Sarah Wyss, Nationalrätin: "Präventionspolitik lohnt sich für PolitikerInnen nicht"

Sarah Wyss, Nationalrätin: "Präventionspolitik lohnt sich für PolitikerInnen nicht"

31 Minuten

Beschreibung

vor 2 Wochen

Prävention, Psychiatrie, Krankenkassen: Realitätscheck im
Schweizer Gesundheitswesen


Diese Woche haben Lukas Golder und Jenny Roberts Nationalrätin
Sarah Wyss zu Gast. Sie reden über: Warum Prävention chronisch
unterfinanziert bleibt und welche Anreize tatsächlich wirken. Wie
die Kinder- und Jugendpsychiatrie entlastet werden kann –
inklusive einer nüchternen Zwischenbilanz zum Anordnungsmodell.
Und ob über 40 Krankenkassen Effizienz schaffen oder vor allem
Verwaltung produzieren.


Im Podcast zitierte Studien:


Sorgenbarometer


Krebsversorgungsmonitor


Präventionsmonitor
Transkript zur Episode

00:00:02 Sprecher GFS Echo, der Podcast von GFS Bern. Mit Lukas
Golder und Jenny Roberts.


00:00:12 Lukas Herzlich willkommen zu GFS Echo, dem Podcast von
GFS Bern zu den wichtigsten und brennendsten Themen in der
Schweizer Politik. In dieser Staffel geht es um das
Gesundheitswesen insgesamt. Bei der Bevölkerung stehen häufig die
Kosten im Vordergrund. Heute reden wir aber mehr über die
Gesundheitsversorgung – vor allem die psychiatrische – und auf
der anderen Seite über Prävention. Ein Thema, das im politischen
System nicht so oft diskutiert wird.


00:00:41 Jenny Ja, da täuscht der Eindruck in Bezug auf die
Bevölkerung nicht. Wir wissen aus dem Präventionsmonitor, dass
die Leute in der Schweiz am ehesten auf der individuellen Ebene
denken, wenn es um Prävention geht: Ich ernähre mich etwas
gesünder, mache etwas Sport – solche Sachen. Und erst in zweiter
Linie denken wir an strukturelle, politische Massnahmen, wobei
die genauso wichtig wären.


00:01:04 Lukas Heute wird es politisch. Wir haben eine
Nationalrätin hier, die sowohl im Bereich Kosten – nämlich als
Präsidentin der finanzpolitischen Kommission – aber eben auch im
Bereich Gesundheitsversorgung tätig war, selber im Management in
der Psychiatrie, und in der Kommission, die sich um
Gesundheitsfragen kümmert. Nationalrätin Sarah Wyss von der SP,
herzlich willkommen.


00:01:25 Sarah Danke für die Einladung, ich freue mich darauf.


00:01:27 Lukas Bei der Prävention kann man fast sagen, es steht
ein Wunschtraum im Raum: dass man gleichzeitig die Kosten senken
und die Versorgung, die Gesundheit der Bevölkerung, verbessern
kann. Ist es ein Wunschtraum?


00:01:39 Sarah Ich glaube, die Prävention ist wirklich für die
Menschen da. Am Schluss wollen wir doch alle, dass die Menschen
nicht krank werden. Und was du, Jenny, gesagt hast, ist richtig:
Einerseits beginnt die Prävention im Alltag bei jedem. Aber man
muss den Menschen ein Rucksäckchen mitgeben, damit sie sich auch
so verhalten können. Dieses Rucksäckchen ist die institutionelle
– oder ein Teil der institutionellen – Prävention. Da fällt mir
auf: Beim Gesamtvolumen des Gesundheitswesens, also rund 90
Milliarden, geben wir gerade einmal 1,4% für Prävention aus. Für
die Verwaltung geben wir 4,4% aus. Für Prävention, die all diese
Kosten eigentlich reduzieren könnte, geben wir so wenig Geld aus.
Da sieht man, dass das Interesse an Prävention leider nicht so
gross ist. Vielleicht kann ich ausführen, warum. Alle sagen, die
Menschen sollen gesund bleiben, sollen gesund werden. Für jeden
einzelnen Leistungserbringer wäre das das Ziel. Aber das
Gesamtsystem lebt von Krankheit. Wenn Menschen nicht krank sind,
verdient fast niemand im Gesundheitswesen etwas. Das ist ein
Grundproblem unseres Finanzierungsmodells.


