Kennen Sie Ronald Reagans Witz über Meinungsfreiheit?

Kennen Sie Ronald Reagans Witz über Meinungsfreiheit?

9 Minuten
Podcast
Podcaster
Analysis on politics, society and our changing world. In German and English.

Beschreibung

vor 1 Monat

Liebe Leserinnen und Leser,


jeder hat gerade eine Meinung zum Thema Meinungsfreiheit.
Allerdings entsteht zugleich der Eindruck, dass es ja gar keine
Freiheit der Meinung mehr gibt. Wie passt das zusammen?


Es passt nicht zusammen. Es ist sogar ein bisschen albern.


Denn Deutschlands Medien und Kommentatoren sprechen und
diskutieren über Meinungsfreiheit, dabei meinen sie etwas
anderes. Das ist schlampig. Und gefährlich.


Da ist z.B. Richard David Precht, ein gern gesehener Gast in
Talkshows und generell ein Mann, der viel meint. Sein aktuelles
Buch heißt: Angststillstand - Warum die Meinungsfreiheit
schwindet. In der Sendung Maischberger erklärte Precht,
der von seinem Verlag als „Nr 1.-Podcaster“ angepriesen wird,
jüngst:


„Die Meinungsfreiheit ist eigentlich das, was das Gesetz regelt
und da hat sich eben gar nicht so viel verändert, bis auf ein
paar Kleinigkeiten. Aber die Meinungstoleranz ist geringer
geworden.“


Ich stimme Precht in diesem Punkt zu. Also: Meinungsfreiheit ist
das Gesetz, Meinungstoleranz ist die subjektive Wahrnehmung bzw.
das, was wir als Bürgerinnen und Bürger unter uns regeln. Der
Meinungs-Markt sozusagen.


Auch in der Beschreibung seines Buchs steht: „Beschleunigt durch
Social Media und die Möglichkeiten des Shitstorms wird das Risiko
freier Meinungsäußerungen immer größer und die sozialen Kosten
steigen gefährlich an.“


Auch hier würde ich Precht - zumindest teilweise - zustimmen.
Trotzdem bleibt ein Störfaktor: Der Untertitel von Prechts Buch
suggeriert, dass die Meinungsfreiheit schwindet und nicht etwa
die Meinungstoleranz. Natürlich ist mir klar, dass Precht
argumentiert, dass aufgrund der gesunkenen Meinungstoleranz auch
die Meinungsfreiheit leidet. Das ist aber falsch. Ich will es
erklären.


Zunächst einmal stelle ich fest, dass auch die Medien auf den
vermeintlichen Verlust der Meinungsfreiheit reagieren. Sie machen
das so, wie Medien das halt so machen. Auf ziemlich
offensichtliche Art und Weise. Ich will das gar nicht
kritisieren, es ist nur nicht sonderlich kreativ.


Bei ntv gibt es zum Beispiel nun eine Sendung mit den geschätzten
Kollegen Nikolaus Blome und Clara Pfeffer. „Klar, kantig,
kontrovers - mit Biss und Respekt“ ist das Motto des
Formats, in dem jeder Gast und auch die Moderatoren eine
kontroverse Meinung mitbringen sollen. Darüber wird dann
diskutiert. Man will zeigen: Hier wird Meinungsfreiheit gelebt
und gesendet.


Fast zeitgleich kündigte der Sender Welt an, dass er ab November
mit dem Format Meinungsfreiheit mit Nena Brockhaus an den Start
gehe. Laut Aussage der Moderatorin, wolle sich diese „streiten“.
Außerdem wolle sie, dass nicht nur ihre eigene Meinung gesendet
werde, sondern auch die „andere“ Meinung. Auch gut.


Aber das Problem ist auch hier: All diese neuen Formate und auch
die Diskussionen in den Talkshows senden am Kern der Debatte
vorbei. Sie suggerieren nämlich alle, dass wir dringend etwas
gegen die schwindende Meinungsfreiheit in Deutschland tun müssten
und uns deswegen jetzt bitte schnell streiten sollen, um zu
beweisen, dass das so noch in Deutschland geht.


