, dem Podcast von
gfs.bern, wo wir die drängendsten Probleme gemäss Sorgenbarometer
beleuchten, in dieser Staffel Gesundheitspolitik. Heute haben wir
einen ganz besonderen Akteur zu Gast, nämlich die
Pharmaindustrie. Eine Pharmaindustrie, die nicht den einfachsten
Stand in der öffentlichen Meinung hat.
00:00:31 Jenny Das ist so, ja. Aus dem Gesundheitsmonitor unter
anderem wissen wir, dass die Stimmbevölkerung einerseits Pharma
als sehr wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Schweiz anerkennt,
als wichtigen Arbeitgeber. Gleichzeitig gibt es auch verschiedene
Herausforderungen, gerade so im Bereich Medikamentenpreise und
grundsätzlich Kosten im Schweizer Gesundheitswesen. Das ist
etwas, was viele Leute beschäftigt.
00:00:53 Lukas Ja, zu Gast ist der CEO von Novartis Schweiz.
Herzlich willkommen, David Traub.
00:00:58 David Merci viel Mal.
00:00:59 Lukas Jenny hat es schon etwas angekündigt, das ist eine
relativ komplexe Rolle. Auf der einen Seite wäre die
Einstiegsfrage in einem Satz, wo die Pharma heute steht und was
die grössten Herausforderungen sind, wenn wir über die Schweiz
und das Gesundheitssystem sprechen.
00:01:16 David Ja. Die Schweiz und ihre Pharmaindustrie war eine
einmalige Erfolgsgeschichte über die letzten Jahrzehnte. Im
Moment würde ich sagen, wir stehen im Prinzip nach wie vor an
einem starken Ort, was den Wirtschaftsfaktor angeht, was die
Zusammenarbeit im Ökosystem angeht. Aber wir sind natürlich unter
Druck und das betrifft am Schluss nicht nur uns als
Pharmaindustrie, auch vor dem Hintergrund der jüngsten
internationalen Entwicklungen, sondern wir machen uns grosse
Sorgen um einerseits den Wirtschaftsstandort, aber was mich
persönlich noch mehr beschäftigt, ist die Versorgung von
Patientinnen und Patienten in der Schweiz mit modernen
Medikamenten. Die hat sich verschlechtert in den letzten Jahren.
Und wenn wir sehen, was jetzt international passiert, dann
besteht tatsächlich das Risiko, dass sich die Erosion noch
deutlich beschleunigen könnte.
00:02:04 Lukas Also innenpolitisch und aussenpolitisch viel zu
diskutieren. Und irgendwo hat man bei der Pharma immer wieder das
Herzstück, eben die innovativen Therapien, gerade bei der
forschenden Pharmaindustrie, wo man darüber spricht. Jetzt ist
aber in letzter Zeit oft Kritik gekommen, dass es eigentlich nur
noch kleine Schritte sind, fast Pseudo-Innovationen, wo man aber
einen sehr hohen Preis dafür verlangt. Ist dieser Fortschritt in
den letzten Jahren ein bisschen abgedämpft worden? Ist gar nicht
mehr so viel möglich? Ist die Zitrone ausgepresst?
00:02:32 David Ich bin froh, dass Sie mir diese Frage stellen,
weil ich muss sagen, ich sehe das diametral anders. Ich bin
selber Arzt, ich habe bis vor 20 Jahren in der Klinik gearbeitet.
Und ich muss sagen, wenn ich jetzt zurückschaue, in den frühen
2000er Jahren, als ich im Kantonsspital Liestal als Assistenzarzt
unterwegs war, im Vergleich zu heute, es gibt eine enorme Anzahl
von Krankheiten, die sich gar nicht mehr gleich manifestieren,
für Patienten gar nicht mehr die gleiche Bedeutung haben, wie zu
seiner Zeit. Wenn ich Ihnen ein paar Beispiele nennen sollte,
einfach um konkret zu werden. Von potenziell tödlichen
Erkrankungen wie Krebs oder HIV, viele Krebsarten von HIV ganz zu
schweigen, chronisch behandelbar, man kann damit leben.
Chronische Erkrankungen wiederum von Hepatitis C über Multiple
Sklerose über diverse Autoimmunkrankheiten bis zu Diabetes und
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nicht mehr die gleichen
Erkrankungen heute für Patienten, wie sie es vor 20 Jahren waren.
Alles, was ich vor 20 Jahren gelernt habe, ist im Prinzip
vollkommen obsolet und das ist zu einem grossen Teil eine
Konsequenz von den enormen Fortschritten, die die
Pharma-Forschung in den letzten 20 Jahren gemacht hat und
weitermacht. Die einzelnen Schritte sind manchmal gross und
manchmal sind sie begrenzt, das ist klar, aber in der Summe ist
es enorm, was wir erreicht haben. Darüber hinaus muss ich auch
sagen, in diesen 20 Jahren sind die Medikamentenkosten als Anteil
des gesamten Gesundheitssystems konstant geblieben, immer bei 12%
in der Schweiz, was übrigens im internationalen Vergleich relativ
tief ist. Das heisst, wir haben den ganzen Fortschritt, die
ganzen Revolutionen in der Medizin, in den verschiedenen
Erkrankungen, eigentlich bekommen, ohne dass es dadurch zu einer
Explosion der Kosten gekommen wäre. Ich muss sagen, darauf dürfen
wir auch stolz sein.
00:04:32 Jenny Ein Punkt noch zur Innovation, wo mich deine
Meinung sehr wunder nehmen würde, weil es auch etwas ist, was der
Bevölkerung sehr kontrovers angeschaut wird, ist das Verhältnis
zwischen dem Gewinn, das es natürlich braucht, um die
Innovationen finanzieren zu können, aber gleichzeitig auch das
Gefühl der Stimmbevölkerung, dass es nicht mehr so in einem guten
Verhältnis zueinander steht. Der Gewinn einerseits und auch die
Notwendigkeit, um das in die Innovationen investieren zu können.
Wie würdest du das einschätzen?
00:05:01 David Das ist auch eine super Frage. Darf ich kurz
ausholen, weil ich glaube, es gibt zwei, drei Punkte, die in
diesem Zusammenhang relevant sind. Das eine ist vielleicht die
Frage, macht die Pharma zu viel Gewinn? Wenn wir jetzt die
Industrie insgesamt anschauen, dann ist die Profitabilität der
Pharmaindustrie auf dem gleichen Level wie andere
Hightech-Industrien, wie Hardware, Software, ist deutlich
niedriger als zum Beispiel der Energiesektor. Oder Alkohol und
Tabak übrigens sind auch deutlich profitabler. Also es ist nicht
so, dass die Pharma jetzt völlig raussticht. Und es ist auch
klar, dass das nicht so sein kann, weil wenn es so wäre, dass wir
viel zu profitabel wären, dann dürften unsere Aktienkurse
eigentlich nur eine Richtung haben und das ist aufwärts. Das ist
nicht so. Und warum ist das nicht so? Das ist der zweite Punkt.
Pharma-Forschung ist ein Hochrisiko-Geschäft. Ich war im Raum in
den 20 Jahren, in denen ich in der Industrie war, wo man sich
entschieden hat, ein Entwicklungsprogramm aufzusetzen für eine
Krankheit, wo man schon lange etwas gesucht hat, immer wieder
gescheitert ist. Man hat die Erfolgswahrscheinlichkeit von 7%
gegeben und das Entwicklungsprogramm hat aber 1,5 Milliarden
Franken gekostet. Immer wieder stehen wir an einem Punkt, an dem
wir sagen, wir müssen auch mal die grossen Risiken eingehen
können. Nur eins von 14 Medikamenten schafft es am Schluss auf
den Markt. Kosten von 2 bis 4 Milliarden Franken im Schnitt pro
neues Medikament. Das muss sich auch wieder lohnen, sonst stoppt
dieser Innovationsmotor. Und der letzte Punkt, den ich dazu
anbringen möchte, ist gerade konkret für die Schweiz. Die
Pharmaindustrie investiert 9 Milliarden Franken jedes Jahr allein
in diesem Land. Für uns, für unsere 9 Milliarden global bei
Novartis etwa die Hälfte davon allein in der Schweiz. Wenn man
sieht, was wir an Steuern zurückgeben ins System, dann ist
eigentlich jeder Franken, den man für ein patentgeschütztes
Medikament ausgibt, kommt mindestens dreieinhalb Franken wieder
zurück an die Gesellschaft, ans System, an den Staat. Das ist
eigentlich eine hervorragende Investition. Nicht nur, und das
ist, wenn man selbst ausblendet, dass Patienten bessere
Therapiemöglichkeiten bekommen, als sie es früher hatten.
00:07:22 Lukas Du hast es angetönt, du machst dir Sorgen um die
Rahmenbedingungen, du hast die Schweiz angetönt, was ihr auch
zurückgeben wollt, zum Beispiel auf der Ebene der Steuern. Die
Rahmenbedingungen sind aber zum Teil jetzt ein bisschen
lautstärker unter Druck gekommen. Man hat von der Pharmaindustrie
lautstarke Forderungen gehört. Reden wir über die Innenpolitik,
reden wir über das, was eher auf dem Spielfeld der Schweiz läuft.
Dort ist die Kostendämpfungsmassnahme 2, dort ist auch die Stimme
laut geworden, es sei eine Art wie eine Strafsteuer auf
Innovation. Wo liegt dort das Problem?
00:07:54 David Also wenn man jetzt ein bisschen zurückschaut, wir
hatten in den letzten fünf Jahren sechs Kostensenkungsinitiative
und Kostendämpfungspakete, die durch das Parlament gegangen sind.
Eigentlich immer mit einem starken Fokus auf die innovativen
Medikamente. Das ist auf der einen Seite nachvollziehbar, wir
sind alle Teil von diesem System, wir haben auch eine
Verantwortung dafür zu schauen, dass die Kosten unter Kontrolle
bleiben im Gesundheitssystem. Aber wir tragen jetzt als
Konsequenz von diesen verschiedenen Initiativen, zum Beispiel
allein durch die wiederkehrenden regelmässigen
Preisüberprüfungen, als einzige Akteurin im Schweizer
Gesundheitssystem regelmässig zur Kostendämpfung bei. Jedes Jahr
werden dadurch allein anderthalb Milliarden Franken wieder zurück
ins System gespült. Dass das Thema wichtig ist und dass wir
schauen, dass wir Kostenkontrollen im System haben, da bin ich
absolut einverstanden. Das kann ich nachvollziehen. Ich verstand
auch, dass alle Akteure in diesem System vor diesem Hintergrund
unter Druck stehen. Jetzt muss man aber schauen, wo wir im Moment
stehen. Über die letzten fünf, sechs Jahre hat sich der Zugang zu
modernen Medikamenten in der Schweiz bereits dramatisch
verschlechtert. Und das wird gar nicht so wahrgenommen. Aber wenn
man schaut, was auf der Spezialitätenliste landet, das heisst
wirklich für jeden Patienten frei verfügbar ist, egal bei welcher
Versicherung man ist, dann sind nur noch etwa die Hälfte der neu
zugelassenen Medikamente tatsächlich auch für jeden Patienten
verfügbar in der Schweiz. In Deutschland schaffen sie es auf 93%.
Wir sind im Moment schon, vor den ganzen Verwerfungen, über die
wir nachher sicher noch reden werden, etwa auf dem Niveau von
Bulgarien, was die Erstattung von neuen, innovativen Therapien
angeht. Das besorgt mich aus einer Perspektive als Arzt, als
Bürger, aber natürlich auch als Vertreter der Pharmaindustrie.
Das hat auch Konsequenzen auf den Wirtschaftsstandort in der
Schweiz.
00:10:02 Jenny Um diesen Punkt aufgreifen, den du mit den
Wartezeiten für die Zulassung aufbringst. Es gibt eine
internationale Studie dazu, sogenannte Wait Surveys, die genau
die Punkte zwischen verschiedenen Ländern beschreibt. Ich habe
mir die Studien angeschaut. Die Schweiz schneidet eigentlich
immer in den vorderen Plätzen ab, je nachdem, welches Kriterium
man genau anschaut. Was für mich herausgestochen ist, also
wirklich konstant besser schneidet in diesem Sinne immer nur
Deutschland ab. Und gleichzeitig weiss man, dass im deutschen
System das auch zu höheren Kosten führen kann. Darum würde es
mich sehr wundern, zu wissen, ist das deutsche Modell in diesem
Sinne überhaupt etwas, das wir anstreben sollten jetzt für die
Schweiz. Wie siehst du das?
00:10:50 David Zum einen ist es sicher so, wenn wir jetzt
bisherige Trends im Schweizer System anschauen, dann kann es so
nicht weitergehen. Wir brauchen neue Lösungen. Es braucht ein
robustes System bei uns, um Preise festzusetzen, um den Mehrwert
von neuen Medikamenten möglichst objektiv zu bewerten und auch
entsprechend Preise zu definieren. Wir können nicht so
weitermachen wie bis jetzt, weil sonst leiden am Schluss die
Patienten und das ganze System darunter. Sie fragen jetzt nach
dem deutschen System. Ich habe tatsächlich ein paar Jahre im
deutschen System gearbeitet und das deutsche System ist natürlich
auch nicht perfekt. Aber ich würde sagen, das sogenannte
"AMNOG"-System, das in Deutschland die Preise festsetzt, erfüllt
im Gegensatz zu unserem wenigstens die Kriterien für einen gut
funktionierenden Ausgleich. Man hat einen klaren Prozess. Man hat
transparente, auf wissenschaftlichen Kriterien beruhende
Bewertungsverfahren. Man hat klare Timelines, die eingehalten
werden. Und man hat einen Zugang für Patienten bereits ab Tag 0
der Zulassung. Und im Endeffekt, wie gesagt, führt das in
Deutschland dazu, dass fast alle neu zugelassenen, also auch von
den Zulassungsbehörden zugelassenen Medikamente, auch sofort und
für alle verfügbar sind. Und bei uns sind es nur gerade knapp die
Hälfte. Also insofern würde ich sagen, wir müssen sicher das
deutsche System nicht übernehmen. Aber wir sollten uns
inspirieren lassen und wir sollten lernen von anderen Ländern,
die es offensichtlich besser können als wir im Moment.
00:12:27 Lukas Dort ist ja das eine die Zulassung. Dort, wie ich
es richtig verstehe, ist die Kritik relativ gering. Swissmedic
ist die Instanz, die das für die Schweiz macht. Aber beim
Preisfestsetzungsmechanismus kommt das BAG ins Spiel. Was ist die
Kritik am BAG?
00:12:43 David Das Bundesamt für Gesundheit steht natürlich unter
Druck. Wir haben es gerade vorhin gesagt, wir sind eine alternde
Gesellschaft, wir haben immer mehr medizinisch-technische
Möglichkeiten und wir müssen den Diskurs führen, was für ein
Gesundheitssystem wir eigentlich wollen und was es uns am Schluss
wert ist. Die Medikamentenpreise sind einer der ganz wenigen
Hebel, die man auf nationaler Ebene hat, um Top-Down eine gewisse
Bremse einzuspielen. Andere Themen, wir haben auch in anderen
Bereichen Ineffizienzen im System, aber die sind politisch
schwieriger anzugehen. Ich glaube einfach, dass wir jetzt in den
letzten Jahren eine Tendenz gesehen haben, dass die Balance
zwischen Preiskontrolle auf der einen Seite und Versorgung auf
der anderen Seite, die ist aus dem Lot geraten. Und das sind die
Trends, auf die wir gerade kurz angespielt haben. Meine Einladung
an das BAG ist wirklich, dass man sich auf jeder Seite einen Ruck
geben muss und zusammenkommen muss und gemeinsam mit den
verschiedenen Playern in unserem Gesundheitssystem schauen, wie
können wir das auf eine bessere Basis machen. Wir haben klare
Forderungen im Raum. Wenn Sie mich konkret fragen, woran stören
wir uns? Dann ist es oft so, dass zum Beispiel
Vergleichstherapien, die zur Preisfestsetzung angezogen werden,
eher auf ökonomische Kriterien gewählt werden. Dann haben sie
eine moderne Therapie, die das Überleben verlängert mit deutlich
besserer Verträglichkeit und das wird dann verglichen mit einer
Chemotherapie aus dem letzten Jahrtausend. Einfach um den Preis
möglichst tief Arbeit zu bekommen. Das machen andere Länder so
nicht. Oder dass der Auslandspreisvergleich einfach tel-quel
übernommen wird und das Ziel ist, dass bei uns der Preis
höchstens so hoch sein darf wie in anderen europäischen Ländern,
wo hingegen alles andere im Gesundheitssystem, alles was Sie und
ich an Dienstleistungen und Waren beziehen, um die Hälfte teurer
ist im Schnitt. Wir kennen das. Das führt nicht zu einem guten
Punkt. So kommen wir nicht mehr wieder zurück in die Balance
zwischen Verfügbarkeit und Preise. Und ich glaube, da braucht es
neue Ansätze. Und wir sind sehr bereit, dort im Austausch zu
kommen, auch einen entsprechenden Austausch.
00:14:56 Lukas Hoffen wir, dass der Dialog weiter geht. Das sind
halt administrierte Preise am Schluss, die auch Teil von eurem
System in der Pharma, wie sie funktioniert, sind. Da kommen wir
ja vielleicht, wenn wir über die USA reden, noch ein bisschen
drauf. Auf der anderen Seite ist die Position des BAG, wenn ich
das richtig pointiert wiedergeben darf, ein bisschen so, ja, es
liegt nicht an uns, es liegt eigentlich an den hohen
Preisvorstellungen der Pharma. Es ist natürlich klar, dass die
Interessenlagen ein bisschen unterschiedlich sind, oder?