00:02:50 Lukas Aber da kommen die Kosten sehr schnell ins Spiel,
weil Prävention, so wie du es beschreibst, kostet natürlich. Wir
haben Screening-Programme, die zum Teil hinterfragt werden, und
man weiss nicht mehr, wer warum zahlen soll. Man weiss: Im
Prinzip muss man investieren, man soll mehr investieren. Wieso
sollten die Kosten runtergehen?


00:03:12 Sarah Die Kosten gehen nicht heute runter – das ist
vielleicht das Problem der Politik. Wenn wir heute
Vorsorgeuntersuchungen machen oder klassische Primärprävention,
etwa Plakatkampagnen, ist es nicht so, dass ich sofort gesund
werde oder heute nicht erkranke. Über eine längere Frist stärkt
das die psychische Gesundheit und beugt z. B.
Herz-Kreislauferkrankungen vor. Die Kosten werden viel später
eingespart. In der Politik ist man darauf gedrillt, möglichst
schnell einen Effekt zu sehen. Den sehen wir erst in 10, 20
Jahren. Die, die heute Politik machen, profitieren davon dann
nicht mehr. Darum ist es wichtig, mit Studien zu zeigen, wie
wirksam Prävention ist, damit man zumindest vom Kopf her sagt:
Dort müssen wir investieren, damit Menschen gesund bleiben.


00:04:08 Jenny Um die Sicht der Bevölkerung reinzubringen: Wir
wissen, dass drei Viertel der Schweizer Bevölkerung das Gefühl
haben, wenn wir mehr in Prävention investieren, könnten wir
Milliarden einsparen im Gesundheitswesen. Würdest du das
unterschreiben?


00:04:24 Sarah Ja, absolut. Es ist einfach nicht unmittelbar. Es
ist nicht so, dass wir heute investieren und das Geld heute
gleich wieder zurückkommt. Es geht über eine längere Zeit. Ein
anderer präventiver Ansatz ist etwa die Zuckerreduktion –
freiwillig oder nicht. Da weiss man, es hat einen Effekt auf die
Gesundheit. Das sind Massnahmen, die teilweise etwas kosten,
teilweise Vorgaben an die Industrie oder Anreize für die
Industrie sind. Das alles wird oft hinterfragt: Bei
Industrievorgaben heisst es, man solle nicht reinreden; gibt man
zusätzlich Geld aus für klassische Präventionsarbeit, fragt man:
Bringt das etwas? Ich sehe ja morgen nichts. Und schlussendlich
haben die Akteure – so toll sie sind – nicht unbedingt ein
Interesse daran, dass Prävention wirkt. Das macht mich im
Gesundheitswesen wirklich fertig. Alle, die einen
Gesundheitsberuf gelernt haben, wollen, dass es den Menschen
besser geht. Trotzdem ist unser Finanzierungssystem so, dass
niemand ein finanzielles Interesse daran hat. Das ist absurd.


00:05:44 Lukas Wenn man diesen Zustand – unter dem du offenbar
selber leidest – in Kontrast setzt zu einem System, das vernetzt
funktionieren soll, mit Akteuren, Kantonen, Bund: Nun reagiert
der Bund mit Strategien, mit Vorstössen. Was wünschst du dir in
diesem Bereich?


