94. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 426, K09

94. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 426, K09

Welche Rolle spielt der Faktor Zeit für die Wahrn…
1 Stunde 27 Minuten
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Ulrike Sumfleth und Joachim Feltkamp sind Luhmani…

Beschreibung

vor 1 Monat
Welche Rolle spielt der Faktor Zeit für die Wahrnehmung des
gesellschaftlichen Umgangs mit Recht? Operativ geschlossene
Funktionssysteme wie Politik, Recht und Massenmedien entwickeln
Eigenzeitlichkeiten. Das Tempo, in dem Entscheidungen getroffen
werden, variiert von System zu System. Zugleich folgt jedes
Funktionssystem einem zweiwertigen Code, der alle Entscheidungen
anleitet. In der Politik ist dies die Frage: Regierung oder
Opposition? (Eine Unter-Codierung der Unterscheidung:
machtüberlegene/machtunterlegene Kommunikation.) Das Rechtssystem
operiert entlang der Unterscheidung von Recht/Unrecht sowie
gleicher/ungleicher Fall. Die Massenmedien wählen aus, ob sie
informieren/nicht informieren, anhand der Frage: Ist der
Sachverhalt neu? D.h.: Welcher Sachverhalt pro System ausgewählt
wird, um erinnert oder für zukünftige Entwicklungen eingeschätzt zu
werden (Antezipation), variiert ebenfalls. Gleiches gilt für die
Fragen: Welche Unterscheidungen werden dabei zugrunde gelegt? Und
in welcher normativen Form vollzieht sich der
Entscheidungsfindungsprozess? Wenn Kommunikation systemübergreifend
organisiert werden muss, fallen zeitliche Verzögerungen zwischen
den Systemen besonders auf. Z.B.: Die Wirtschaft prescht vor – die
Wissenschaft sammelt noch Daten aus der Vergangenheit. Besonders
bedeutsam ist der Faktor Zeit im Verhältnis von Rechtsetzung durch
den Gesetzgeber und Rechtsprechung durch Gerichte. Politik steht
unter Zeitdruck. Sie managt Entscheidungsfindungsprozesse mit
Machtkalkül: Entscheidungen werden beschleunigt – oder verzögert.
Im Vergleich dazu agiert das Rechtssystem behäbig, insbesondere
Gerichte. Hier muss jeder Einzelfall sorgfältig begründet werden.
Zugleich sind potenzielle Auswirkungen auf gleichartige Fälle in
der Zukunft mit einzuschätzen. Diese können die Struktur des
gesamten Rechtssystems verändern. Es gibt also eine Zeitdifferenz
im Umgang mit Recht: Dass Rechtsprechung »langsam« ist, wird durch
die Möglichkeit »schneller« Rechtsetzung gesamtgesellschaftlich
ausgeglichen. Wie das Verhältnis von Politik und Recht beobachtet
und beschrieben wird, ist wiederum von der Präferenz der
Massenmedien für Neues geprägt. Die Auswahl von Informationen
anhand dieses Kriteriums bedeutet soziologisch eine
Wahrnehmungstäuschung. Über neue Gesetze wird laufend berichtet,
selten über ihre Auswirkungen/Nicht-Auswirkungen im Alltag. Luhmann
spricht hier von »optischen Schwierigkeiten«, Politik und Recht als
getrennte Systeme zu sehen. Die Fokussierung der Berichterstattung
auf neue Gesetze dürfte dazu beigetragen haben, dass Politik und
Recht lange Zeit als Einheit begriffen wurden, in der die
Gesetzgebung hierarchisch über der Rechtsprechung zu stehen schien.
Für die These, dass Politik und Recht zwei operativ geschlossene
Systeme sind, spricht auch die Art und Weise, in der die Verwaltung
gesetzliche Vorgaben »umsetzt«. Als Subsystem der Politik ist die
Verwaltung an das Recht gebunden. In der Praxis managt sie ihre
Aufgaben jedoch nicht juristisch, sondern: orientiert an
politischen Zielvorgaben, in der Form eines
Problem-Lösung-Verhaltens. Auf Umsetzungsprobleme reagiert der
Gesetzgeber erst dann juristisch, wenn Gesetzesverstöße in größerem
Stil auffällig werden, also eine Dauerdevianz (ständige Abweichung)
vom Sollverhalten beobachtbar wird. Ein (unspektakulärer)
Einzelfall löst noch keine Gesetzesänderung aus.

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