00:15:23 David Das ist richtig, wobei, Sie haben jetzt auch
gerade schon gesagt, die Preise in Deutschland sind
bekannterweise schon oft höher und das kann ich bestätigen. Da
muss man sich fragen, wo dieser Claim herkommt, dass bei uns
Preise besonders hoch wären. Schauen wir uns mal die Gesamtzahlen
an. Wie viel geben wir in der Schweiz als Anteil von unserem
Bruttoinlandprodukt aus für patentgeschützte Medikamente? Und
dann sehen wir, dass der Wert deutlich tiefer ist. Nicht nur
deutlich tiefer als in den USA, da kommen wir sicher auch noch
drauf, er ist auch deutlich tiefer als in Deutschland, er ist
tiefer als in Österreich, als in Frankreich oder als in Italien.
Das heisst, uns ist tatsächlich die Innovation bei den
Medikamenten für uns selber, für unsere Patienten in der Schweiz,
weniger wert, relativ gesehen, als in Deutschland und in den
anderen umliegenden europäischen Ländern, ausgerechnet bei uns,
das Herz der internationalen Pharma-Forschung und Entwicklung.
Ich glaube, da sind wir jetzt einfach an einem Punkt gekommen, wo
es eine Korrektur braucht. Das wird so nicht mehr funktionieren.
Vor allem, weil die internationalen Preisvergleiche auch immer
stärker jetzt ins Rampenlicht kommen und andere Länder schauen
auf uns und die USA ist jetzt eines davon und sagen, Moment, wie
kann das sein, dass die Schweiz nur bereit ist besonders tiefe
Preise zu zahlen, wenn es bei uns anders aussieht.
00:16:47 Jenny Es braucht neue Ansätze bei dieser Preisfestlegung
in der Schweiz. Ein Punkt, über den ich gerne noch mehr wissen
würde, sind die sogenannten Preismodelle, die neu dazukommen mit
dem Kostendämpfungspaket. Dort geht es, vereinfacht gesagt, auch
darum, dass es hinter den offiziellen Preisen nicht öffentlich
zugängliche Preise gibt, die abgesprochen sind zwischen Pharma,
Behörden, Krankenversicherungen Da stelle ich mir die Frage, auch
aus Sicht der Bevölkerung, warum braucht es das? Weil etwas, was
einem Gesundheitsminister sehr klar herauskommt, ist, dass die
Bevölkerung sich eher mehr Transparenz von der Pharmabranche
wünscht.
00:17:24 David Ja, danke schön für diese Frage. Ich kann das
persönlich sehr gut nachvollziehen, dass man am liebsten
vollständige Transparenz hätte. Vielleicht nochmals kurz als
Erklärung, damit wir vom Gleichen reden. Bei diesen nicht
öffentlichen Preismodellen geht es darum, das ist ein Instrument,
das helfen soll, dass man Patienten möglichst schnell Zugang zu
einem Medikament gibt, zu einem relativ günstigen Preis. Also die
sogenannten vertraulichen Preise, die sind immer tiefer als der
Listenpreis. Behörden und Versicherer kennen die Preise
natürlich. Jetzt ist es aber so, und das hängt zusammen mit
internationalen Referenzpreissystemen. Es gibt über 30 Länder,
die die Schweiz als Preisreferenzland nimmt. Und hier geht es
darum, zu schauen, dass der Referenzpreis nicht plötzlich extrem
tief runtergeht. Nochmal verständlich, die Forderung nach
Transparenz. Jetzt ist es aber so, wenn man sich Daten anschaut,
wenn Sie jetzt die nicht öffentlichen Preisvereinbarungen
abschaffen und das alles transparent machen, dann wurde auf einen
Schlag sichtbar, bei ganz vielen einzelnen konkreten
Medikamenten, dass der Preis in der Schweiz besonders tief ist.
Und in diesem internationalen Referenzpreisgefüge wurde das akut
die Versorgung von Patientinnen und Patienten in der Schweiz
gefährden. Ich wäre sehr für Transparenz. Ich würde sagen,
persönlich, wir sind in der Schweiz für Preistransparenz aber
erst dann bereit, wenn wir insgesamt unser Preissetzungssystem so
anpassen, dass die Preise, die wir für moderne Medikamente
zahlen, auch den Mehrwert dieser Medikamente widerspiegeln und
auch die Kaufkraft, die wir haben in der Schweiz im Verhältnis zu
anderen Ländern.
00:19:21 Lukas Wir sprechen noch etwas über die Zukunft dieser
Innovation, die die Schlagzahl der Pharmaindustrie vorgibt. Dort
ist mein Eindruck, dass man sehr stark, auch von euch aus, über
die personalisierte Medizin, die hier getrieben ist, spricht.
Digitalisierung ist etwas, von dem man sehr viel diskutiert, das
noch abstrakt im Raum ist. Aber meine konkrete Frage ist, kommt
die Innovation nicht im Datenbereich von denen, die die meisten
Daten haben? Ist nicht Google die Gefahr für die Pharmaindustrie,
gar nicht die Preisfestsetzung und das ganze System, sondern
eigentlich kommt es von ganz aussen plötzlich ein rein digitales,
personalisiertes, datengesteuertes Pharmaversorgungssystem, das
die Pharmaindustrie in der Schweiz plötzlich nichts mehr zu sagen
hat?
00:20:11 David Das ist ein grosser Bereich, den Sie ansprechen.
(...) Ich gebe vielleicht noch mal eine Perspektive und sage Sie
mir, ob das Ihre Frage beantwortet. Digitalisierung im
Gesundheitssystem, wie gehen wir mit Daten um, ist eine
fundamental wichtige Frage. In der Schweiz ist mein Eindruck, und
Sie haben es gerade angesprochen, dass das ganz stark von
Sicherheitsdenken geprägt ist, die Diskussion. Und das finde ich
auch gut und richtig. Man muss schauen, wie man mit diesen
hochsensitiven Daten umgeht, so dass eben kein Schindluder
getrieben wird damit, gut deutsch gesagt. Das ist ein wichtiger
Aspekt, das ist fundamental, aber andere Länder zeigen bereits
seit Jahren, wie das funktioniert und ohne Zwischenfälle. Ich
glaube, der Teil der Diskussion, der mir fehlt, ist die
chancenorientierte Perspektive. Ich habe mit meiner Familie drei
Jahre in Finnland gelebt, bis vor kurzem. Und als wir
zurückgekommen sind in die Schweiz, also dort hat jeder ein
elektronisches Patientendossier. Das bekommt man in dem Moment,
als man ins Land reinkommt. Das ist überhaupt keine Wahl. Das ist
automatisch mit der Personen-ID verbunden. Und man hat sofort auf
dem Handy auf sämtliche eigenen Daten Zugriff. Jeder persönlich,
das ist gut abgesichert, jeder Arztbericht, jeder Laborwert,
jedes Röntgen, jede Gewebeuntersuchung, jeder Zahnarzttermin,
jede Verordnung. Sie haben alles sofort und jederzeit verfügbar.
Da ist ihre Transparenz, die Sie vorher angesprochen haben. Ich
muss nicht Bitte-Bitte machen bei einem Arzt oder einem Spital,
sagen, ich bräuchte noch diesen Bericht oder könnte es immer
einmal... Sondern es ist alles sofort als Patient verfügbar. Und
natürlich kann man das auch zu Forschungszwecken nutzen. Auch das
ist behördlich sehr streng geregelt. Für mich war es nicht
nachvollziehbar, dass ich auf all das verzichten muss. Ich
glaube, wir reden zu wenig darüber. Was lassen wir uns eigentlich
entgehen, dadurch, dass wir so zurückhaltend sind? Unser
Rückstand in der Digitalisierung in der Schweiz hat schon fast
komische Qualitäten. Auch mit den jetzt laufenden Initiativen,
wenn es gut kommt, sind wir Mitte der 20-30er-Jahre dort, wo die
nordischen Länder schon vor über zehn Jahren waren. Ich glaube,
dort braucht es eine Beschleunigung, also dass wir jetzt zum
Beispiel das elektronische Gesundheitsdossier jetzt mit einer
Opt-out-Lösung eigentlich Standard für alle werden sollen. Das
ist ein längstens überfälliger Schritt in die richtige Richtung.
Ich glaube, wir dürfen uns erlauben, dort ein bisschen mutiger zu
sein. Und ich glaube, wir dürfen uns erlauben, auch das zu sehen,
was alles möglich wird durch diesen technologischen Wandel. Wir
profitieren nämlich, jeder von uns kann davon profitieren.
00:23:12 Jenny Das Thema Digitalisierung im Schweizer
Gesundheitswesen haben wir unter anderem im Detail besprochen mit
Katrin Crameri, die auch bei uns war, vom Programm DigiSanté. Ein
Punkt, der auch damals stark aufkam, ist der Datenschutz. Es geht
um Forschungsdaten, die natürlich auch benötigt werden in einem
digitalisierten Gesundheitssystem. Und dort ist ein Punkt, der
sehr stark herausgekommen ist, dass die Bevölkerung ein sehr
unterschiedliches Vertrauensniveau hat in verschiedenen Akteure,
wenn es darum geht, wie man jetzt ihre Gesundheitsdaten
verwertet. Und gerade bei Privatunternehmen, das wissen wir aus
dem E-Health-Barometer, ist das Vertrauen aktuell noch relativ
tief. Was kann man dem Misstrauen entgegensetzen oder was
bräuchte es, damit die Bevölkerung mehr Vertrauen hat, was die
Verwendung von ihren Gesundheitsdaten anbelangt für Forschung?
00:24:06 David Das ist eine gute Frage. Ich kann das finnische
System als Beispiel nehmen. Dort gibt es staatliche Behörden, wo
Forschungsgruppen, aber auch Industrieunternehmen Anträge stellen
können. Um auf anonymer Basis aggregierte Gesundheitsdaten für
Forschungszwecke verwenden zu können. Und das wird also, mit
anderen Worten, es gibt einen Gatekeeper, der ist staatlich und
der kontrolliert, das sind eben Forschungsaufträge, was machbar
ist. Und als Unternehmen kann ich auch nie direkt auf einzelne
Patientendaten zugreifen, sondern das muss natürlich geregelt
sein, das ist ganz richtig. Aber dort gibt es Mittel und Wege.
Auch dort sind wir wieder beim Thema. Wir können von anderen
Ländern lernen, die uns 20 Jahre voraus sind in diesem Bereich
und 20 Jahre Erfahrung haben. Ich glaube, da dürfen wir nicht zu
stolz sein und können uns die eine oder andere Scheibe
abschneiden, insbesondere bei den nordischen und baltischen
Ländern in Europa.
00:25:07 Lukas Das wären die Chancen gewesen. Jetzt kommen wir
nochmals zu den Risiken. Wir haben es schon ein paar Mal die USA
gestreift. Dort ist die Situation so, dass wir jetzt verschiedene
Wege sucht, dass die Preisgeschichte auch in den USA anders
diskutiert wird. Und mit dem verbunden kommt eben auch die
Forderung lautstark, gerade auch von Novartis, wir müssen über
Preise noch einmal reden, in der Schweiz. Das macht natürlich
Sorgen, wenn man jetzt die ganze Risiko- und Sorgendiskussion
hat. Wo steht man da im Moment?
00:25:39 David Ja, das macht mir auch Sorgen. Schauen Sie, die
US-Administration ist entschlossen, Preise für Medikamente am
Niveau von Preisen in anderen industrialisierten Ländern
anzugleichen. Das ist übrigens nicht neu. Das ist nicht erst eine
Diskussion, die jetzt unter der Administration Trump wieder
aufgekommen ist. Das ist bereits vor und bereits unter Obama und
auch unter anderen demokratischen Präsidenten ist das gegangen.
Die sind allerdings nicht mit einer Vehemenz an das Thema
angegangen, die wir jetzt im Moment sehen. Es geht dort um das
sogenannte «Most Favourite Nation» Prinzip. Im Prinzip bedeutet
das, dass die USA Preise für Medikamente erhalten sollen, die auf
dem Niveau der Preise neun Vergleichsländer sind. Diese neun
Vergleichsländer sind die grossen sieben Industrienationen plus
Dänemark und wir in der Schweiz. Und die Forderung ist dann noch
dazu, dass man das kaufkraftbereinigt machen soll. Das heisst im
Prinzip sollte dann, wenn man das so anschaut, steht die
Forderung im Raum, dass die Preise bei uns sogar 10-20% höher
sein sollten, weil unsere Kaufkraft höher ist als die in Amerika.
Da gibt es jetzt ganz viele Fragen, wie das konkret umgesetzt
wird. Und ich glaube, da ist noch vieles offen. Wir beobachten
das mit grosser Aufmerksamkeit, auch mit einer gewissen Sorge.
Ich glaube, was wir für uns in der Schweiz daraus mitnehmen
müssen, ist der Spielraum, für den wir eben in der Schweiz
Ausnahmepreise machen können, die deutlich tiefer sind als auch
in anderen europäischen Ländern, dieser Spielraum verschwindet
jetzt gerade ganz schnell. Und wir sind noch nicht bereit, weil
unser Preisfestsetzungssystem das nicht so reflektieren kann. Und
darum haben wir eben gesagt, jetzt als minimalen ersten Schritt
haben wir jetzt die Möglichkeit, im Rahmen der laufenden
KVV-Revision ein paar wichtige Pflöcke einzuschlagen.
Vergleichstherapien müssen wissenschaftlich-medizinisch basiert
sein, auf Expertenmeinung und nicht rein, was sehen wir noch
Günstiges irgendwo, ein bisschen flapsig formuliert, dass das
Auslandspreisvergleich eine kaufkraftbereinigt sein sollte. Denn
das ist jetzt das, was im internationalen Kontext passiert. Wir
haben die Möglichkeit, die Verfügbarkeit von Medikamenten ab Tag
0 sicherzustellen. Das müssen wir pragmatisch umsetzen, das ist
ganz wichtig. Und letzten Endes auch, wenn es jetzt nochmal um
die Mengenrabatte, die Kostenfolgemodelle geht, haben wir gesagt,
das ist beschlossen worden, das muss umgesetzt werden, aber das
ist ja beschlossen worden in einem ganz anderen internationalen
Kontext. Wenn Sie jetzt die US-Administration sind und Sie sehen
so Mengenrabatte von teilweise bis zu 50 Prozent, dann ist das
eine Innovationssteuer, wo sie natürlich ganz klar sagen, okay,
das ziehen wir gerade nochmal von eurem Preis ab. Wir müssen uns
gut überlegen, wie wir das umsetzen können, auch dort pragmatisch
und unter Berücksichtigung von den veränderten Umständen, die wir
haben. Weil sonst steht wirklich in Frage, wie wir in der Schweiz
in der Zukunft neue Medikamente noch einführen können.
00:28:56 Lukas Ja, in diesem Kontext ist ja auch die Frage, wie
sich das wirtschaftspolitische Gefüge mit Europa verschiebt. Dort
ist die Pharmaindustrie relativ klar für das Paket mit der EU,
das Bilaterale 3. Wie ist diese Position im Moment oder wie läuft
die Diskussion aus Sicht jetzt Pharma oder Novartis?
00:29:17 David Sie haben recht, also genau wie Sie gesagt haben,
wir unterstützen die Bilateralen 3 entschieden. Wir sind ein
kleines Land, Europa ist für uns, wenn ich das so sagen darf, das
ist der natürliche Heimat. Es gibt Rechtssicherheit, es gibt
Planungssicherheit, das ist für uns wichtig. Und wir sind
natürlich in der Schweiz existenziell darauf angewiesen, dass wir
Zugriff haben auf die schlauesten Köpfe und die gibt es nicht nur
in der Schweiz. Dass technische Handelshemmnisse möglichst
inexistent sind mit Europa, dass wir eine Zusammenarbeit haben,
auch im europäischen Verbund im Forschungsbereich, also Horizon
zum Beispiel, ist dort für uns ein wichtiges Thema, weil wir
stehen nicht alleine da. Allein wir bei Novartis, wir haben 120
Kollaborationen mit akademischen Forschungszentren überall in der
Schweiz. Das heisst, wir müssen das ganze Ökosystem stärken und
dazu Sorge tragen. Und gute, geregelte Beziehungen zur
Europäischen Union sind dort für uns einfach essentiell.
00:30:27 Jenny Die Pharma spricht sich klar aus für die neue
Auflage der bilateralen Verträge. Wir sehen auch, wenn man die
Bevölkerung fragt, aktuell ist viel Zustimmung da. Es ist
natürlich noch ein sehr früher Moment in der Meinungsbildung,
aber es gibt viel Zustimmung für diverse Pro-Argumente zu den
neuen Bilateralen. Gleichzeitig auch verschiedene Punkte, die
viel Personen in der Schweiz sich dazu Sorgen machen. Das sind
häufig Punkte im Zusammenhang mit der Zuwanderung, also Stichwort
Lohndruck oder auch Druck auf den Wohnungsmarkt, solche Sachen.
Aus Sicht der Pharma, wie ist es mit diesen Herausforderungen am
besten umzugehen, die auch mit dazugehören bei diesem
Verhandlungspaket?