00:06:07 Sarah Wichtig ist, dass Kantone, Gemeinden, Bund und
alle Akteure zusammenarbeiten. Im Moment sind die Zuständigkeiten
fragmentiert, das ist schwierig. Wir wohnen heute oft nicht am
gleichen Ort, an dem wir arbeiten. Prävention muss
kantonsübergreifend sein. Ich wünsche mir Strategien, die mit
Expertinnen und Experten im Feld erarbeitet werden – und, falls
nötig, gesetzliche Grundlagen, z. B. für Verbote oder zusätzliche
Gelder. Da hakt es. Wir haben Strategien zu nichtübertragbaren
Krankheiten, Sucht, Krebs – diverse Strategien. Aber das
Parlament streicht dem Bund bzw. dem BAG das Geld zusammen. Wir
haben tolle wissenschaftliche Arbeit, aber die Umsetzung ist
nicht möglich, weil das Geld fehlt. Das ist absurd. Wir fordern
immer neue Strategien – aber eine Strategie nur auf dem Papier
nützt nichts. Wenn wir eine Strategie wollen, müssen wir sagen:
Das hat ein Preisschild, und es muss uns das Geld wert sein.


00:07:28 Jenny Ein anderer Punkt in der Präventionsstrategie
2040: Zusammenarbeit von Bund und Kantonen. In der Bevölkerung
gibt es Wohlwollen für so eine Strategie. Gleichzeitig ist
Prävention eher in der Kompetenz der Kantone. Bevormundet man die
Kantone nicht mit bundesweiten Strategien? Wie siehst du das?


00:08:03 Sarah Ich verstehe, dass es so wirken kann. Aber 24
verschiedene Präventionsstrategien machen keinen Sinn. Schon
wegen der Ressourcen für Erarbeitung, Monitoring und
Weiterverfolgung ist eine gemeinsame, übergreifende Strategie
sinnvoll, in die alle einbezogen sind. Uns fehlt aber eine
gesetzliche Grundlage für allgemeine Prävention auf nationaler
Ebene. Bei Krebs oder Suizid gibt es Grundlagen, aber vieles
fehlt. 2012 ist das Präventionsgesetz, wenn ich mich recht
erinnere, im Nationalrat an einer Stimme gescheitert. Im Moment
denkt man – etwa in der Schweizerischen Gesellschaft für
medizinische Wissenschaft – laut über ein Gesundheitsgesetz nach.
Wir müssen heute vieles über das Krankenversicherungsgesetz
regeln. Prävention setzt idealerweise dort an, wo man noch nicht
krank ist, mindestens die Primärprävention. Es wäre sinnvoll,
dass man dafür nicht zuerst eine Diagnose braucht. Instrumente
auf Bundesebene sind derzeit im Wesentlichen auf Strategien
beschränkt, mit wenigen Ausnahmen. Ich hoffe, dass ein
Gesundheitsgesetz kommt, in dem Gesundheit im Vordergrund steht –
nicht Krankheit.


00:09:25 Lukas Kommen wir zur direkten Versorgungssituation, mit
deiner Erfahrung im Management psychiatrischer Kliniken. Da kommt
viel zusammen. Gibt es in der heutigen Versorgungslage – trotz
starkem Gesundheitswesen – echte Probleme? Viele deuten sich in
der Psychiatrie: Versorgungsengpässe, Fachkräftemangel, eine neue
Finanzierung, die nicht klar ist, erschwerter Zugang, und das
Gefühl, die psychische Gesundheit, vor allem junger Frauen, stehe
unter Druck. Wo siehst du die Probleme, und wo brauchen wir
andere Lösungen?


00:10:20 Sarah Ich will mit etwas Positivem anfangen, bei all
dem, was negativ tönt: Die Enttabuisierung psychischer Probleme
und Krisen finde ich extrem positiv. Man traut sich, Hilfe zu
holen, schämt sich nicht mehr – früher hiess es despektierlich
„in die Klapse“. Aber gewisse Bevölkerungsgruppen sind massiv
belastet – bis in Krankheit hinein. Besonders bei Kindern und
Jugendlichen gibt es einen Engpass, das weiss man. Kinder- und
Jugendpsychiatrie gilt offiziell als unterversorgtes Fachgebiet.
Sie haben nun etwa eine Sonderregelung zusammen mit Hausärztinnen
und Hausärzten – sie können schneller zugelassen werden. Das
Problem ist damit noch nicht gelöst, aber es ist anerkannt. Neben
der Unterversorgung sind auch die Kosten ein Thema: Die direkten
Kosten sind das eine – Spitalaufenthalt, Therapie etc. Das andere
sind volkswirtschaftliche Kosten, je nach Studie bis zu 7
Milliarden durch Ausfälle etc. Ich würde zwei Dinge unmittelbar
machen: In den Schulen ansetzen – psychologischer Dienst,
Sozialarbeit – damit Krisen früh aufgefangen werden und es gar
nicht so weit kommt, dass junge Menschen ins System der
Psychiatrie hineinkommen.


00:12:16 Lukas Ist wieder Prävention, eigentlich?


00:12:17 Sarah Genau. Das ist Vorsorge, Prävention, sicher
Krisenintervention – und dort stehen zu wenig Mittel zur
Verfügung. Das ist logischerweise nicht KVG-relevant, weil sie
keine Diagnosen haben. Man soll auch nicht einfach
diagnostizieren, sondern die jungen Menschen dort unterstützen.
Das ist ein Hauptanliegen. Das andere sind Therapieplätze: Es
gibt lange Wartelisten, regional sehr unterschiedlich – und je
nach Diagnose ebenfalls. Gewisse finden fast niemanden, andere
haben relativ schnellen Zugang. Da haben wir eine Ungleichheit
der Zugänglichkeit – das ist gefährlich für unser System.


00:12:59 Lukas Jetzt können Psychologinnen und Psychologen
direkt, ohne Umweg über eine Psychiaterin, psychotherapeutische
Leistungen erbringen, die von der obligatorischen
Krankenversicherung bezahlt werden. Das war eine Massnahme
angesichts der angespannten Lage. Wie sieht die Bilanz aus? Hat
das geholfen, die Situation zu entschärfen?


00:13:29 Sarah Die Auswertung der Bilanz liegt noch nicht vor. Es
würde dem Parlament gut tun, abzuwarten und dann zu analysieren.
Im Moment verfällt man in Aktionismus und will schon wieder am
sogenannten Anordnungsmodell schrauben. Wir wissen: Die Kosten
sind gestiegen – rund 360 Millionen mehr. Aber das ist gewollt,
weil die Versorgung besser werden soll. Wir wissen z. B. noch
nicht, wie viel weniger Kosten dadurch bei den Psychiaterinnen
und Psychiatern anfallen. Diese Wechselwirkungen kennen wir noch
nicht. Gewisse sagen einfach: Es kostet viel – man sieht nicht,
was man dafür bekommt. Darum bin ich dafür, zuzuwarten, bis die
tiefgreifende Analyse da ist. Dann können wir sagen: Es hat
gewirkt – oder es braucht Anpassungen.


00:14:21 Jenny Ja, es wird noch detaillierte Analysen geben.
Gleichzeitig gibt es Monitorings zum bisherigen Stand. Man weiss:
Der Systemwechsel hat dazu geführt, dass mehr Leute in Behandlung
kommen, die Inanspruchnahme ist höher. Bis jetzt sind es
durchschnittlich rund 131 Millionen Mehrkosten pro Jahr. Du
sagst: Abwarten, wie die Gesamtbilanz aussieht. Du würdest hier
noch nicht Alarm schlagen?


00:15:05 Sarah Nein. Bei der Kostendiskussion muss man sich immer
fragen: Was ist der Mehrwert? Ich bin nicht grundsätzlich
dagegen, mehr auszugeben. Es kommt darauf an, ob eine Leistung
dahintersteht. Wenn es den Menschen danach besser geht, darf
diese Leistung etwas wert sein. Wir reden vielleicht zu selten
über Qualität und starren zu sehr auf die Kostenröhre. Wenn wir
gute Qualität haben und Menschen gesünder sind, darf uns eine
Kostensteigerung etwas wert sein. Wer das bezahlt, ist eine
andere Frage. Ich schlage nicht Alarm wegen der Kosten – eher,
weil der Bedarf steigt. Das bedeutet auch im Alltag: vielleicht
ruhigere Zeiten einplanen, die psychische Gesundheit fördern,
damit gar nicht so viele Krisen oder Krankheiten entstehen.