00:31:11 David Ich glaube, das ist eine ganz wichtige politische
Diskussion. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Sie erleben das
auch, ich erlebe das auch. Wir sind im Moment ein sehr
attraktives Land. Das hat zu einer Netto-Zuwanderung geführt über
die letzten Jahre, die geht weiter. Wenn Sie mich persönlich
fragen, ich glaube, wir müssen uns einfach überlegen, ob es uns
der Wert ist, dass wir dort Lösungen finden, für diese Themen,
diese Probleme und das müssen wir, was Sie angesprochen haben,
oder ob wir versuchen, diese Probleme zu beseitigen, indem wir
potenziell weniger attraktiv werden, weil wir ein bisschen
weniger wohlhabend sind und weil wir weniger wachsen, weil unsere
Wirtschaft weniger gut läuft. Ich würde mich für das Erste
entscheiden, aus einer Position der Stärke heraus und dem
Vertrauen als Schweiz, als Schweizer Gesellschaft, können wir
Lösungen finden für diese Probleme. Ich möchte vielleicht noch
einen Punkt anfügen, wenn Sie mich spezifisch für die
Pharmaindustrie fragen. Wir holen ausschliesslich
hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ins Land. Wir
haben Schweizer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
selbstverständlich, aber eben teilweise kommen die auch von
überall auf der Welt. Und das ist eine gigantische Stärke. Das
ist für uns ein Teil des Innovationsmotors, den wir haben. Und im
Durchschnitt schafft jede Stelle, die wir in der Schweiz haben,
eine Wertschöpfung von über einer Million Franken im Jahr. Das
ist fünfmal produktiver als der Durchschnitt der Arbeitsplätze in
der Schweiz. Das heisst, ich glaube, die Zuwanderung, die Sie bei
uns sehen, das ist die Zuwanderung, von der ich sagen möchte. Das
brauchen wir, das wollen wir, die macht uns stark.
00:32:58 Lukas Eine kämpferische Stimme, vor allem für
Rahmenbedingungen, für die eigene Industrie. Aber man spürt auch
ein bisschen raus für das gesamte Ökosystem Schweiz und die
Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Herzlichen Dank David Traub
für den Besuch bei uns. Und Jenny, die Rolle haben wir am Anfang
angetönt. Es ist eine anspruchsvolle. Jetzt haben wir einen
riesigen Strauss von Themen gehört. Wie hast du das Gefühl, wo
ist am meisten Bewegung im Moment nötig von der Schweiz?
00:33:27 Jenny Ja, also ich habe den Eindruck, aktuell sind
sowohl innenpolitisch als auch ausserpolitisch sehr viele Themen
auf dem Parkett. Ich persönlich erhoffe mir, dass wir, jetzt
gerade was die aussenpolitischen Beziehungen anbelangt, es ist
halt momentan so viel in Bewegung, dass wir dort bald auf einen
grüneren Zweig kommen und eben mehr auf Rechtssicherheit zählen
können, klarere Beziehungen, damit es für die Pharma-Branche,
aber auch für die anderen Branchen in der Schweiz zunehmend
einfacher wird. Also da hoffe ich drauf.
00:33:55 Lukas Wir haben viel gehört von der Pharmaindustrie,
dass sie einen konstruktiven Dialog sucht. Und dieser
konstruktive Dialog ist jetzt besonders nötig und muss besonders
aktiv gesucht werden. Das ist mein Fazit von heute.
00:34:07 Jenny Genau, und wer es genau wissen möchte, alle
Details zu den genannten Studien finden sich unten in der
Beschreibung.
Mehr
26.11.2025
30 Minuten
Stress, Perfektionismus und die Frage: Wie bleiben wir
handlungsfähig – persönlich und im System? Lukas Golder und Jenny
Roberts sprechen mit der Psychiaterin Esther Pauchard über
realistische Erwartungen (oft reichen 70 %), die
Verwechslungsgefahr von Krise und Krankheit, und warum Schonung
und Vermeidung selten stärken. Pauchard plädiert für offene
Gespräche am Arbeitsplatz, entstigmatisiert Diagnosen ohne sie zu
romantisieren und zeigt, wie wir die «Tragenden» im
Gesundheitswesen schützen.
In der Folge erwähnte Studien:
Krebsversorgungsmonitor
Begleituntersuchung FMH
Schweizerische Gesundheitsbefragung (BFS)
CSS-Gesundheitsstudie
Transkript zur Episode
00:00:12 Lukas Herzlich willkommen. Fokusthema Gesundheit. Jenny,
das Gesundheitswesen ist unter Druck. Wir sind aber auch als
Gesellschaft irgendwo insgesamt immer mehr unter Druck.
00:00:24 Jenny Ja, ich habe auch diesen Eindruck. Zumindest ist
es ein Thema, das ich auch häufig in meinem persönlichen Umfeld
bespreche. Wir reden oft darüber, wie es den einzelnen Leuten
geht, aber auch uns allen als Gesellschaft. Die psychische
Gesundheit ist sicher auch ein grösseres Thema. Aber auch Stress
ist ein grosses Stichwort. Unter anderem wissen wir aus der
Gesundheitsbefragung vom BFS, dass mittlerweile im Vergleich zu
vor zehn Jahren fast ein Viertel der Leute in der Schweiz sagen,
dass sie regelmässig Stress am Arbeitsplatz erleben. Ich denke,
es sind ganz verschiedene Themen, die wichtig sind und auf die
ich mich freue, im heutigen Gespräch zu vertiefen.
00:01:04 Lukas Reden wir mit der Psychiaterin darüber. Herzlich
willkommen, Esther Pauchard.
00:01:09 Esther Merci vielmals.
00:01:09 Lukas Wir haben über eine Gesellschaft geredet, die sich
im Stress fühlt, aber du selber hast eigentlich schon als Kind
sehr viel Zeit im Spital verbringen müssen, mit einem Hüftleiden
von Geburt an. Und du hast nachher als Mutter und bereits in
einer Führungsfunktion als Psychiaterin auch noch eine
Krebsdiagnose ertragen müssen. Ist es dir selber in diesem Moment
zu viel geworden?
00:01:33 Esther Nicht zu viel, aber es hat mich hübsch
herausgefordert. Es hat mir ehrlicherweise sehr gut getan, mich
einmal auf der anderen Seite des Pults wiederzufinden. Nicht
immer auf dieser Seite als Behandlerin, sondern eben als
Patientin. Ich habe extrem viel gelernt. Was ich heute aber im
Nachhinein sagen kann: Es hat mich auch sehr, sehr gestärkt. Ich
will es nicht missen. Es hat mehr aus mir gemacht, als ich vorher
war.
00:01:54 Jenny Du hast ja schon die Unterstützung von deinem Mann
erwähnt, gerade in dieser schwierigen Phase. Etwas, was wir dank
dem Krebsmonitor wissen, den wir unter anderem durchführen, ist,
dass grundsätzlich in der Schweiz Leute, die betroffen sind von
Krebsdiagnosen, das Gefühl haben, die Versorgung habe eine recht
hohe Qualität. Also man ist insgesamt ziemlich zufrieden. Wenn es
aber Punkte gibt, die man noch verbessern könnte, nennen die
Leute öfter mal die Unterstützung der Betroffenen selber und für
ihre Angehörigen, was den psychischen Bereich anbelangt. Hast du
das auch so erlebt, dass du dir dort eigentlich mehr
Unterstützung gewünscht hättest?
00:02:33 Esther Ich kann es nicht so sagen, aber es ist noch
schwierig. Wir sind halt Selbstversorger. Das macht die Situation
ein bisschen schwierig. Ich finde eher, dass die Angebote von der
Psychoonkologie her recht ausgebaut sind. Mir wurde dort ganz
viel angeboten, das ich hätte nutzen können, das ich aber nicht
brauchte. Ich denke, in den allermeisten Fällen, sei es bei einer
Krebsdiagnose oder sonst bei belastenden Lebensumständen,
arbeiten wir selber oder miteinander – mit Angehörigen, mit
Freunden, mit Leuten rundherum. Das habe ich dann gemerkt. Ich
habe wirklich den Eindruck gehabt, dass meine Leute so wie ein
Ring um mich schlossen. Und das habe ich ganz stark empfunden.
Ich habe immer gedacht: Alleine alles schaffen – easy. Das hat
mir sehr gut getan. Darum habe ich den dritten Kreis, den
professionellen, gar nicht gebraucht. Aber ich habe den Eindruck,
es gibt viele Angebote. Das ist schon ausgebaut.
00:03:20 Lukas Du gehst ja noch weiter. Du sagst, dass das auf
eine Art deine Beziehung zu deinen Kindern gestärkt hat. Indem
eine Belastung von dir auch mal für sie spürbar wurde.
00:03:35 Esther Am Anfang war es natürlich schrecklich. Sag mal
deinen Kindern, du hättest ein unbekanntes Krebsleiden, das auch
eine Metastase sein könnte. Und ich dachte, ich schade diesen
Kindern. Ich mache sie kaputt damit. Aber jetzt haben wir
gemerkt, wir sind stärker geworden. Wir haben alle zugelegt durch
das. Dann hat es auch sie mal gebraucht. Dann haben sie mich auch
mal weinen gesehen. Sie haben meine Angst gespürt. Sie haben
gespürt, wie ich auf diesem Weg bin. Aber auch, wie ich wieder
aufgestanden bin. Und dass man das eben bewältigen kann. Ich
glaube, das hat uns als Familie sehr viel mehr gebracht, als wenn
es einfach glatt gelaufen wäre.
00:04:05 Lukas Ich glaube auch, dass durch die Bewältigung deiner
eigenen Wege und die Verarbeitung deiner eigenen Wege oder deiner
Familie es so gekommen ist, dass du immer mehr versucht hast,
auch etwas Grundsätzliches zurückzugeben. Und nicht einfach
sagen, was kann man machen in der Einzeltherapie oder in der
Therapieinstitution, sondern dass du denkst, jetzt gehen wir
einen Schritt weiter. Die Gesellschaft ist wirklich unter Stress.
Jenny hat es angetönt. Das Empfinden ist am Wachsen. Es sind sehr
viele Elemente von Druck. Jetzt wollen wir natürlich von dir
wissen, wie wir damit umgehen.
00:04:46 Esther Ich finde, es lohnt sich schon mal, den Druck
genauer anzuschauen. Du hast das Wort Stress, also
Stressempfinden, gebracht, und das ist ein sehr treffender
Begriff. Einerseits haben wir ja den Stressor, also den Druck,
der von aussen kommt. Das kannst du physikalisch sehen. Wenn ich
etwas doppelt so schnell machen muss, dann habe ich doppelt so
viel Druck. Wenn ich doppelt so viel Gewicht tragen muss, dann
auch. Das ist das Technische. Aber dann habe ich auf der anderen
Seite noch meine persönlichen Komponenten. Wie bewerte ich es?
Wie verarbeite ich es? Kann ich damit umgehen? Kann ich es
abfangen? Oder heize ich mein Stressempfinden noch immer mehr an,
indem ich Widerstand entwickle? Das finde ich ganz wichtig. Wenn
die Welt so ist, wie sie ist – und das ist hier der Punkt –, aber
ich habe die Welt gerne so, wie sie sein sollte, in diesem
Idealzustand, dann ist das, was hier zwischendurch ist, die
Spannung, die es gibt; je grösser die ist, desto schlimmer. Man
nennt das die Inkongruenz. Und was hier ganz wichtig ist, ist
eben auch unsere Erwartung. Und an dem, habe ich den Eindruck,
kranken wir heute auch. Das merke ich immer wieder. Wir gehen so
davon aus, es muss alles ideal laufen. Also wir haben unsere
Normlatte auf einen Idealzustand raufgetan. Und nach dem Motto:
100 % müssen wir schaffen. Und da ist natürlich klar, dass wir
viel, viel schneller in ein Stressempfinden kommen, dass es eine
Fehlermeldung gibt, dass wir finden: Das kann ja nicht sein – und
empört reagieren –, als wenn man sagen würde: Ja gut, also mit 70
% bin ich schon zufrieden. Und diese Aspekte finde ich schon
wichtig, dass wir dort hinschauen. Weil sonst laufen wir Gefahr,
dass wir nur die äussere Situation anschauen und sagen, man
sollte doch. Oder noch besser, die anderen sollten doch. Das
hilft uns nicht. Es kann auch sein, es kann wahr sein, aber es
hilft uns nicht.
00:06:28 Lukas Ja, wir haben ... ja, insgesamt die
Herausforderung als Gesellschaft, eben gewisse Elemente zu
bewältigen. Und du sagst, ganz wichtig ist die Analyse zwischen
dem, was wir empfinden, und dem, was wirklich das Problem ist. Es
gibt halt auch Probleme, die nicht so bewältigbar erscheinen.
00:06:48 Esther Es gibt auch solche, die nicht bewältigbar sind.
Das Mindset im Sinne von: Wenn ich nur das Richtige mache, dann
kann ich alles bewältigen. Das stimmt nicht. Ich kann nie 100 %
bewältigen, aber auch nicht null. Und den Rest, den ich nicht
bewältigen kann, mit dem muss ich auch etwas machen. Das ist auch
wahr. Und dort ist die Akzeptanz ein relativ wichtiger Begriff.
Wie komme ich damit klar? Wie bewerte ich das? Strecke ich die
Waffen? Lasse ich mich fallen? Sage ich: Dann hat alles keinen
Sinn mehr? Oder schaffe ich es, in dem Bereich, in dem ich etwas
machen kann, das herauszuholen, was ich kann? Das sind alles
Fragen, die wir uns stellen müssen. Ganz losgelöst davon, dass
wir uns, glaub, alle einig sind, dass unser Lebensstil, unsere
Umgebungsfaktoren zu wünschen übrig lassen und wir einiges noch
herausholen können. Aber allein das – wenn wir nur das sehen –
lässt uns in eine Opferhaltung hineinfallen.
00:07:36 Lukas Ja, Ohnmacht haben wir auch vor allem bei den
Jungen, die wir beobachten konnten.
00:07:41 Jenny Ja, ich finde es einfach ganz wichtig, das, was du
sagst – das sieht man auch gut in den Zahlen. Beispielsweise
jetzt in der CSS-Gesundheitsstudie: Immer mehr Leute geben an,
dass sie sich permanent unter Druck fühlen, um leistungsfähig zu
bleiben. Und gerade wenn man so Unterschiede anschaut zwischen
verschiedenen Generationen, zwischen den Geschlechtern, etwas,
das halt fest auffällt und auch oft in den Medien Thema ist, ist
der Unterschied – oder der Fakt –, dass vor allem junge Frauen
sehr oft angeben, dass es ihnen psychisch nicht so gut geht im
Vergleich zu den anderen Gruppen. Mich würde es mega
interessieren – aus deiner klinischen Erfahrung und auch sonst –,
wie du das wahrgenommen hast. Ist das eine demografische Gruppe,
die uns besonders Sorgen machen müsste, oder müssen wir das Ganze
noch breiter denken?
00:08:27 Esther Ich denke, breit denken ist nie falsch. Ich finde
es immer sehr gefährlich, wenn wir sagen, die Gruppe ganz
speziell, die sind speziell. Es betrifft uns schlussendlich immer
alle als ganze Gesellschaft. Ja, natürlich ist es so, dass die
Belastung der jungen Generation, und innerhalb von denen
vielleicht der Frauen, noch ein bisschen höher ist. Aber es hat
ja etwas mit uns allen zu tun. Die junge Generation ist ja von
jemandem quasi erzogen worden. Und das heisst, es betrifft
nachher uns als ältere Generation auch. Mir dient es mehr, wenn
ich drei Schritte zurückgehe und sage, was betrifft uns alle. Und
ich sehe mehr Faktoren, die uns alle betreffen, als dass ich
jetzt mit dem Finger zeige: «Ui, die Jungen da.» Man könnte aber
davon ausgehen, wenn wir als ältere Generation ein Problem haben
einreissen lassen, unsere Illusionen machen, werden wir die
natürlich unseren Kindern potenzierter mitgeben. Also es gibt
einen Potenzierungseffekt. Was aber nicht heisst, dass Kinder
mehr Probleme haben, sondern sie haben es doppelt mitbekommen
oder sie stehen an einem anderen Ort. Und wir können es auch so
sagen: Vielleicht hat man in den 80er-, 90er-Jahren zu wenig
diagnostiziert, zu wenig hingeschaut. Und dann hat es sicher Sinn
gemacht, zu sagen: Hey, schau mal zu dir. Trag Sorge, nachher
schauen, was ist eine Diagnose und so weiter, das ernst nehmen.
Wir stehen heute an einem anderen Ort. Es werden viel mehr
Diagnosen gestellt. Und wenn wir jetzt aber immer noch – und das
sehe ich immer wieder zu meinem grossen Unglück – die Devise
verkünden: Mental Health heisst schonen, heisst vermeiden, heisst
uns zurücknehmen, so wenig wie möglich machen. Dann dient uns das
nicht mehr. Also was wir empfehlen und was es jetzt gerade
braucht, hängt immer davon ab, wo wir jetzt stehen. Und das ist
vielleicht auch ein Faktor, warum die junge Generation jetzt mehr
Mühe hat als vielleicht wir dannzumal noch.
00:10:13 Lukas Dort ist ja eine heikle Diskussion um Transparenz
im Gang. Dass wir mehr offen über das reden, ist ja auch in
deinem Sinn wünschenswert.