00:16:07 Lukas Dieses Bewusstsein – zu merken, wie es einem geht
– ist dir wichtig. Gut, dass mehr darüber geredet wird. Präventiv
gefragt: Ist Digitalisierung hier eine Chance? Zum Beispiel
KI-Coaches, wenn man Stress merkt – statt staatliche Programme
und Finanzierungsansätze früh bei den Leuten ansetzen: Hilf dir
selbst?


00:16:44 Sarah Die Algorithmen hinter der KI sind für mich eine
Blackbox. Ich weiss nicht, welche Informationen wie
zusammengeführt werden. Gerade im medizinischen Bereich bin ich
vorsichtig. Das heisst nicht, dass KI nicht genutzt werden kann.
KI wird genutzt und kann noch stärker genutzt werden. Es gibt
Apps, die entwickelt werden, Digitalisierung ist da und muss
weiterkommen. Aber einfach in ChatGPT eingeben „Heute geht es mir
nicht gut, was soll ich tun?“ – und es sagt „Geh spazieren“ – das
ist nicht in jeder Situation angebracht. Es braucht
spezialisierte, geprüfte Programme mit gesicherten Informationen
– solche werden etwa von Universitätspsychiatrien entwickelt.
Dort sehe ich grosse Chancen. Ein Thema, das wir nicht
angesprochen haben: Das Anordnungsmodell kam nicht nur wegen der
Versorgungssituation, sondern auch wegen des Fachkräftemangels.
Wir haben zu wenig Ärztinnen und Ärzte. Wir müssen kreativ sein,
um die Versorgung langfristig zu sichern.


00:17:52 Lukas Von der Versorgung in der Praxis auf die
Verfassungsstufe: Die SP plant zwei Initiativen. Viele Reformen
sind am Laufen, und Reformen wie die Fallpauschalen von 2011
wirken erst jetzt so richtig. Ihr wollt trotzdem auf
Verfassungsstufe eine Debatte starten. Ihr wollt Unterschriften
sammeln. Angedacht sind zwei: einerseits Finanzierung,
andererseits Einheitskasse. Zuerst zur Finanzierung: Die
Grundidee – noch nicht definiert – ist, dass man vom
kopfprämienfinanzierten Teil wegkommt, der im Sorgenbarometer so
stark belastet. Was ist die Idee?


00:19:00 Sarah Vielleicht zuerst: Die Einheitskasse ist eher eine
gesundheitspolitische Vorlage, die Prämiendeckelung eine
sozialpolitische – es geht um die Frage, wer zahlt. Unser
Vorschlag: Prämien einkommensabhängig machen, ein Stück weit
deckeln. 85% der Menschen sollen weniger Prämien zahlen, Kinder
und Jugendliche gar keine. Familien entlasten, Kaufkraft stärken.
Die restlichen ca. 15% zahlen etwas mehr, um das zu finanzieren.
Die Details wären auf Gesetzesebene auszugestalten. Das
entspricht dem Verfassungsauftrag, wonach jeder gemäss
wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit besteuert wird. Die
Krankenkassenprämie ist eine Art Steuer, weil alle sie zahlen
müssen. Heute zahlt jemand mit 4’000 Franken im Monat gleich viel
wie jemand mit 50’000 Franken. Diese Ungleichheit wollen wir
beseitigen.


00:20:29 Jenny Im internationalen Vergleich ist die Schweiz ein
Sonderfall bei Versorgung und Finanzierung. Der öffentlich
finanzierte Anteil der Gesundheitskosten ist so tief wie in
keinem anderen OECD-Land. Verglichen mit nordischen Ländern liegt
er dort bei 85% oder höher. Muss man in der Schweiz anders
ansetzen?


00:20:57 Sarah Wir haben mehrere Versuche gemacht, mit
unterschiedlichen Vorzeichen. Die Prämienentlastungsinitiative
wollte Prämienverbilligungen deckeln – es hiess, unklar sei die
Finanzierung; sie wurde abgelehnt. Jetzt gehen wir mit einem
neuen Ansatz in eine ähnliche Richtung, denn das Problem bleibt:
Die Finanzierung ist extrem unsozial. Noch eine Zahl: Rund 11%
des BIP geben wir für das Gesundheitswesen aus – vergleichbar mit
anderen europäischen Ländern.