00:10:25 Esther Absolut. Auf jeden Fall, dass wir offen darüber
reden und dass wir auch die Breite zulassen. Ich finde eigentlich
das Konzept der Neurodiversität super. Man sagt, wir sind alle
unterschiedlich – so what? Nehmen wir es, wie es kommt. Aber was
mir Sorgen macht, ist, dass die Entstigmatisierungsbemühungen,
gerade in der Psychiatrie, die man über Jahrzehnte vorangetrieben
hat, übergeschwappt sind. In gewissen Bereichen ist es immer noch
so, dass eine Diagnose peinlich ist, aber in anderen Bereichen
habe ich das Gefühl, gehört eine Diagnose schon fast zum guten
Ton. Oder ist attraktiv. Oder ist wünschenswert. Also es gibt
Leute, die sich sehr identifizieren, gerade mit diesen moderneren
Diagnosen. Und das macht mir auch Sorgen. Ich möchte nicht, dass
Menschen Nachteile haben, wenn sie eine psychiatrische Diagnose
haben. Aber wenn sie Vorteile davon haben, haben wir auch wieder
ein Problem, weil das Chronifizierung fördert. Und da ist
irgendwo die Balance gefragt: Wie gehen wir jetzt mit dem
Grossthema Diagnose um?
00:11:21 Lukas Da sind wir mitten in der Diskussion um Burnout.
Ganz konkret: Cassandra Bergen ist ein bisschen du, würde ich
jetzt mal boshaft sagen.
00:11:34 Esther Meine Protagonistin, meine Krimi-Protagonistin.
00:11:38 Lukas Durch den Tag behandelt sie psychisch zum Teil
schwerkranke Leute. Und in der Nacht löst sie heftigste
Kriminalfälle, böse gesagt. Und das ist ja fast eigentlich die
Definition von jemandem, der wenig auf seine eigene Gesundheit
achtet. Das ist ja eigentlich genau das Problem, oder?
00:11:57 Esther Ich habe bei Cassandra Bergen nicht so Angst
wegen dem Burnout. Und zwar, weil sie sehr authentisch ist. Sie
ist bei sich, sie verbiegt sich nicht. Und das ist mir noch so
wichtig. Sie übernimmt auch die Verantwortung für sich. Sie macht
manchmal schon Fehler, aber sie übernimmt die Verantwortung. Und
ich finde, Selbstverantwortung – bei sich hinzuschauen und auch
mal etwas von sich zu verlangen –, das ist für mich eine
Burnout-Prophylaxe. Weisst du, ich muss ein bisschen aufpassen,
dass ich dort nicht einen allzu einseitigen Blickwinkel habe. Ich
habe kürzlich auch noch mit jungen Erwachsenen gearbeitet,
stationär, psychiatrisch. Und dort habe ich den Eindruck
gewonnen, bei den allermeisten ist Vermeidung das Problem und
nicht übermässiger Stress. Natürlich gibt es auch andere Fälle,
wo Leute viel zu viel haben. Aber mir ist aufgefallen, dass
gerade bei den Patienten, die ich dort gesehen habe – was
natürlich etwas eingeschränkt ist, eine spezielle Situation –,
viele das Gefühl hatten: Jetzt muss ich endlich zur Ruhe kommen,
weniger machen. Aber sie haben auch das Basalste des Alltags
nicht hingekriegt. Dort müssen wir aufpassen. Vermeidung ist für
mich mindestens so gefährlich wie Stress. Und deswegen finde ich,
Stress hat manchmal ein Imageproblem. Ja, ein chronischer
Dauerstress ist nicht gut für uns. Aber dann meinen viele: Da
muss ich mich so fest wie möglich schonen. Und immer wenn ich
mich nicht gut fühle, muss ich mich noch mehr schonen und noch
mehr Rückzug und noch mehr Entlastung und noch mehr Vermeidung.
Das ist tückisch. Weil Schonung und Vermeidung machen mich nicht
stärker. Das treibt mich zurück in die Komfortzone, und ich werde
immer kleiner und kleiner. Und das ist das Nervige der
Psychiatrie. Es gibt nicht einfach ein Rezept, das stimmt,
sondern es kommt immer darauf an, wo wir stehen. Und je nachdem
muss ich jemandem das raten, dem anderen aber etwas ganz anderes.
Und diese Flexibilität braucht es. Und wenn ich in den sozialen
Medien eben Rezepte lesen kann, im Sinne von: Burnout ist, wenn
man dich nicht ernst nimmt und wenn man dich nicht sieht –, dann
läuten bei mir die Alarmglocken. Wie viele dieser Rezepte, die da
rumschwirren, treiben eigentlich die Leute in die Vermeidung,
damit in die Opferhaltung und damit in die Chronifizierung. Das
ist so ein bisschen Highway to Hell.
00:13:56 Jenny Um bei diesem Stichwort Burnout zu bleiben, aber
jetzt vielleicht weniger wie die Cassandra Bergen und mehr so bei
der breiteren Gesellschaft: Mich hat es echt erstaunt, als ich
auch in der CSS-Gesundheitsstudie nachgelesen habe, mittlerweile
geben nur noch quasi zwei Drittel der Bevölkerung an, dass sie
noch nie so eine Art Erfahrung hatten in ihrem Leben, die sie
jetzt als Burnout bezeichnen würden. Wenn ich dir jetzt so
zuhöre, würde ich sagen, vielleicht müssen wir uns da doch nicht
so Sorgen machen – oder wie würdest du das einschätzen?
00:14:24 Esther Weisst du, ich sage dir, das ist wirklich ganz
klar meine persönliche Meinung. Ich komme jetzt da nicht mit dem
Anspruch auf Wahrheit und Empirie. Aber meine persönliche Meinung
ist, dass wir dazu neigen, ganz normale, belastende
Lebensumstände zunehmend als Krankheiten zu missinterpretieren.
Zu denken: Hey, das ist auf jeden Fall eine Diagnose. Dabei
gehört es zum Leben. Man nennt das Leben. Das heisst, intensive
negative Gefühle, Phasen von Verunsicherung, Misserfolg, Verlust,
auch einschneidende Lebensereignisse – da haben ganz viele Leute
das Gefühl, das sei krank. Es braucht immer eine Therapie. Das
ist nicht so. In den wenigsten Fällen braucht es einen
Therapeuten. Dort müssen wir hinschauen. Nicht jeder Mensch, der
sagt, ich fühle mich deprimiert, hat die Diagnose einer
Depression. Das müssen wir unterscheiden. Stress ist ein sehr
subjektives Empfinden, Schmerz ist ein sehr subjektives
Empfinden, auch das Deprimiertsein ist sehr subjektiv und hängt
auch sehr stark davon ab, was wir erwarten. Und dieser
Idealzustand, wo wir eben unsere Nulllinie aufgehängt haben auf
100 %, da ist schon 99 unzumutbar. Und das sehe ich an so vielen
Orten.
00:15:38 Lukas Dort willst du ganz klar – wenn ich jetzt
probiere, in deinen Werkzeugkasten hineinzuschauen, was du in
deiner Ratgeberliteratur machst – ganz klar unterscheiden
zwischen ... Also es gibt ein Problem, nehmen wir wieder das
Problem, zum Beispiel du bist unter Druck am Arbeitsplatz, bist
unglücklich mit deiner Chefin: dass man sagt, was ist genau das
Problem, dass man sich das vielleicht auch aufschreibt und
wirklich genau probiert, auseinanderzunehmen, was objektiv
wirklich die Problemsituation ist. Was ist genau der Druck?
00:16:05 Esther Der technische Aspekt quasi.
00:16:06 Lukas Der technische, genau. Und auf der anderen Seite
der Gefühlsaspekt. Warum fühle ich mich bei dem so unter Druck?
Oder empfinde ich sogar Unsicherheit, Ängste? Dass man das genau
auseinandernimmt und vielleicht mit diesem Instrument zuerst für
sich schaut. Und dann hat man vielleicht auch die Grundlage, um
mit der Chefin ein gutes Gespräch zu führen.
00:16:25 Esther Und weisst du, genau dieses Hinstehen, um mit der
Chefin ein Gespräch zu führen – ich finde, das machen wir zu
wenig. Es ist so: «Ach Gott, Arbeitsplatzbedingungen sind
Horror.» Ich meine, in den 68er-Jahren sind die Leute auf die
Strasse gegangen. Heute, wenn man sich nicht wohl fühlt am
Arbeitsplatz, was macht man? Standardspruch: «Ich hole mir ein
Zeugnis.» Dann gehe ich rückwärts raus, dann bin ich geschützt.
Und dann will ich aber auch nicht mit dem Chef reden, weil der
nächste Chef wird sicher super. Nein, wird der auch wieder nicht.
Ich finde auch, unsere Arbeitsplatzbedingungen – dort müssen wir
etwas ändern. Schaffen wir aber nicht, wenn jeder, der sich nicht
wohl fühlt, sich schweigend rauszieht, sondern es braucht mehr
Zivilcourage. Dass wir uns trauen, zu sagen: Nein, hallo, was
soll das? Dass wir uns auch mal die Freiheit nehmen zu sagen:
Schau, sorry, ich kann nicht zaubern. Und wir sind ja mega gut,
heutzutage einander die heissen Kartoffeln zuzuschieben. Im Sinne
von: Wenn du nur genug effizient bist, dann kannst du das, und
das darf ich von dir verlangen. Und so gehen wir hin und her und
hin und her. Es braucht Leute, die sagen: Hey, träumt weiter,
Jungs. Es geht nicht. Und diese Zivilcourage wünsche ich mir
mehr. Ich wünsche mir mehr Wahlbeteiligung und weniger
Arbeitsunfähigkeitszeugnisse. Und weniger anonyme Hasskommentare
im Internet.
00:17:36 Lukas Okay, das können wir unterschreiben.
00:17:37 Esther Ja, vorne stehen und etwas machen. Viele von
diesen Faktoren, die wir zu Hause haben, passieren uns einfach.
Haben wir vielleicht trotzdem etwas, womit wir das ändern können?
Weisst du, zum Beispiel auch digitale Medien, soziale Medien und
so weiter, wo alle sagen: Ui, ganz schlimm. Schlussendlich bin
ich dann trotzdem noch ich, der sich entscheidet: Nehme ich jetzt
das Gerät zur Hand oder nicht? Und was bringe ich meinen Kindern
damit bei? Solche Fragen, dass wir nicht vorschnell denken:
unzumutbar, ich bin eine Arme, sondern auch schauen: Was kann ich
hier machen? Also wie weit ist quasi die Reichweite meiner Arme?
Und das geht dort hinein. Analysieren: Was kann ich machen, was
kann ich beeinflussen, was nicht? Und was sind eben meine Gefühle
und Gedanken – und vielleicht gar nicht die von der Umwelt?
00:18:21 Lukas Also du würdest ein Plädoyer gegen ein Verbot von
Social Media für Kinder halten?
00:18:22 Esther Ich finde, wir müssen dort aufpassen. Das ist ein
gewaltiges Suchtmittel. Ich komme ja aus der Suchttherapie und
kenne das. Ich weiss, es gibt Substanzen, es gibt Umstände, die
sind unglaublich verführerisch, und die sozialen Medien sind das
definitiv. Irgendjemand hat einmal schön gesagt: Du kannst schon
versuchen, Selbstdisziplin zu wahren, aber auf der anderen Seite
des Bildschirms hat es tausend Ingenieure, die gegen dich
arbeiten. Ja, das wird irgendwo schon stimmen, aber wenn ich dann
sage: Das ist wieder typisch, man will mich verführen, man quält
mich –, bin ich wieder voll in der Opferhaltung. Wie gehe ich mit
dem um? Wir müssen einen Weg finden.
00:19:01 Jenny Ich würde dich gerne noch fragen, Esther – apropos
mit dem Chef, mit der Chefin zu reden, wenn es einem nicht wohl
ist aus irgendeinem Grund bei der Arbeit. Das ist auch ein Punkt,
der mir aufgefallen ist: dass über ein Drittel der Schweizer
Bevölkerung sagt: Hey, ich hatte schon mal Angst, über eine
Erkrankung, die ich hatte, mit meinem Arbeitgeber, meiner
Arbeitgeberin zu reden, weil ich Angst hatte, dass das nicht auf
genug Verständnis stösst – und dass die Leute das vor allem
angeben, wenn es darum geht, dass sie psychische Krankheiten oder
psychisches Unwohlsein nicht mit der Chefetage besprechen wollen.
Wenn ich dir zuhöre – du sagst, man sollte sich das mehr trauen
–, kannst du die Sorge der Leute trotzdem nachvollziehen, dass
man das oft nicht macht?
00:19:42 Esther Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Ich sage
immer noch, es hat beides. Einerseits ist es immer noch ein
Stigma, und andererseits ist es wie das Gegenteil. Ich höre von
Arbeitgebern auch: «Hey, mir wird die ganze Verantwortung für die
psychische Gesundheit meiner Mitarbeitenden überwälzt.» Und wenn
ich mal ein bisschen mehr von ihnen verlange, dann sagen sie: Es
ist unzumutbar, ich bin krank. Also man hört beides. Und auch da
ist es mir wichtig, dass wir schauen, wo wir genau stehen. Es
gibt Menschen, die sich nicht trauen, die nicht zu sich schauen.
Und dann gibt es Menschen, die fast zu fest zu sich schauen und
nichts von sich verlangen und von der Umgebung verlangen: «Du
musst mich schonen.» Das gibt es auch. Und das macht es ja so
kompliziert. Es gibt immer beides.
00:20:26 Lukas Das Gesundheitswesen an sich war für dich eine
Motivation, um mehr auf gesellschaftliche Themen einzugehen, mehr
die Leute zu fordern oder Empfehlungen zu geben, wie sie mit
ihrer eigenen Situation umgehen können. Das ist eigentlich dein
Rezept gegen die Überlastung des Gesundheitswesens, wenn ich dich
korrekt zusammenfasse.
00:20:45 Esther Mir fällt einfach auf, dass es immer mehr
Menschen gibt, die sich – müssen oder wollen – tragen lassen. Und
dann gibt es immer weniger, die noch tragen können. Das ist
einfach ein Fakt. Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, überall
Finanzierungsprobleme. Und da muss man weder Mathematiker noch
Statiker sein, um zu merken: Es geht nicht auf. Du kannst nicht
auf eine immer dünner werdende Säule immer mehr obendrauf tun.
Und ich finde, darum ist es einfach: Wenn wir ein gut
funktionierendes Gesundheitswesen wollen, ist es unsere Aufgabe,
auf die zu schauen, die noch tragen. Und nicht nur auf die
Bedürfnisse von denen, die getragen werden wollen. Damit die, die
tragen müssen, das noch können. Verstehst du, wie ich meine? Es
ist so ein bisschen beides. Wir können nicht den Leuten, die
tragen, einfach immer mehr aufladen und immer mehr verlangen. Und
darum ist es wichtig, dass wir als Gesamtbevölkerung selber mehr
tragen können. Es gibt leichte Situationen – eben der Umgang mit
belastenden Lebenssituationen, mit Sachen unter der Diagnose –,
dass wir das bei uns behalten. Und das Gesundheitswesen, das
Versorgungsnetz, das wir haben, soll sich um die Sachen kümmern,
wo es wirklich einen Arzt braucht, einen Psychologen braucht. Das
ist für mich ganz etwas Wesentliches. Und auch dort sind die
Empfehlungen in den sozialen Medien manchmal völlig konträr. Hey,
Therapie tut allen gut. Wäre es nicht schön für dich? Ja, aber
wir haben die Valenzen nicht mehr.
00:22:14 Jenny Du sprichst die Situation von denen an, die im
Gesundheitswesen arbeiten, gerade in der Psychiatrie. Und das ist
auch ein sehr wichtiger Punkt, den wir in unseren
Begleitforschungsstudien sehen, wo wir verschiedene
Gesundheitsfachpersonen befragen, unter anderem zu ihren
Arbeitsbedingungen. Und da ist es halt ein sehr grosses Thema,
gerade in der Psychiatrie, dass die meisten sagen: Hey, wir haben
einen ganz grossen Fachkräftemangel; dass sie das Gefühl haben,
es gibt viele Abwesenheiten auch unter den Ärztinnen und Ärzten
aus gesundheitlichen Gründen, weil sie nicht mehr können; oder
dass nur 60 % sagen: «Ich habe das Gefühl, ich erfülle wirklich
die medizinischen Anforderungen, die eigentlich zu meinem Beruf
gehören würden.» Das sind da ganz verschiedenartige Probleme.
Vielleicht doch nochmals auf der systemischen Ebene: Was hast du
das Gefühl, könnte man da machen, um den Leuten in der
Psychiatrie möglichst zu erleichtern – auch aus deiner Erfahrung?
00:23:13 Esther Ich glaube, da sind wir uns alle einig: Es kann
nicht sein, dass das Gesundheitswesen seine Mitarbeitenden krank
macht – und das passiert jetzt. Und da gibt es halt ganz viele
Aspekte. Weisst du, ich habe nicht die Lösung, aber es fällt mir
auf, dass die formellen Anforderungen immer mehr zunehmen. Es
fällt mir aber auch dort wieder auf, dass ein Idealzustand
verlangt wird, den wir einfach auch nicht mehr so leisten können.
Da sollte jeder Patient die maximale Versorgung bekommen.