00:21:35 Jenny Deutschland, Frankreich sind ähnlich.


00:21:39 Sarah Und unser Kostendruck entsteht vor allem, weil die
Finanzierung so unsozial ist und Ende Monat stark aufs
Portemonnaie schlägt. Darum ist es richtig, dort anzusetzen. Wir
versuchen es mit einer neuen Idee. Selbstverständlich bleiben die
Prämienverbilligungen wichtig.


00:21:59 Lukas Der Zugang zum System – das aus der
Krankheitssicht gebaut ist – wird dadurch einfacher. Die Hürden
werden geringer, und man fordert vielleicht noch schneller mehr
Leistungen. Die Kostenproblematik könnte anders finanziert, aber
akzentuiert werden.


00:22:20 Sarah Das sehe ich nicht unbedingt so. Erstens steigen
die Kosten, aber im internationalen Vergleich sind sie nicht
übermässig hoch. Ich vergleiche es mit anderen
Service-public-Leistungen: Bildung kostet Ende Monat auch nicht
direkt mehr, und man konsumiert sie deshalb nicht „mehr“.
Sicherheit dasselbe. Eine andere Finanzierungslogik führt nicht
automatisch zu Mehrverbrauch. Parallel braucht es
Gesundheitskompetenz, Prävention – also die richtige
Inanspruchnahme von Leistungen und Orientierung, statt Dr.
Google. Dafür braucht es ein Rucksäckchen – die Initiative kann
das nicht leisten. Aber sie schraubt den „Konsum“ nicht hoch.
Wenn man das so nennen will, bekämpft man ihn mit anderen
Methoden.


00:23:29 Lukas Wir haben einen Strauss von Ansätzen: Prävention,
Themen in der psychiatrischen Versorgung, Digitalisierung mit
Vorbehalten, Gesundheitskompetenz, Eigenverantwortung. Jetzt
kommt zum fünften Mal die Idee einer Einheitskrankenkasse. Ist es
zeitgemäss, das nochmals aufzurollen?


00:24:01 Sarah Absolut. Wir müssen ehrlich sein: Die
KVG-Leistungen sind obligatorisch, alle Patientinnen und
Patienten bekommen die gleichen Leistungen. Es macht keinen Sinn,
warum es dafür über 40 verschiedene Krankenkassen braucht. Einen
neuen Anlauf halte ich für richtig. Wir geben 4,4% für Verwaltung
aus – mehr als für Prävention. Dort können wir die Kosten senken,
nicht massiv, aber spürbar. Die Einheitskasse löst nicht alle
Probleme – sie ist ein wichtiges Puzzleteil, mehr nicht.


00:24:43 Lukas Die Leute haben trotzdem den Eindruck, dass die
Leistung nicht immer stimmt und es Unterschiede geben kann: wie
und wofür bezahlt wird, welche Informationen in welcher Form. Man
kann sich zusätzlich versichern – fällt das weg? Diese Angst gibt
es.


00:25:10 Sarah Zusatzversicherungen werden überhaupt nicht
tangiert – die soll es weiterhin geben, für alle, die das wollen.
Es geht um die Grundversicherung. Fatal wäre, wenn nicht alle
Menschen bei jeder Krankenkasse die gleichen Leistungen bekommen
– das widerspricht dem KVG. Ich weiss, dass es heute anders ist.
Daran muss man arbeiten. Gerade das spricht für eine
Einheitskasse: Alle erhalten die gleichen, gesetzlich
vorgegebenen Leistungen. Da gibt es wenig Ermessensspielraum,
höchstens Interpretationsspielraum.


00:25:46 Jenny Du hast gesagt, die Idee ist nicht neu, man hat
viel darüber abgestimmt. Im letztjährigen Krebsversorgungsmonitor
sahen wir: Die Zustimmung in der Bevölkerung ist höher als
früher. Zusammen mit der Spitalplanung gehört die Einheitskasse
zu den Ideen, denen die Leute den grössten Kosteneffekt zutrauen.
Ist jetzt der richtige Zeitpunkt – was ist anders als früher?