Wirklich, aber es gibt gar keine Leute mehr dafür. Und dann gibt
es Situationen, wo es ans Eingemachte geht, weil es darum geht,
ein Mensch ist, sagen wir, suizidal. Die Behandler – von denen
wird erwartet, dass sie die Verantwortung übernehmen, dass dem
Menschen nichts passiert –, und dann würde man erwarten:
1-zu-1-Betreuung rund um die Uhr, aber sie haben die Leute nicht
mehr. Und gleichzeitig dürfen sie aber keine
freiheitseinschränkenden Massnahmen machen, also die persönlichen
Rechte des Patienten dürfen nicht eingeschränkt werden. Das sind
so Unmöglichkeitskonstruktionen, wo man völlig ausser Acht lässt,
wie die Situation wirklich ist; sondern auch dort geht man wieder
vom Idealzustand aus. Und ich glaube, es würde uns allen helfen,
wenn wir mal von diesem amerikanischen Bigger-, Better-, Faster-,
More-Prinzip abkommen würden. Weisst du, der Gedanke, das Leben
ist wie eine gerade Linie, die immer besser wird. Hey, das Leben
ist ein Kreis. Und manchmal geht es hinten runter. Und das Leiden
gehört dazu, und die Krankheit gehört dazu. Es ist nicht alles
heilbar. Man kann nicht alles behandeln. Und statt dass wir
einfach immer mehr versuchen würden – hey, wir müssen doch das
irgendwie hinkriegen und Heilung hinkriegen –, dass wir
vielleicht auch mehr uns eingestehen könnten: Es ist gar nicht
möglich. Wir können nicht mehr kurativ arbeiten. Also arbeiten
wir palliativ. Palliativ heisst nicht, wir lassen die Leute
baldmöglichst sterben. Aber das heisst, wir akzeptieren: Hier
bringen wir nicht eine hundertprozentige Heilung her. Und wir
geben nicht das Maximale und spulen und spulen, sondern wir
sagen: Also, wir kriegen es nicht hin. Dann ändern wir unsere
Werte: Autonomie, Würde, Schadensminderung, Lebensqualität. Dann
bauen wir darauf auf: Was braucht es, damit das möglich ist? Es
gäbe eine Entspannung. Wenn wir schon begreifen würden, dass der
Mensch stirbt, dass das passieren kann, würde uns das auch schon
viel bringen. Also ich glaube, wir lügen uns alle gerne ein
bisschen in die Tasche. Sowohl als Patienten, als Gesellschaft,
aber auch als Gesundheitswesen. Wir haben hohe Ansprüche und wir
haben das Gefühl, wir müssten doch das Ideal hinkriegen. Das
schaffen wir nicht.
00:25:35 Lukas Es gibt ja viele Situationen, wo die Ohnmacht
wirklich nicht mehr mit dem eigenen Spielfeld zu tun hat, mit der
Situation, in der man drin ist. Und die Ohnmacht ist irgendwie
ganz stark spürbar im Moment, wenn es um die Unsicherheit auf
dieser Welt geht. Wenn man quasi das Gefühl hat, dass Wut und
Ohnmacht dominieren – das haben im Moment sehr viele Leute. Das
Gefühl, dass es nicht gut geht. Was ist die Empfehlung im Umgang
mit dieser Unsicherheit, mit der globalen Unsicherheit?
00:26:14 Esther Ich finde es wichtig, dass wir unsere eigene
Wahrnehmung unter die Lupe nehmen. Unser Verstand ist primär auf
Existenzsicherung ausgerichtet. Er sieht immer eher das Negative
und überbläht es und überinszeniert es. Wenn ich einen
Sachverhalt mitbekomme, macht mein Hirn nicht ein Abbild der
Realität, sondern es verzerrt ins Negative. In der Presse ist das
noch potenziert. Das ist ein kollektiver Effekt. Wir verzerren
alle das Negative. Mein Lieblingsbuch zum Thema ist «Factfulness»
von Hans Rosling. Er hat das wunderbar hergeleitet. Wer das
wissen möchte, soll dort nachlesen. Die Wahrnehmung, die wir ins
Negative verzerren, ist wie ein Uralt-Programm von uns. Das ist
wahrscheinlich Tausende von Jahren alt. Das ist ganz tief im
Menschsein verwurzelt. Auch unsere Reaktionsmuster sind ein
Uralt-Programm. Immer wenn Not am Mann ist, reagieren wir immer
gleich. Mit Angst und Wut. Oder anders gesagt: Flucht oder Kampf.
Das sind so unsere zwei Standard-Werkzeuge. Und das merkt man im
Moment im Politischen sehr stark. Es ist Wut um uns, es ist Angst
um uns. Das mobilisiert die Masse, das treibt die Leute ins
Extrem. Und ich glaube, wir werden als Menschheit aufgerufen, so
ein bisschen neue Werkzeuge zu entwickeln. Weil die alten
Werkzeuge – Angst und Wut – super funktionieren bei akuten
Raubtierangriffen, sage ich gerne.
00:27:35 Lukas Fluchtreflex.
00:27:35 Esther Ja. Also bei etwas, das unmittelbar
lebensbedrohlich ist. Aber unsere heutigen Probleme, die sind
langfristig, breitflächig, vernetzt und kompliziert. Und dort
funktioniert es nicht gleich. Und dort müssten wir eben auch
nicht nur für einen Sprint gerüstet sein – Adrenalin, Angst, Wut
–, sondern für einen Marathon. Und das heisst, bessere Werkzeuge
wären Zuversicht, Kooperation. Aber das müssten wir uns zuerst
antrainieren. Und das ist nicht ganz einfach.
00:28:01 Lukas Also auch Beteiligung, Beteiligung in der
politischen – also dass wir dort auch in Kooperation
zusammenarbeiten. Wir haben versucht, heute den ganz grossen
Bogen zu schlagen. Wir haben nämlich versucht, zuerst über das
Stressempfinden einer belasteten Gesellschaft zu sprechen, aber
auch über die Überlastung, die es gibt, vielleicht bei jungen
Leuten, psychische Gesundheit und in der Psychiatrie. Und wir
haben am Schluss sogar noch die ganze Welt auf deine Couch legen
dürfen.
00:28:29 Esther Wenn schon, denn schon, gell?
00:28:31 Lukas Volles Rohr. Vielen, vielen Dank, dass du bei uns
Gast warst. Viel Erfolg mit deinem weiteren Ratgeberdasein.
Herzlichen Dank.
00:28:43 Esther Danke, Jenny.
00:28:44 Lukas Ja, Jenny, was hast du mitgenommen heute?
00:28:45 Jenny Ja, ganz viel Verschiedenes. Ich würde sagen,
vielleicht am Ende sind mir zwei Punkte geblieben. Einerseits so
ein bisschen das Stichwort Perfektionismus. Also ich habe das
Gefühl, es ist wichtig, dass wir uns bewusst sind nach dem
Gespräch mit Esther: Klar, wir möchten eine gute Versorgung. Es
ist wichtig, dass wir gut auf uns schauen. Aber es hilft uns zum
Teil auch nicht, wenn wir zu hohe Ansprüche an uns haben. Das
kann in ganz verschiedenen Lebensbereichen sein, und es würde uns
da vielleicht auch gut tun, mal einen Schritt zurückzugehen und
sich zu überlegen: Hey, müssen es wirklich immer die 100 % sein?
Und ich denke, das andere Stichwort, das mir vor allem geblieben
ist, ist die Resilienz von jedem Einzelnen. Also auch da: Es
bleibt wichtig, dass man sich Hilfe holt, wenn man sie braucht,
und dass man auch offen über schwierige Themen reden kann, aber
dass doch relativ viel Resilienz in jedem Einzelnen von uns
steckt und dass man vielleicht in gewissen Fällen schon relativ
weit kommt, wenn man bei sich selber anfängt.
00:29:50 Lukas Ja, etwas Disziplin, was sie auch selber sagt,
sich aber dabei nicht unbedingt die Peitsche zu geben – also dass
man sich nicht mit dem Anspruch, alles gleich sofort zu schaffen,
quält. Ja, das stimmt.
00:30:02 Jenny Dann würde ich noch sagen: Wer es genauer wissen
möchte – alle genannten Studien, alle Details dazu –, findet ihr
unten in der Beschreibung.
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19.11.2025
31 Minuten
Prävention, Psychiatrie, Krankenkassen: Realitätscheck im
Schweizer Gesundheitswesen
Diese Woche haben Lukas Golder und Jenny Roberts Nationalrätin
Sarah Wyss zu Gast. Sie reden über: Warum Prävention chronisch
unterfinanziert bleibt und welche Anreize tatsächlich wirken. Wie
die Kinder- und Jugendpsychiatrie entlastet werden kann –
inklusive einer nüchternen Zwischenbilanz zum Anordnungsmodell.
Und ob über 40 Krankenkassen Effizienz schaffen oder vor allem
Verwaltung produzieren.
Im Podcast zitierte Studien:
Sorgenbarometer
Krebsversorgungsmonitor
Präventionsmonitor
Transkript zur Episode
00:00:02 Sprecher GFS Echo, der Podcast von GFS Bern. Mit Lukas
Golder und Jenny Roberts.
00:00:12 Lukas Herzlich willkommen zu GFS Echo, dem Podcast von
GFS Bern zu den wichtigsten und brennendsten Themen in der
Schweizer Politik. In dieser Staffel geht es um das
Gesundheitswesen insgesamt. Bei der Bevölkerung stehen häufig die
Kosten im Vordergrund. Heute reden wir aber mehr über die
Gesundheitsversorgung – vor allem die psychiatrische – und auf
der anderen Seite über Prävention. Ein Thema, das im politischen
System nicht so oft diskutiert wird.
00:00:41 Jenny Ja, da täuscht der Eindruck in Bezug auf die
Bevölkerung nicht. Wir wissen aus dem Präventionsmonitor, dass
die Leute in der Schweiz am ehesten auf der individuellen Ebene
denken, wenn es um Prävention geht: Ich ernähre mich etwas
gesünder, mache etwas Sport – solche Sachen. Und erst in zweiter
Linie denken wir an strukturelle, politische Massnahmen, wobei
die genauso wichtig wären.
00:01:04 Lukas Heute wird es politisch. Wir haben eine
Nationalrätin hier, die sowohl im Bereich Kosten – nämlich als
Präsidentin der finanzpolitischen Kommission – aber eben auch im
Bereich Gesundheitsversorgung tätig war, selber im Management in
der Psychiatrie, und in der Kommission, die sich um
Gesundheitsfragen kümmert. Nationalrätin Sarah Wyss von der SP,
herzlich willkommen.
00:01:25 Sarah Danke für die Einladung, ich freue mich darauf.
00:01:27 Lukas Bei der Prävention kann man fast sagen, es steht
ein Wunschtraum im Raum: dass man gleichzeitig die Kosten senken
und die Versorgung, die Gesundheit der Bevölkerung, verbessern
kann. Ist es ein Wunschtraum?
00:01:39 Sarah Ich glaube, die Prävention ist wirklich für die
Menschen da. Am Schluss wollen wir doch alle, dass die Menschen
nicht krank werden. Und was du, Jenny, gesagt hast, ist richtig:
Einerseits beginnt die Prävention im Alltag bei jedem. Aber man
muss den Menschen ein Rucksäckchen mitgeben, damit sie sich auch
so verhalten können. Dieses Rucksäckchen ist die institutionelle
– oder ein Teil der institutionellen – Prävention. Da fällt mir
auf: Beim Gesamtvolumen des Gesundheitswesens, also rund 90
Milliarden, geben wir gerade einmal 1,4% für Prävention aus. Für
die Verwaltung geben wir 4,4% aus. Für Prävention, die all diese
Kosten eigentlich reduzieren könnte, geben wir so wenig Geld aus.
Da sieht man, dass das Interesse an Prävention leider nicht so
gross ist. Vielleicht kann ich ausführen, warum. Alle sagen, die
Menschen sollen gesund bleiben, sollen gesund werden. Für jeden
einzelnen Leistungserbringer wäre das das Ziel. Aber das
Gesamtsystem lebt von Krankheit. Wenn Menschen nicht krank sind,
verdient fast niemand im Gesundheitswesen etwas. Das ist ein
Grundproblem unseres Finanzierungsmodells.
00:02:50 Lukas Aber da kommen die Kosten sehr schnell ins Spiel,
weil Prävention, so wie du es beschreibst, kostet natürlich. Wir
haben Screening-Programme, die zum Teil hinterfragt werden, und
man weiss nicht mehr, wer warum zahlen soll. Man weiss: Im
Prinzip muss man investieren, man soll mehr investieren. Wieso
sollten die Kosten runtergehen?
00:03:12 Sarah Die Kosten gehen nicht heute runter – das ist
vielleicht das Problem der Politik. Wenn wir heute
Vorsorgeuntersuchungen machen oder klassische Primärprävention,
etwa Plakatkampagnen, ist es nicht so, dass ich sofort gesund
werde oder heute nicht erkranke. Über eine längere Frist stärkt
das die psychische Gesundheit und beugt z. B.
Herz-Kreislauferkrankungen vor. Die Kosten werden viel später
eingespart. In der Politik ist man darauf gedrillt, möglichst
schnell einen Effekt zu sehen. Den sehen wir erst in 10, 20
Jahren. Die, die heute Politik machen, profitieren davon dann
nicht mehr. Darum ist es wichtig, mit Studien zu zeigen, wie
wirksam Prävention ist, damit man zumindest vom Kopf her sagt:
Dort müssen wir investieren, damit Menschen gesund bleiben.
00:04:08 Jenny Um die Sicht der Bevölkerung reinzubringen: Wir
wissen, dass drei Viertel der Schweizer Bevölkerung das Gefühl
haben, wenn wir mehr in Prävention investieren, könnten wir
Milliarden einsparen im Gesundheitswesen. Würdest du das
unterschreiben?
00:04:24 Sarah Ja, absolut. Es ist einfach nicht unmittelbar. Es
ist nicht so, dass wir heute investieren und das Geld heute
gleich wieder zurückkommt. Es geht über eine längere Zeit. Ein
anderer präventiver Ansatz ist etwa die Zuckerreduktion –
freiwillig oder nicht. Da weiss man, es hat einen Effekt auf die
Gesundheit. Das sind Massnahmen, die teilweise etwas kosten,
teilweise Vorgaben an die Industrie oder Anreize für die
Industrie sind. Das alles wird oft hinterfragt: Bei
Industrievorgaben heisst es, man solle nicht reinreden; gibt man
zusätzlich Geld aus für klassische Präventionsarbeit, fragt man:
Bringt das etwas? Ich sehe ja morgen nichts. Und schlussendlich
haben die Akteure – so toll sie sind – nicht unbedingt ein
Interesse daran, dass Prävention wirkt. Das macht mich im
Gesundheitswesen wirklich fertig. Alle, die einen
Gesundheitsberuf gelernt haben, wollen, dass es den Menschen
besser geht. Trotzdem ist unser Finanzierungssystem so, dass
niemand ein finanzielles Interesse daran hat. Das ist absurd.
00:05:44 Lukas Wenn man diesen Zustand – unter dem du offenbar
selber leidest – in Kontrast setzt zu einem System, das vernetzt
funktionieren soll, mit Akteuren, Kantonen, Bund: Nun reagiert
der Bund mit Strategien, mit Vorstössen. Was wünschst du dir in
diesem Bereich?
00:06:07 Sarah Wichtig ist, dass Kantone, Gemeinden, Bund und
alle Akteure zusammenarbeiten. Im Moment sind die Zuständigkeiten
fragmentiert, das ist schwierig. Wir wohnen heute oft nicht am
gleichen Ort, an dem wir arbeiten. Prävention muss
kantonsübergreifend sein. Ich wünsche mir Strategien, die mit
Expertinnen und Experten im Feld erarbeitet werden – und, falls
nötig, gesetzliche Grundlagen, z. B. für Verbote oder zusätzliche
Gelder. Da hakt es. Wir haben Strategien zu nichtübertragbaren
Krankheiten, Sucht, Krebs – diverse Strategien. Aber das
Parlament streicht dem Bund bzw. dem BAG das Geld zusammen. Wir
haben tolle wissenschaftliche Arbeit, aber die Umsetzung ist
nicht möglich, weil das Geld fehlt. Das ist absurd. Wir fordern
immer neue Strategien – aber eine Strategie nur auf dem Papier
nützt nichts. Wenn wir eine Strategie wollen, müssen wir sagen:
Das hat ein Preisschild, und es muss uns das Geld wert sein.
00:07:28 Jenny Ein anderer Punkt in der Präventionsstrategie
2040: Zusammenarbeit von Bund und Kantonen. In der Bevölkerung
gibt es Wohlwollen für so eine Strategie. Gleichzeitig ist
Prävention eher in der Kompetenz der Kantone. Bevormundet man die
Kantone nicht mit bundesweiten Strategien? Wie siehst du das?
00:08:03 Sarah Ich verstehe, dass es so wirken kann. Aber 24
verschiedene Präventionsstrategien machen keinen Sinn. Schon
wegen der Ressourcen für Erarbeitung, Monitoring und
Weiterverfolgung ist eine gemeinsame, übergreifende Strategie
sinnvoll, in die alle einbezogen sind. Uns fehlt aber eine
gesetzliche Grundlage für allgemeine Prävention auf nationaler
Ebene. Bei Krebs oder Suizid gibt es Grundlagen, aber vieles
fehlt. 2012 ist das Präventionsgesetz, wenn ich mich recht
erinnere, im Nationalrat an einer Stimme gescheitert. Im Moment
denkt man – etwa in der Schweizerischen Gesellschaft für
medizinische Wissenschaft – laut über ein Gesundheitsgesetz nach.
Wir müssen heute vieles über das Krankenversicherungsgesetz
regeln. Prävention setzt idealerweise dort an, wo man noch nicht
krank ist, mindestens die Primärprävention. Es wäre sinnvoll,
dass man dafür nicht zuerst eine Diagnose braucht. Instrumente
auf Bundesebene sind derzeit im Wesentlichen auf Strategien
beschränkt, mit wenigen Ausnahmen. Ich hoffe, dass ein
Gesundheitsgesetz kommt, in dem Gesundheit im Vordergrund steht –
nicht Krankheit.
00:09:25 Lukas Kommen wir zur direkten Versorgungssituation, mit
deiner Erfahrung im Management psychiatrischer Kliniken. Da kommt
viel zusammen. Gibt es in der heutigen Versorgungslage – trotz
starkem Gesundheitswesen – echte Probleme? Viele deuten sich in
der Psychiatrie: Versorgungsengpässe, Fachkräftemangel, eine neue
Finanzierung, die nicht klar ist, erschwerter Zugang, und das
Gefühl, die psychische Gesundheit, vor allem junger Frauen, stehe
unter Druck. Wo siehst du die Probleme, und wo brauchen wir
andere Lösungen?
00:10:20 Sarah Ich will mit etwas Positivem anfangen, bei all
dem, was negativ tönt: Die Enttabuisierung psychischer Probleme
und Krisen finde ich extrem positiv. Man traut sich, Hilfe zu
holen, schämt sich nicht mehr – früher hiess es despektierlich
„in die Klapse“. Aber gewisse Bevölkerungsgruppen sind massiv
belastet – bis in Krankheit hinein. Besonders bei Kindern und
Jugendlichen gibt es einen Engpass, das weiss man. Kinder- und
Jugendpsychiatrie gilt offiziell als unterversorgtes Fachgebiet.
Sie haben nun etwa eine Sonderregelung zusammen mit Hausärztinnen
und Hausärzten – sie können schneller zugelassen werden. Das
Problem ist damit noch nicht gelöst, aber es ist anerkannt. Neben
der Unterversorgung sind auch die Kosten ein Thema: Die direkten
Kosten sind das eine – Spitalaufenthalt, Therapie etc. Das andere
sind volkswirtschaftliche Kosten, je nach Studie bis zu 7
Milliarden durch Ausfälle etc. Ich würde zwei Dinge unmittelbar
machen: In den Schulen ansetzen – psychologischer Dienst,
Sozialarbeit – damit Krisen früh aufgefangen werden und es gar
nicht so weit kommt, dass junge Menschen ins System der
Psychiatrie hineinkommen.
00:12:16 Lukas Ist wieder Prävention, eigentlich?
00:12:17 Sarah Genau. Das ist Vorsorge, Prävention, sicher
Krisenintervention – und dort stehen zu wenig Mittel zur
Verfügung. Das ist logischerweise nicht KVG-relevant, weil sie
keine Diagnosen haben. Man soll auch nicht einfach
diagnostizieren, sondern die jungen Menschen dort unterstützen.
Das ist ein Hauptanliegen. Das andere sind Therapieplätze: Es
gibt lange Wartelisten, regional sehr unterschiedlich – und je
nach Diagnose ebenfalls. Gewisse finden fast niemanden, andere
haben relativ schnellen Zugang. Da haben wir eine Ungleichheit
der Zugänglichkeit – das ist gefährlich für unser System.
00:12:59 Lukas Jetzt können Psychologinnen und Psychologen
direkt, ohne Umweg über eine Psychiaterin, psychotherapeutische
Leistungen erbringen, die von der obligatorischen
Krankenversicherung bezahlt werden. Das war eine Massnahme
angesichts der angespannten Lage. Wie sieht die Bilanz aus? Hat
das geholfen, die Situation zu entschärfen?
00:13:29 Sarah Die Auswertung der Bilanz liegt noch nicht vor. Es
würde dem Parlament gut tun, abzuwarten und dann zu analysieren.
Im Moment verfällt man in Aktionismus und will schon wieder am
sogenannten Anordnungsmodell schrauben. Wir wissen: Die Kosten
sind gestiegen – rund 360 Millionen mehr. Aber das ist gewollt,
weil die Versorgung besser werden soll. Wir wissen z. B. noch
nicht, wie viel weniger Kosten dadurch bei den Psychiaterinnen
und Psychiatern anfallen. Diese Wechselwirkungen kennen wir noch
nicht. Gewisse sagen einfach: Es kostet viel – man sieht nicht,
was man dafür bekommt. Darum bin ich dafür, zuzuwarten, bis die
tiefgreifende Analyse da ist. Dann können wir sagen: Es hat
gewirkt – oder es braucht Anpassungen.
00:14:21 Jenny Ja, es wird noch detaillierte Analysen geben.
Gleichzeitig gibt es Monitorings zum bisherigen Stand. Man weiss:
Der Systemwechsel hat dazu geführt, dass mehr Leute in Behandlung
kommen, die Inanspruchnahme ist höher. Bis jetzt sind es
durchschnittlich rund 131 Millionen Mehrkosten pro Jahr. Du
sagst: Abwarten, wie die Gesamtbilanz aussieht. Du würdest hier
noch nicht Alarm schlagen?
00:15:05 Sarah Nein. Bei der Kostendiskussion muss man sich immer
fragen: Was ist der Mehrwert? Ich bin nicht grundsätzlich
dagegen, mehr auszugeben. Es kommt darauf an, ob eine Leistung
dahintersteht. Wenn es den Menschen danach besser geht, darf
diese Leistung etwas wert sein. Wir reden vielleicht zu selten
über Qualität und starren zu sehr auf die Kostenröhre. Wenn wir
gute Qualität haben und Menschen gesünder sind, darf uns eine
Kostensteigerung etwas wert sein. Wer das bezahlt, ist eine
andere Frage. Ich schlage nicht Alarm wegen der Kosten – eher,
weil der Bedarf steigt. Das bedeutet auch im Alltag: vielleicht
ruhigere Zeiten einplanen, die psychische Gesundheit fördern,
damit gar nicht so viele Krisen oder Krankheiten entstehen.
00:16:07 Lukas Dieses Bewusstsein – zu merken, wie es einem geht
– ist dir wichtig. Gut, dass mehr darüber geredet wird. Präventiv
gefragt: Ist Digitalisierung hier eine Chance? Zum Beispiel
KI-Coaches, wenn man Stress merkt – statt staatliche Programme
und Finanzierungsansätze früh bei den Leuten ansetzen: Hilf dir
selbst?
00:16:44 Sarah Die Algorithmen hinter der KI sind für mich eine
Blackbox. Ich weiss nicht, welche Informationen wie
zusammengeführt werden. Gerade im medizinischen Bereich bin ich
vorsichtig. Das heisst nicht, dass KI nicht genutzt werden kann.
KI wird genutzt und kann noch stärker genutzt werden. Es gibt
Apps, die entwickelt werden, Digitalisierung ist da und muss
weiterkommen. Aber einfach in ChatGPT eingeben „Heute geht es mir
nicht gut, was soll ich tun?“ – und es sagt „Geh spazieren“ – das
ist nicht in jeder Situation angebracht. Es braucht
spezialisierte, geprüfte Programme mit gesicherten Informationen
– solche werden etwa von Universitätspsychiatrien entwickelt.
Dort sehe ich grosse Chancen. Ein Thema, das wir nicht
angesprochen haben: Das Anordnungsmodell kam nicht nur wegen der
Versorgungssituation, sondern auch wegen des Fachkräftemangels.
Wir haben zu wenig Ärztinnen und Ärzte. Wir müssen kreativ sein,
um die Versorgung langfristig zu sichern.
00:17:52 Lukas Von der Versorgung in der Praxis auf die
Verfassungsstufe: Die SP plant zwei Initiativen. Viele Reformen
sind am Laufen, und Reformen wie die Fallpauschalen von 2011
wirken erst jetzt so richtig. Ihr wollt trotzdem auf
Verfassungsstufe eine Debatte starten. Ihr wollt Unterschriften
sammeln. Angedacht sind zwei: einerseits Finanzierung,
andererseits Einheitskasse. Zuerst zur Finanzierung: Die
Grundidee – noch nicht definiert – ist, dass man vom
kopfprämienfinanzierten Teil wegkommt, der im Sorgenbarometer so
stark belastet. Was ist die Idee?
00:19:00 Sarah Vielleicht zuerst: Die Einheitskasse ist eher eine
gesundheitspolitische Vorlage, die Prämiendeckelung eine
sozialpolitische – es geht um die Frage, wer zahlt. Unser
Vorschlag: Prämien einkommensabhängig machen, ein Stück weit
deckeln. 85% der Menschen sollen weniger Prämien zahlen, Kinder
und Jugendliche gar keine. Familien entlasten, Kaufkraft stärken.
Die restlichen ca. 15% zahlen etwas mehr, um das zu finanzieren.
Die Details wären auf Gesetzesebene auszugestalten. Das
entspricht dem Verfassungsauftrag, wonach jeder gemäss
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit besteuert wird. Die
Krankenkassenprämie ist eine Art Steuer, weil alle sie zahlen
müssen. Heute zahlt jemand mit 4’000 Franken im Monat gleich viel
wie jemand mit 50’000 Franken. Diese Ungleichheit wollen wir
beseitigen.
00:20:29 Jenny Im internationalen Vergleich ist die Schweiz ein
Sonderfall bei Versorgung und Finanzierung. Der öffentlich
finanzierte Anteil der Gesundheitskosten ist so tief wie in
keinem anderen OECD-Land. Verglichen mit nordischen Ländern liegt
er dort bei 85% oder höher. Muss man in der Schweiz anders
ansetzen?
00:20:57 Sarah Wir haben mehrere Versuche gemacht, mit
unterschiedlichen Vorzeichen. Die Prämienentlastungsinitiative
wollte Prämienverbilligungen deckeln – es hiess, unklar sei die
Finanzierung; sie wurde abgelehnt. Jetzt gehen wir mit einem
neuen Ansatz in eine ähnliche Richtung, denn das Problem bleibt:
Die Finanzierung ist extrem unsozial. Noch eine Zahl: Rund 11%
des BIP geben wir für das Gesundheitswesen aus – vergleichbar mit
anderen europäischen Ländern.
00:21:35 Jenny Deutschland, Frankreich sind ähnlich.
00:21:39 Sarah Und unser Kostendruck entsteht vor allem, weil die
Finanzierung so unsozial ist und Ende Monat stark aufs
Portemonnaie schlägt. Darum ist es richtig, dort anzusetzen. Wir
versuchen es mit einer neuen Idee. Selbstverständlich bleiben die
Prämienverbilligungen wichtig.
00:21:59 Lukas Der Zugang zum System – das aus der
Krankheitssicht gebaut ist – wird dadurch einfacher. Die Hürden
werden geringer, und man fordert vielleicht noch schneller mehr
Leistungen. Die Kostenproblematik könnte anders finanziert, aber
akzentuiert werden.
00:22:20 Sarah Das sehe ich nicht unbedingt so. Erstens steigen
die Kosten, aber im internationalen Vergleich sind sie nicht
übermässig hoch. Ich vergleiche es mit anderen
Service-public-Leistungen: Bildung kostet Ende Monat auch nicht
direkt mehr, und man konsumiert sie deshalb nicht „mehr“.
Sicherheit dasselbe. Eine andere Finanzierungslogik führt nicht
automatisch zu Mehrverbrauch. Parallel braucht es
Gesundheitskompetenz, Prävention – also die richtige
Inanspruchnahme von Leistungen und Orientierung, statt Dr.
Google. Dafür braucht es ein Rucksäckchen – die Initiative kann
das nicht leisten. Aber sie schraubt den „Konsum“ nicht hoch.
Wenn man das so nennen will, bekämpft man ihn mit anderen
Methoden.
00:23:29 Lukas Wir haben einen Strauss von Ansätzen: Prävention,
Themen in der psychiatrischen Versorgung, Digitalisierung mit
Vorbehalten, Gesundheitskompetenz, Eigenverantwortung. Jetzt
kommt zum fünften Mal die Idee einer Einheitskrankenkasse. Ist es
zeitgemäss, das nochmals aufzurollen?
00:24:01 Sarah Absolut. Wir müssen ehrlich sein: Die
KVG-Leistungen sind obligatorisch, alle Patientinnen und
Patienten bekommen die gleichen Leistungen. Es macht keinen Sinn,
warum es dafür über 40 verschiedene Krankenkassen braucht. Einen
neuen Anlauf halte ich für richtig. Wir geben 4,4% für Verwaltung
aus – mehr als für Prävention. Dort können wir die Kosten senken,
nicht massiv, aber spürbar. Die Einheitskasse löst nicht alle
Probleme – sie ist ein wichtiges Puzzleteil, mehr nicht.
00:24:43 Lukas Die Leute haben trotzdem den Eindruck, dass die
Leistung nicht immer stimmt und es Unterschiede geben kann: wie
und wofür bezahlt wird, welche Informationen in welcher Form. Man
kann sich zusätzlich versichern – fällt das weg? Diese Angst gibt
es.
00:25:10 Sarah Zusatzversicherungen werden überhaupt nicht
tangiert – die soll es weiterhin geben, für alle, die das wollen.
Es geht um die Grundversicherung. Fatal wäre, wenn nicht alle
Menschen bei jeder Krankenkasse die gleichen Leistungen bekommen
– das widerspricht dem KVG. Ich weiss, dass es heute anders ist.
Daran muss man arbeiten. Gerade das spricht für eine
Einheitskasse: Alle erhalten die gleichen, gesetzlich
vorgegebenen Leistungen. Da gibt es wenig Ermessensspielraum,
höchstens Interpretationsspielraum.
00:25:46 Jenny Du hast gesagt, die Idee ist nicht neu, man hat
viel darüber abgestimmt. Im letztjährigen Krebsversorgungsmonitor
sahen wir: Die Zustimmung in der Bevölkerung ist höher als
früher. Zusammen mit der Spitalplanung gehört die Einheitskasse
zu den Ideen, denen die Leute den grössten Kosteneffekt zutrauen.
Ist jetzt der richtige Zeitpunkt – was ist anders als früher?
00:26:20 Sarah Ich kenne viele, die früher Nein gestimmt haben
und jetzt sagen: Jetzt reicht es. Mit den Löhnen, mit der
Selbstbedienungsmentalität gewisser CEOs und Spitzen der
Krankenkassen – nicht aller – wächst der Unmut. Dazu kommt die
Macht der Kassen, Leistungen zu verweigern. Das empfinden viele
als Willkür: Das kann es nicht sein. Warum über 40 Krankenkassen,
wenn alle das Gleiche zahlen müssen? Da hat sich etwas verändert
– auch bei sehr liberalen Leuten, die heute sagen: Im
OKP-Bereich, selbstverständlich – das ist gesetzlich vorgegeben.
Dieser Wandel bestätigt mich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt
ist. Aber nochmals: Eine Einheitskasse ist richtig und wichtig,
löst aber nicht alle Probleme.
00:27:32 Lukas Wir haben die grossen Fragen des Systems
angediskutiert: Prävention – eher Richtung Bundeszuständigkeit,
die du forderst. Psychiatrische Versorgung – wo genau hinschauen.
Mehr Daten, andere Finanzierungswege – vielleicht ein anderes
Kopfprämiensystem. Wir haben die Kassen diskutiert, Verfassungs-
und Gesetzesstufe, neue Zuständigkeiten des Bundes. Am Schluss
setzt sich oft die bürgerliche Mehrheit durch, mit
föderalistischen Argumenten. Wie schlägst du die Brücke, um diese
Mehrheit zu erreichen?
00:28:30 Sarah Seit Corona ist vielen klar geworden, dass
Gesundheit an der Kantonsgrenze nicht Halt macht. Gewisse Dinge
gehören auf Bundesebene. Ein Beispiel: Interkantonale
Spitalplanung. Dazu habe ich 2021 einen Vorstoss gemacht. Niemand
von den Bürgerlichen hat unterschrieben; SP und GLP haben
unterstützt. Heute ist es im Ständerat mehrheitsfähig: Mit 40 zu
2 Stimmen – gegen die eigenen Kantone – wurde eine Motion
überwiesen. Dinge, die früher aus föderalistischen Gründen nicht
mehrheitsfähig waren, werden im Gesundheitswesen langsam
mehrheitsfähig. Der Druck steigt: Fachkräftemangel, Kosten, es
drückt den Menschen im Portemonnaie. Die Situation hat sich
geändert – dadurch sind heute Dinge möglich, die vor zehn Jahren
nicht möglich waren.
00:29:32 Lukas Ein Thema, das vielleicht noch nicht so
politisiert ist, ist Prävention; die psychiatrische Versorgung,
wo wir vielleicht mehr Probleme haben, als wir meinen. Wir haben
diskutiert, wie die Finanzierung sein soll. Wir haben die
Einheitskrankenkasse und die Verfassungsvorschläge der SP
besprochen. Es bleibt viel zu diskutieren. Danke für die
politische Einschätzung, danke für den Besuch – und viel Erfolg
auf dem weiteren Weg.
00:29:59 Sarah Danke vielmals für die Einladung.
00:30:00 Lukas Jenny, vielleicht ist die Bevölkerung in diesem
Punkt fast schon weiter als die Politik. Viele wünschen sich mehr
Koordination und neue Ideen, um die Kosten zu senken.
00:30:12 Jenny Aus Sicht der Bevölkerung ist der Problemdruck da.
Interessant ist, dass gewisse Ideen, die früher kaum
mehrheitsfähig waren, heute offener diskutiert werden. Ich bin
gespannt, ob sich die Bevölkerung bei Abstimmungen eher für einen
Systemwechsel ausspricht oder für inkrementelle Veränderungen am
jetzigen System. Es bleibt spannend.
00:30:40 Lukas Ob es solidarischer oder freiheitlicher wird, wird
sich zeigen. Politisierung zeichnet sich aber ab.
00:30:47 Jenny Auf jeden Fall. Wer es genau wissen möchte: Alle
Details zu den genannten Studien findet ihr unten in der
Beschreibung.