00:26:20 Sarah Ich kenne viele, die früher Nein gestimmt haben
und jetzt sagen: Jetzt reicht es. Mit den Löhnen, mit der
Selbstbedienungsmentalität gewisser CEOs und Spitzen der
Krankenkassen – nicht aller – wächst der Unmut. Dazu kommt die
Macht der Kassen, Leistungen zu verweigern. Das empfinden viele
als Willkür: Das kann es nicht sein. Warum über 40 Krankenkassen,
wenn alle das Gleiche zahlen müssen? Da hat sich etwas verändert
– auch bei sehr liberalen Leuten, die heute sagen: Im
OKP-Bereich, selbstverständlich – das ist gesetzlich vorgegeben.
Dieser Wandel bestätigt mich, dass jetzt der richtige Zeitpunkt
ist. Aber nochmals: Eine Einheitskasse ist richtig und wichtig,
löst aber nicht alle Probleme.


00:27:32 Lukas Wir haben die grossen Fragen des Systems
angediskutiert: Prävention – eher Richtung Bundeszuständigkeit,
die du forderst. Psychiatrische Versorgung – wo genau hinschauen.
Mehr Daten, andere Finanzierungswege – vielleicht ein anderes
Kopfprämiensystem. Wir haben die Kassen diskutiert, Verfassungs-
und Gesetzesstufe, neue Zuständigkeiten des Bundes. Am Schluss
setzt sich oft die bürgerliche Mehrheit durch, mit
föderalistischen Argumenten. Wie schlägst du die Brücke, um diese
Mehrheit zu erreichen?


00:28:30 Sarah Seit Corona ist vielen klar geworden, dass
Gesundheit an der Kantonsgrenze nicht Halt macht. Gewisse Dinge
gehören auf Bundesebene. Ein Beispiel: Interkantonale
Spitalplanung. Dazu habe ich 2021 einen Vorstoss gemacht. Niemand
von den Bürgerlichen hat unterschrieben; SP und GLP haben
unterstützt. Heute ist es im Ständerat mehrheitsfähig: Mit 40 zu
2 Stimmen – gegen die eigenen Kantone – wurde eine Motion
überwiesen. Dinge, die früher aus föderalistischen Gründen nicht
mehrheitsfähig waren, werden im Gesundheitswesen langsam
mehrheitsfähig. Der Druck steigt: Fachkräftemangel, Kosten, es
drückt den Menschen im Portemonnaie. Die Situation hat sich
geändert – dadurch sind heute Dinge möglich, die vor zehn Jahren
nicht möglich waren.


00:29:32 Lukas Ein Thema, das vielleicht noch nicht so
politisiert ist, ist Prävention; die psychiatrische Versorgung,
wo wir vielleicht mehr Probleme haben, als wir meinen. Wir haben
diskutiert, wie die Finanzierung sein soll. Wir haben die
Einheitskrankenkasse und die Verfassungsvorschläge der SP
besprochen. Es bleibt viel zu diskutieren. Danke für die
politische Einschätzung, danke für den Besuch – und viel Erfolg
auf dem weiteren Weg.


00:29:59 Sarah Danke vielmals für die Einladung.


00:30:00 Lukas Jenny, vielleicht ist die Bevölkerung in diesem
Punkt fast schon weiter als die Politik. Viele wünschen sich mehr
Koordination und neue Ideen, um die Kosten zu senken.


00:30:12 Jenny Aus Sicht der Bevölkerung ist der Problemdruck da.
Interessant ist, dass gewisse Ideen, die früher kaum
mehrheitsfähig waren, heute offener diskutiert werden. Ich bin
gespannt, ob sich die Bevölkerung bei Abstimmungen eher für einen
Systemwechsel ausspricht oder für inkrementelle Veränderungen am
jetzigen System. Es bleibt spannend.


00:30:40 Lukas Ob es solidarischer oder freiheitlicher wird, wird
sich zeigen. Politisierung zeichnet sich aber ab.


00:30:47 Jenny Auf jeden Fall. Wer es genau wissen möchte: Alle
Details zu den genannten Studien findet ihr unten in der
Beschreibung.

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