Mehr
12.11.2025
26 Minuten
Digitalisierung im Gesundheitswesen – mit Katrin Crameri
(Fachleiterin DigiSanté, Co-Abteilungsleiterin Digitale
Transformation beim BAG)
EPD, E-Rezept, Praxisinformationssysteme: Wo es heute hakt – und
wie es besser wird. Lukas Golder und Jenny Roberts sprechen mit
Katrin Crameri über den Gesundheitsdatenraum: welche Basisdienste
der Bund aufbaut, welche Standard- und Interoperabilitätsvorgaben
kommen und warum mittelfristig auch gesetzliche Verbindlichkeit
nötig ist – sie schafft Investitionssicherheit für
Softwareanbieter und entlastet Fachpersonen. Konkrete
Anwendungsfälle (E-Rezept, Medikationsplan,
Spitalaustrittsbericht) zeigen, wie weniger Doppelerfassung und
weniger Medienbrüche zu mehr Patientensicherheit führen.
Im Podcast erwähnte Studien:
Swiss eHealth Barometer 2025
Transkript zur Episode
00:00:12 Lukas Ja Jenny, heute haben wir ein Thema, bei dem ich,
eigentlich seitdem ich mich darum kümmere, auch bei gfs.bern,
viel Hoffnung drin habe. Aber manchmal ist es fast ein bisschen
hoffnungslos. Das Thema ist Digitalisierung im Gesundheitswesen.
Meine Hoffnung zum Beispiel ins EPD hat sich ein bisschen
zerschlagen. Ich bin schon beim Onboarding-Prozess irgendwie
nicht mehr weitergekommen. Da hat's mich immer rausgeschmissen in
diesem Prozess. Ich habe nicht einmal ein EPD. Ich habe das
Gefühl, die Schweiz ist hinten drin, wir kommen nicht vorwärts.
00:00:37 Jenny Also ich würde fast erwarten heutzutage, dass das
meiste digital läuft im Gesundheitswesen. Vielleicht liegt das
auch an meiner Generation. Aber ich kriege tatsächlich nicht so
wahnsinnig viel davon mit. Also ich habe das Gefühl, es gibt
schon noch viele Bereiche, wo man da Luft nach oben hat. Und ich
kenne jetzt eher wenig Beispiele von Sachen im Gesundheitswesen,
die schon rein digital ablaufen.
00:01:00 Lukas Ich glaube, dieser Eindruck von dir täuscht nicht.
Wir haben aber jetzt eine Person, die geeignet ist, um das Thema
nochmal ganz neu aufzurollen, um das Thema nochmal neu anzupacken
und zu diskutieren. Das ist Kathrin Crameri. Sie ist die
Fachleiterin von DigiSanté und Co-Abteilungsleiterin digitale
Transformation beim Bundesamt für Gesundheit. Herzlich
willkommen. Und wieso ausgerechnet die Digitalisierung in diesem
Schweizer Gesundheitswesen, das so kompliziert funktioniert?
00:01:27 Katrin Also der digitale Wandel, der vollzieht sich
heute ja schon in allen unseren Lebensbereichen. Und die Frage
ist doch eigentlich nur, inwiefern wollen wir ihn aktiv
mitgestalten und ausrichten? Also ausrichten so, dass er
einerseits mit den Werten und Prinzipien unserer Gesellschaft
vereinbar ist und andererseits aber auch so, dass die
entstehenden digitalen Lösungen unseren Bedürfnissen, unseren
Erwartungen auch tatsächlich entsprechen und für uns als
hilfreich wahrgenommen werden. Im Gesundheitswesen ist das so,
dass ja hauptsächlich die Patientinnen und Patienten oder
Bürgerinnen und Bürger von diesem digitalen Wandel profitieren
sollen. Vor allem mit Blick auf eine noch bessere
Gesundheitsversorgung oder noch bessere Prävention. Aber auch zum
Beispiel mit Blick auf eine höhere Patientensicherheit.
Gleichzeitig sollen ja aber auch unsere Gesundheitsfachpersonen
und andere Akteure, die im Feld aktiv sind, durch die
Effizienzsteigerung, die wir durch Digitalisierung ins System
bringen, profitieren. Ihre Arbeit soll erleichtert werden. Wir
wollen, dass sie wieder Zeit haben, sich um die Patientinnen und
Patienten zu kümmern und nicht so viel Computerarbeit leisten
müssen, nicht so viel administrativen Overhead haben, weil die
Computer ihnen die Arbeit abnehmen, wenn wir das sauber
digitalisiert haben.
00:02:43 Lukas Jetzt ist die Schweiz ein bisschen im Hintertreff,
oder?
00:02:44 Jenny Ja, also eben, du sprichst es ja schon an, aber
Digitalisierung, das passiert sowieso in den Schweizern. Wir
wissen, wie du auch sagst, Lukas, aus den Daten vom
eHealth-Barometer, die Bevölkerung ist sehr offen für
Digitalisierung, auch im Gesundheitswesen, aber aktuell hat nur
so ein Viertel das Gefühl, dass wir da schon weit vorgeschritten
sind. Hast du auch den Eindruck?
00:03:03 Katrin Ja, ich habe leider auch den Eindruck, das ist
sicher so, dass die Schweiz in vielen Bereichen schon sehr gut
digitalisiert ist. Also wir haben etliche wirklich gute, wirksame
digitale Lösungen am Start. Man denkt natürlich auch an die
heutigen Technologien im Spital oder wie wir behandelt werden.
Das ist ja alles digital, diese Roboter, die es dort gibt und die
Medizinsysteme. Aber es ist tatsächlich so, dass diese digitalen
Lösungen, die bestehen, ganz schlecht miteinander vernetzt sind.
Und deswegen figurieren wir auch auf den untersten Ranglisten
dieser E-Health oder Readiness-Indizes, weil eben diese fehlende
Vernetzung wirklich das Problem ist, dass der Mehrwert der
Digitalisierung auch bei den Leuten ankommt. Bei den Patienten
natürlich auch am Ende der Kette, aber vor allem auch bei den
Gesundheitsfachpersonen, die das eher als mühsam und aufwendig
empfinden. Wir sprechen da von Silo-Lösungen. Also Silo-Lösungen
sind Lösungen, die in einem bestimmten Setting sehr gut
funktionieren, aber sobald man über das Setting rausgeht,
funktionieren sie schon wieder nicht mehr. Ein Beispiel wäre, ich
kriege ein elektronisches Rezept auf mein Smartphone geschickt
und es gibt aber jetzt nur ganz spezielle, ganz spezifische
Apotheken, wo ich das einlösen kann. Wenn ich nicht neben so
einer Apotheke wohne, ist der Mehrwert von so einem
elektronischen Rezept für mich nicht vorhanden. Anderes Beispiel
ist, dass diese Praxisinformationssysteme, also die IT-Systeme,
die die Patientendaten managen in den Praxen oder auch in den
Kliniken, dass diese Informationssysteme nicht fähig sind,
Informationen untereinander auszutauschen. Das heisst, die passen
nicht zusammen. Das heisst, es ist immer bei zum Beispiel einer
Überweisung von meiner Hausärztin, die mich ins Spital überweist,
muss immer händisch dazu getan werden, eine E-Mail zu öffnen,
dort Dokumente anzuhängen, PDFs anzuhängen, das dann zu schicken.
Und die andere Person, die es empfängt, die macht diese PDFs auf
und tippt daraus die Informationen in ihr Informationssystem ab.
Redundant, ineffizient und wir sind im 2025 und eigentlich
könnten wir das viel besser. Also diese Vernetzung dieser Systeme
hinzukriegen, dass sie miteinander kommunizieren und das
automatisiert werden kann. Das ist das Stichwort, oder? Dass
Computer die Arbeit abnehmen, die die Menschen im Moment noch
machen.
00:05:19 Lukas Von Software zu Software interagieren und jetzt
kommt der grosse Hammer, jetzt haben wir 390 Millionen Franken
für DigiSanté. Ein Programm, das sehr viel vereinen will und
genau in diesem Kern bei diesem Problem anpacken will. Was
passiert jetzt mit diesem Programm?
00:05:37 Katrin Also, die DigiSanté hat diesen
Verpflichtungskredit bekommen, oder? 390 Millionen Franken. Das
ist wie zusätzliches Geld, was der Bund jetzt investiert in ein
Programm, was die Schaffung eines digitalen, effizienten,
patientenorientierten, vernetzten Gesundheitswesens nach vorne
bringen soll oder. Da Schwung reinbringen soll. Einerseits haben
wir die Aufgabe jetzt dort auch Dinge zu entwickeln, neu zu
entwickeln, wie zum Beispiel... digitale Lösungen, die wir in der
Bundesverwaltung im Einsatz haben oder wo die Leute draussen
Daten reinliefern müssen, die bei uns ankommen müssen. Dort muss
harmonisiert werden. Wir wollen das Leben auch für die Personen,
die beim BAG Daten eingeben müssen, aufgrund von irgendeiner
gesetzlichen Grundlage erleichtern. Und diese Harmonisierung,
also diese Anforderungen an, wie können wir in irgendeiner Form
so normieren, dass wir zu einem effizienteren Arbeiten kommen.
Genau diese Anforderungen wollen wir natürlich auch für das
gesamte Gesundheitswesen formulieren. Und das machen wir nicht
alleine. Wir haben dazu einerseits andere Vertreter der
Bundesverwaltung mit an Bord bei DigiSanté. DigiSanté steht in
der Verantwortung des Eidgenössischen Departments des Inneren.
Aber wir haben in Ausführung, macht das nicht nur das BRG,
sondern auch das BFS, das Bundesamt für Statistik. Wir haben das
Bundesamt für Informatik und Telekommunikation, BIT an Bord. Wir
haben die Eidgenössische Finanzverwaltung an Bord, die
Bundeskanzlei. Also wir sitzen da alle zusammen, inklusive der
Kantone. Und wichtigerweise haben wir entschieden, dass wir die
Branche, also die Branchenvertreter der Gesundheitsorganisationen
da draussen, ganz eng in dieses Programm mit einbinden. Wir haben
45 Vertreter in diesem Gremium jetzt vertreten und wir arbeiten
gemeinsam mit denen. Wir können das als Bundesverwaltung
natürlich nicht alleine stemmen. Wir gehen jetzt in Vorleistung.
Die Grundinvestition ist jetzt mal gegeben mit diesen 390
Millionen. Aber wir sind natürlich darauf angewiesen, dass das,
was wir jetzt da bauen mit DigiSanté, dass das skaliert, dass das
in der Branche tatsächlich aufgenommen wird, dass wir alle
zusammen in die gleiche Richtung gehen. Dass die Jenny natürlich
nachher nicht mehr das Gefühl hat, dass da einzelne Lösungen
sind, aber irgendwie geht sich das nicht aus. Da ist keine
Vernetzung da, sondern ich muss hier das machen und dort was
anderes machen. Und ich frage mich, warum können die Systeme
nicht untereinander kommunizieren, dass ich das nicht zweimal
machen muss.
00:07:59 Lukas Jetzt haben wir oft den Eindruck gehabt, wenn man
so über DigiSanté diskutiert hat, wo es halt recht auch um
abstrakte Sachen geht. Ja, jetzt haben wir eHealth, jetzt haben
wir die Diskussion um das EPD, das Patientendossier, das irgendwo
im Moment im Parlament steckt. Wir hatten eine Diskussion über
Fax, wo man irgendwie Grippenmeldungen plötzlich auch Covid
müssen wir... Es hat sehr viele Diskussionen gegeben. Wo gliedert
sich das an? Manchmal hatte ich das Gefühl, das ist wie eine
Architektur, die man jetzt noch drüber legt und darunter ist die
Diskussion noch gar nicht fertig.
00:08:31 Katrin Genau. Also E-Health oder wenn wir uns um das EPD
kümmern oder auch um andere Beispiele sind E-Health zum Beispiel
die Telemedizin, also die Ferndiagnose über Video und so weiter.
Das sind alles digitale Abbildungen der heute bestehenden
Gesundheitsprozesse oder der Prozesse im Gesundheitswesen. Das
heisst digitale Unterstützungen der Prozesse, die es ohnehin
schon gibt. Die digitale Transformation hingegen, die liegt nicht
oben drüber. Wir setzen das Fundament jetzt sozusagen. Also der
Grund, warum es so viele heterogene Silo-Lösungen gibt, ist, dass
bis jetzt niemand Vorgaben gemacht hat. Jeder konnte so ein
bisschen machen, was er wollte. Hat auch, wie gesagt, tolle
Geschäftsmodelle, die da zutage kamen und die auch funktionieren,
aber eben nicht im Zusammenspiel funktionieren. Und was wir mit
der digitalen Transformation, mit DigiSanté jetzt vorhaben, ist,
das Grundgerüst so auszustatten, dass mal alle auf diesem
Fundament aufbauen können. Das heisst, wir werden im Rahmen von
dem grossen Projekt im Gesundheitsdatenraum in DigiSanté Services
bauen. Der Bund stellt sich in die Verantwortung, Services zu
bauen, Infrastrukturkomponenten zur Verfügung zu stellen und zwar
für alle. Das heisst, alle können die nutzen, nicht jeder muss
das Rad nochmal erfinden. Wir nehmen da auch ganz viel Redundanz
aus dem System, indem der Bund sagt, wir stellen das einmal für
alle zur Verfügung und alle können sich da andocken. Gleichzeitig
geht dieses Andocken nur, wenn wir Standardvorgaben machen oder
wenn wir sagen, das ist der Stecker, also... Wenn man das jetzt
mit so einem Ladekabel vergleicht, das muss alles USB-C sein. Ihr
könnt da nicht mit 24 verschiedenen Adaptern kommen oder Steckern
kommen, sonst funktioniert das nicht mit euren Systemen,
aufbauend auf diesem Grundgerüst, sondern es muss sich ausgehen.
Wir werden Standardvorgaben machen, Interoperabilitätsvorgaben
machen oder welche Kommunikationskanäle zwischen den Systemen
müssen bespielt werden können, damit dieser Austausch möglich
ist. Und auf diesem Grundgerüst dann... kann natürlich die
Branche mit allen Lösungen, die da kommen, Applikationen,
Systemen, modulieren und sagen, jetzt gibt es ein grosses Ganzes.
Weil jetzt kann endlich das elektronische Rezept, was ich
bekommen habe, tatsächlich in allen Apotheken eingelöst werden.
Oder ich kann tatsächlich das Patienteninformationssystem von
meiner niedergelassenen Ärztin kann tatsächlich mit dem anderen
automatisch Daten austauschen. Das passiert jetzt schon, dieser
Datenaustausch. Es ist auch jetzt schon alles elektronisch, aber
es sind wahnsinnig viele Medienbrüche im Spiel. Man muss eine
E-Mail aufmachen, man muss das System aufmachen, man muss aus dem
System was abtippen in ein anderes System, weil diese Vernetzung
nicht gegeben ist. Und das ist der Kern von DigiSanté.
00:11:10 Jenny Wir wissen ja auch aus der Befragung der
Gesundheitsfachpersonen, wie du so schon sagst, dass die meisten
vor allem viel Potenzial für Verbesserung sehen, wenn es um die
externe Vernetzung geht. Also z.B. zwischen Ärztinnen und Ärzten
im Spital, mit anderen Institutionen, oft mit Hebammen z.B. oder
mit Pflegeheimen. Wenn ich die richtig verstehe, ihr setzt
eigentlich genau dort an, dass das in Zukunft besser ausgesehen
wird für die Gesundheitspersonen in der Praxis.
00:11:37 Katrin Ja. Ganz genau. Also wir wollen wegkommen von
diesen zusätzlichen administrativen Belastungen, sage ich jetzt
mal. Also wenn man zum Beispiel zur Physiotherapeutin überwiesen
wird, wäre ja schön, würde dort gleich mit überwiesen werden. Was
ist eigentlich mein Problem? An was muss sie eigentlich arbeiten,
wenn ich zu ihr in die Therapie komme? Häufig geht das halt, da
kommt dann die Überweisung und dann geht man zur
Physiotherapeutin, die sagt, und was fehlt dir? Und ich sage, das
wäre ja schön, hätte ich dann noch das CT oder das MRI oder was
auch immer, gerade dort, oder? Und das ist so ein bisschen die
Idee dieses Gesundheitsdatenraums, dass wir diese B2B, diese
Business to Business, also jetzt von meiner Hausärztin zur
Physiotherapeutin oder ins Spital oder zu Spitex, dass wir diese
Prozesse so nahtlos hinkriegen, so medienbruchfrei hinkriegen,
dass die Informationen, die einmal ohnehin schon eingegeben
wurden in irgendeinem System, nicht nochmal eingegeben werden,
sondern tatsächlich von Computer zu Computer ausgetauscht werden.
Und dann hat man eben diese Probleme ausserhalb von seiner
Organisation, dass sie mit denen nicht gut kommunizieren kann,
immer noch mal das Telefon machen muss, immer noch mal nachfragen
muss. Das hätten wir damit eliminiert und können recht viel
Effizienz dadurch ins System bringen.
00:12:46 Lukas Und hoffentlich auch Effektivität. Das Stichwort
ist ja integrierte Versorgung. Das heisst, dass es zwischen den
verschiedenen Akteuren auch in der richtigen Qualität der Daten
fliessen kann und dass man die Informationen auch als
Patientinnen und Patienten hat und immer ein wenig mitverfolgen
kann, wie der Pfad weitergeht, wenn ich z.B. in die
Physiotherapie wechsle. Das wäre ja schön, würde auch ein wenig
Qualität geben. Was aber jetzt schon angesprochen ist, sind die
45 Organisationen, also die verschiedensten Leistungserbringer,
die vielfach einfach für ihre eigenen Interessen geschaut haben.
Jetzt braucht es eben ein neues Umdenken, es müssen Daten
irgendwo eingegeben werden, die dann wirklich direkt,
transparent, vollständig am anderen Ort gelesen werden können.
Und mich dünkt schon noch, dass das Vertrauen noch nicht
grundlegend zwischen Akteuren vorhanden ist. Was kann das System,
was kann DigiSanté hier beitragen, dass das Vertrauen gestärkt
wird zwischen den Akteuren?
00:13:43 Katrin Es ist ganz wichtig anzumerken, dass die
DigiSanté nicht die Regeln ändert, oder? Es werden jetzt nicht,
es kriegen jetzt nicht plötzlich Leute Zugang zu Daten oder
Institutionen Zugang zu Daten, die die vorher nicht sehen
durften. Die Regeln bleiben die gleichen. Wir versuchen nur die
Grundlage zu schaffen, dass der digitale Austausch besser
funktioniert. Das heisst, man muss im Prinzip keine Sorge haben,
dass DigiSanté jetzt alles den gläsernen Patienten schafft und
diese Daten für alle einsehbar sind. Die Prozesse dass Daten von
A nach B geschickt werden. Die bleiben bestehen. Sie werden nur
nicht mehr geschickt von Hand per E-Mail, sondern sie können im
System ausgetauscht werden. Dieser Gesundheitsdatenraum hat dafür
auch eine Governance in place, wo wir tatsächlich sagen, wir
definieren, wer darf was, zu welcher Zeit, unter welchen
Bedingungen. Wir tracken, wir loggen. Das heisst, jeder Zugriff
auf Daten, jeder Transfer von Daten wird ganz genau
nachvollziehbar sein. Und eben auch insofern sehr transparent für
mich als Patientin. Vorher wusste ich natürlich nicht, wenn meine
Hausärztin mich überweist und dort eine E-Mail schickt mit lauter
Dokumenten, die kam nicht cc zu mir, oder? Jetzt habe ich die
Möglichkeit, über diesen Gesundheitsdatenraum zu sagen, ich hätte
noch gerne eine Kopie davon ins EPD. Das EPD ist ein integraler
Bestandteil dieses Gesundheitsdatenraums, wo normalerweise B2B
kommuniziert wird. Aber ich als Patientin habe immer die
Möglichkeit, weil die Daten ja elektronisch, digital vorhanden
sind, dass ich diese Kopie auch bei mir noch habe. Das stärkt
natürlich... das Empowerment der Patientinnen und Patienten, dass
die sich mehr beteiligen können an diesen Prozessen, die rund um
sie herum in der Gesundheitsversorgung passieren. Dass sie eben
auch diese Daten haben und mit denen auch woanders hingehen
können, was wir heute ja auch häufig vermissen. Und diese
Prozesse haben im Prinzip einfach dann für alle einen gewissen
Gewinn. Die Gesundheitsfachpersonen bekommen mehr Effizienz ins
System. Die Patientinnen und Patienten kriegen im Prinzip viel
mehr mit. Also das heisst, die Prozesse werden transparenter. Und
dadurch, dass wir das jetzt in einer gesicherten Umgebung machen,
ist natürlich auch die Sicherheit viel grösser diesen Daten
gegenüber, wie wenn man eben zum Beispiel das dann über private
E-Mail-Accounts von A nach B schickt, was ja heute durchaus immer
noch passiert. Oder dass wir sagen, das ist alles in einem
kontrollierten, sicheren Umfeld, wo Höchststandards an
Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet werden.
00:16:11 Jenny Ich glaube, du sprichst einen Punkt an, der auch
für die Bevölkerung extrem wichtig ist, die Vertrauensfrage. Und
dort finde ich, es ist ganz spannend zu sehen, in den Daten
einerseits das Grundsatzvertrauen ist um in der Bevölkerung oder
zumindest bei einer Mehrheit, dass man die eigenen
Gesundheitsdaten digital speichert. Hingegen, man sieht noch sehr
viele Unterschiede, je nachdem, welcher Akteur es geht. Und die
hast du jetzt zum Teil auch schon erwähnt. Aber die Leute schauen
es halt anders an. Je nachdem, ob es darum geht, teile ich meine
Gesundheitsdaten mit behandelnden Ärzten und Ärztinnen oder mit
anderen Institutionen, beispielsweise Krankenkassen oder auch
private Unternehmen, ist das Vertrauen halt einfach weniger hoch.
Wie kann man am besten mit dieser Herausforderung umgehen?
00:16:52 Katrin Also im Prinzip ist es ja heute auch im EPD schon
so geregelt, dass ich entscheiden darf als Patientin, wer darf,
mit wem sollen die Daten geteilt werden, oder? Und die DigiSanté
macht im Prinzip auch nichts anderes, als die bestehenden
Erlaubnisse sozusagen zu respektieren, was darf die Kasse sehen,
was darf die Ärztin sehen, was darf der Physiotherapeut sehen,
etc. Wir machen es nur expliziter. Also das heisst, wir haben ein
System, wo ganz genaue Regeln greifen und wo dann die digitalen
Datenflüsse zwischen denen, die die Erlaubnis haben, die Daten zu
sehen, auch gesehen werden können. Das muss man der Bevölkerung
natürlich klar machen. Also sie müssen uns insofern vertrauen
oder auch ihren Gesundheitsfachpersonen vertrauen, zu sagen, dass
da jetzt nicht eine grosse Änderung des Systems kommt, sondern
dass wir die gleichen Prozesse, die heute schon laufen, einfach
auf digital umschalten. Wenn wir um die Weiterverwendung dieser
Gesundheitsdaten zum Beispiel zu Forschungszwecken reden, oder?
Das ist wieder was anderes. Aber dort werden, und das ist auch
heute schon so, entsprechend der gesetzlichen Vorgaben, dort
werden die Daten anonymisiert. Das heisst, die Daten, die
weitergegeben werden, zum Beispiel für Forschungsprojekte, da
können auch Versicherer mit beteiligt sein. In diesen Datensätzen
kann ich mich als individuellen Patienten nicht wiederfinden,
sondern das ist einfach eine Aggregation von Daten, wo ich als
Einzelperson nicht mehr erkennbar bin. Die sind anonymisiert.
00:18:16 Lukas Wenn es in den Alltag geht von diesen Lösungen,
von den digital transformierten Lösungen, die alle vernetzt
miteinander zusammenarbeiten können, dann ist eine Grundangst,
vor allem von den Akteuren, vor allem von den Ärztinnen und
Ärzten, dass man im Prinzip noch weitere administrative Aufwände
hat, weil man muss die Daten in der gewünschten Qualität wirklich
aufbereiten. Und wir wissen, dass gerade sie, aber auch andere
Akteure extrem unter administrativer Last leiden. Es muss nicht
unbedingt eine behördliche Vorgabe sein, es kann beispielsweise
eine Krankenkassennachfrage sein. Aber das ist die grosse Angst,
die ich spüre, dass man neue Softwarelösungen kaufen muss, neue
Antockungslösungen, also Schnittstellen bauen muss von sich aus
und Daten aufwendig eingeben muss. Wie kann das Programm dort
entgegnen?
00:19:04 Katrin DigiSanté hat ja eine Laufzeit von zehn Jahren.
Das heisst, wir reformieren jetzt auch nicht das gesamte System
und sagen dann, morgen muss jeder ein neues Software-System
kaufen, was eben zum Beispiel diese Schnittstellen bewirtschaften
kann, oder? Sondern wir versuchen, schrittweise vorzugehen, wie
das auch sehr erfolgreiche andere europäische Länder gemacht
haben, die jetzt viel, viel weiter sind als wir in diesem
E-Health-Bereich, dass wir sagen, wir sprechen vor allem ja auch
die Systemhersteller an, gar nicht die zum Beispiel
niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, die mit ihrem System
hoffentlich geht so zufrieden sind und sagen, ich möchte das
unbedingt nicht tauschen, mich geht es gerade daran gewöhnt,
sondern wir versuchen, dass die Systemhersteller mit uns
gemeinsam diesen Gedanken gerichtet, alle in die gleiche Richtung
gehen, vorwärts entwickeln, zu sagen, mein System, die entwickeln
das ja permanent weiter, ihre Software-Systeme. Nur bis jetzt in
alle Richtungen und nicht in eine Richtung. Die Digisanté
versucht, die Richtung vorzugeben. Das heisst, wir versuchen mit
denen gemeinsam zu entscheiden, welches ist die gute Richtung,
was sind die Standards, die erfüllt werden müssen, die diese
Systeme liefern können. Und dann wird die Weiterentwicklung
dieser Systeme in diese Richtung vorangetrieben. Und irgendwann
kommen wir natürlich an den Punkt, wo wir sagen, jetzt ist es
schön fertig mit der Freiwilligkeit. Dann legiferieren wir das
natürlich auch, giessen das in Gesetze. Und das ist ganz wichtig,
da geht es nicht um Kontrollen, oder in irgendeiner Form, um die
Leute zu bevormunden, sondern es geht darum, dass diese
Softwareentwickler ja auch eine Investitionssicherheit brauchen.
Wenn ich denen heute sage, das ist der Standard, den dein System
bedienen muss und ich ihnen morgen sage, das ist doch ein ganz
anderer, dann können die natürlich nicht planen, dann können die
nicht effizient ihre Dinge nach vorne bringen. Also brauchen die
Planungssicherheit, Investitionssicherheit, indem sich der Bund
und die Branchenmitglieder committen und sagen, in die Richtung
wollen wir gehen und wir schreiben das auch in ein Gesetz, sodass
ihr wisst, für die nächsten zehn Jahre ist das die Richtung. Ihr
müsst keine Angst haben, dass der Wind übermorgen wieder dreht.
00:20:56 Jenny Um ein paar konkrete Beispiele aus dem Alltag der
Gesundheitsfachpersonen zu nennen. Wir wissen, das ist für die
eine sehr hohe Priorität, unter anderem, dass man in Zukunft
digital Rezepte und Medikationsdaten austauschen kann oder dass
das auch eine hohe Priorität hat, was Laborberichte,
Austrittsberichte usw. anbelangt. Könnt ihr also hoffen in
Zukunft, dass die Sachen schnell besser werden, dank dem Programm
DigiSanté?
00:21:21 Katrin Richtig, das ist so. Also wir haben ja natürlich
auch mit ganz vielen Leuten vorher gesprochen, bevor wir uns auch
so auf die Prioritäten geeinigt haben, gemeinsam mit unserem
Branchengremium. Und dort kommt immer wieder der
E-Medikationsprozess oder der steht ganz oben auf der Liste. Es
gibt auch dort super Lösungen am Start, sind aber auch
Insellösungen, Silolösungen.
00:21:40 Lukas Das Epic, das zum Beispiel jetzt die Inselgruppe
eingeführt hat, die haben eine Lösung, wo das zum Beispiel auch
direkt in der Software möglich ist, ohne dass irgendwo der Staat
da mitmacht, oder?
00:21:50 Katrin Ganz genau. Epic hat das super gelöst, oder? Das
ist Ende zu Ende der ganzen Medikationsprozess durchgedacht. Nur
wenn ich jetzt von einem Hausarzt komme, wo ich, also Epic ist an
der Insel, oder? Und im Lux noch und vielleicht noch in zwei,
drei weiteren Spitälern in der Schweiz in Zukunft. Aber meine
Hausärztin hat nicht Epic. Also das heisst, diese Lösung
funktioniert dort, wo sie implementiert, ist sehr gut. Aber an
den Schnittstellen und darüber hinaus, dann halt schon wieder
nicht mehr. Das heisst, wir brauchen eine Lösung, die
funktioniert. Oder wir brauchen mehrere Lösungen, wir können ganz
viele Lösungen haben, aber die müssen im Zusammenspiel
funktionieren. Das heisst, das Rezept, was die Insel mir
elektronisch ausstellt, wenn ich das Spital verlasse, muss in der
anderen Apotheke einlösbar sein. Das Rezept, was ich von meiner
niedergelassenen Ärztin bekomme, muss eben auch dann im Spital
als erkannt werden auf meinem Medikationsplan, das ist der
Eintrag, dass mit diesen Medikamenten oder diese Medikamente
nehme ich, wenn ich ins Spital eingeliefert werde. Das muss
gesehen werden, oder? Und das meinen wir mit, die Systeme müssen
miteinander kommunizieren können. Dafür braucht es nicht ein
System, um Himmels Willen. Also wir wollen nicht, dass alle
dasselbe System benutzen, sondern wir wollen, dass die
Vielfältigkeit am Markt bestehen bleibt, aber diese Systeme sich
nach zentralen Vorgaben richten, die in diesem
Gesundheitsdatenraum angewendet werden und eben auch eingefordert
werden.
00:23:14 Lukas Ich habe das Gefühl, es ist eben gleichzeitig die
digitale Transformation auf einem Weg, aber wie immer auch in
solchen Prozessen der Kulturwandel. Was mir optimistisch stimmt,
sind eben die 45, die mit eingehen können, mit einzahlen auf das,
was in Zukunft kommt, dass der Kulturwandel auch stattfindet,
weil am Schluss Sie soll auch Bürgerinnen und Bürger gestärkt
werden, sie soll mehr Kompetenz haben, sie soll mehr verstehen,
was mit ihnen passiert. Sie gibt sich also nicht mehr einfach in
die Abhängigkeit, zum Beispiel von Hausärztinnen und Hausärzten.
Also da kann man gewissen Optimismus haben, dass das gleichzeitig
passiert. Aber trotzdem, am Schluss muss ja, der Nutzen, du hast
es am Anfang gesagt, irgendwo bei den Bürgerinnen und Bürgern
ankommen, bei den Leuten, die Patientinnen und Patienten sind
oder werden. Was ist deine quasi finale Botschaft von diesem
Gespräch an die Bürgerinnen und Bürger? Was versprichst du ihnen?
00:24:01 Katrin Also wir versprechen mit DigiSanté jetzt dieses
Grundgerüst so zu bauen, dass die E-Health-Lösungen, die jetzt im
Moment schon die Gesundheitsversorgung digital unterstützen und
hoffentlich auch verbessern, dass die überhaupt möglich sind,
dass die skalieren können, dass die vernetzt national
funktionieren, was eben Jenny vorher gesagt hat, viele nicht tun.
Und vor allem versprechen wir mit dem, was wir tun, dass wir auch
zukünftige innovative Lösungen entwickeln, durch diese fundierte
digitale Basis, die wir jetzt bauen, dass wir auch zukünftige
Innovationen ins System einbringen können. Das ist ein bisschen
so, wie wenn ich immer noch einen VHS-Kassettenrekorder zu Hause
habe und mich wundere, dass ich die Filme der Streamingdienste
nicht abspielen kann. Wir müssen uns weiterentwickeln, um von den
neuen Innovationen zu profitieren. Wir können nicht Neues auf
Altes aufsetzen. Das geht nicht. Auch mit Blick auf die
künstliche Intelligenz, die in aller Munde ist jetzt. KI kann uns
hier Arbeit abnehmen, kann den Gesundheitsfachpersonen Arbeit
abnehmen, kann den Patientinnen helfen, besser informiert zu
sein. Aber das funktioniert nur, wenn wir Systeme haben, wo wir
diese KI-Komponenten auch sinnvoll integrieren können, wo das
Grundgerüst schon steht, wo das digital schon etabliert ist. Und
nur so können wir auch in eine zukunftsorientierte
Gesundheitsversorgung gehen, die auch in Zukunft Mehrwert zum
Patienten bringt.
00:25:24 Lukas Katrin Crameri, eine leidenschaftliche Kämpferin
für den Boden zu bauen. Du nimmst sehr viel vor. Ich glaube, man
hat sich sehr viel vorgenommen, sehr viel Luft geholt. Ich hoffe,
du kannst die Luft behalten. Das hat meine Hoffnung mindestens
gestärkt. Danke vielmals für das Gespräch, Katrin Crameri, und
für den Besuch bei uns. Danke euch. Ja, Jenny. Jetzt, als wir da
so gesprochen haben, du hast ja gesagt, du wünschst dir irgendwie
ein bisschen mehr und ein bisschen mehr Energie, ein bisschen
mehr Lösungen, die nachher am Schluss für dich auch einfacher
sind. Hast du auch ein bisschen Hoffnung gefasst heute?
00:25:55 Jenny Ja, also ich merke, es sind sicher noch viele
Baustellen rum, oder? Also es ist ein schwieriger Prozess, es ist
ein komplexer Prozess, aber es gibt mir schon ein bisschen
Hoffnung, dass man sieht, hey, man fängt jetzt an, wirklich den
Boden zu schaffen, dass man von dort auch hochskalieren kann. Und
in dem Sinn habe ich schon die Hoffnung in ein paar Jahren, dass
wir da deutlich weiter sein werden, als wir es heute sind.
00:26:13 Lukas Haben wir ein bisschen Hoffnung gefasst. Danke
vielmals.
00:26:15 Jenny Genau. Und wer es genauer wissen möchte, die
aktuellen Resultate von eHealth-Parametern sind online aufrufbar
für alle, die es genau nachlesen möchten.
Mehr
Über diesen Podcast
gfs.echo ist der Politik-Podcast von gfs.bern.
In 25–35 Minuten sprechen Lukas Golder und Jenny Roberts aus
seinem Team mit Gästen aus Verwaltung, Verbänden, Parteien und
NGOs. Locker im Ton, präzise in der Sache: Fakten einordnen,
Annahmen testen, Konsequenzen für die Praxis benennen. Jede Folge
liefert Zahlen aus aktuellen Studien, eine klare Einordnung und
einen Blick nach vorn. Wöchentlich – als Video und
Audio.
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