Das ist deswegen albern, weil hier Meinungstoleranz mit
Meinungsfreiheit verwechselt (oder ganz bewusst gleichgesetzt)
wird. Denn wenn wir uns gegenseitig einschränken, weil wir, wie
Precht es formuliert, den „sozialen Preis“ für die
Meinungsäußerung erhöht haben, dann sind wir ja auch selbst
schuld. Mit anderen Worten: Dafür trägt die Politik oder der
Gesetzgeber keine Verantwortung.


Lassen Sie uns lieber nochmal definieren, was
Meinungsfreiheit wirklich ist. Ich habe, wie Sie
sicherlich merken, in meinen Newslettern oft den US-Historiker
Timothy Snyder zitiert und werde es auch an dieser Stelle tun. Er
macht einen wichtigen Punkt und unterscheidet im Englischen
klugerweise zwischen „free speech“ und „freedom of speech“:


„Der Begriff ‚freie Meinungsäußerung‘ (‚free speech‘) hat eine
sehr überhöhte Bedeutung erhalten und wird allzu oft nur noch
verwendet, um das Recht zu bezeichnen, jemanden zu beleidigen
oder durch bewusste Lügen Unruhe zu stiften, oft aus einer
Position der Macht und des Reichtums heraus.


Der Grund, warum uns die Meinungsfreiheit (‚freedom of speech‘)
am Herzen liegt, ist jedoch, dass wir die Würde des Einzelnen
schützen und den Einzelnen vor den Mächtigen schützen wollen.


Die Meinungsfreiheit wird geschützt, damit wir den Mächtigen
unsere Wahrheit sagen können, und nicht, damit die Mächtigen uns
ihre Lügen aufzwingen können. Mit anderen Worten: Sie muss ein
Recht sein, weil die Wahrheit riskant ist.


Als Selenskyj in Kiew blieb, veröffentlichte er ein Selfie-Video
mit Kollegen, in dem er den Menschen versicherte, dass ‚der
Präsident hier ist‘. Dies war ein Ausdruck der Meinungsfreiheit
im tieferen, richtigen Sinne. Er ging ein Risiko ein: Die
Attentäter suchten nach ihm, russische Truppen waren in der Nähe
von Kiew und die Stadt wurde bombardiert. Und er sagte die
Wahrheit. Das Risiko war die Wahrheit, und die Wahrheit war das
Risiko.“


Snyder macht deutlich, dass Meinungsfreiheit, also freedom of
speech, das wirkliche Elixir der Demokratie ist. Meinungsfreiheit
ist nämlich nicht, dass man eine Meinung rausposaunt (die
womöglich sogar beleidigend oder erniedrigend ist) und sich dann
wundert, wenn es Gegenwind gibt. Das ist die Meinungstoleranz.


Meinungsfreiheit ist das hier: In Deutschland können Sie 24
Stunden am Tag, sieben Tage die Woche die Regierung, den
Bundeskanzler, den Bundespräsidenten kritisieren (natürlich in
einem durchaus sinnvollen rechtlichen Rahmen), sich über diese
Personen lustig machen, sie lächerlich machen etc. Sie müssen
jedoch keine Konsequenzen fürchten.


Dürfen Sie das in China? Dürfen Sie das in Russland? Dürfen Sie
das in Saudi Arabien? Und mittlerweile muss man sich fragen:
Dürfen Sie das eigentlich noch in den USA? Die Antwort für die
ersten drei Länder ist ein deutliches Nein. Die Antwort mit Blick
auf die USA ist zumindest kein ganz klares Ja mehr.


Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan hat das Thema
Meinungsfreiheit mal in einem seiner legendären Witze so auf den
Punkt gebracht:


An American and a Russian were arguing about their two countries.
The American said: “Look, in my country I can walk into the Oval
Office, I can pound the president’s desk and say Mr. President, I
don’t like the way you’re running our country.” And the Russian
said: “I can do that.” The American said: “you can?” He says:
“yes, I can go into the Kremlin, to the General Secretary’s
office, pound his desk and say: Mr. General Secretary, I don’t
like the way President Reagan is running his country!”


Auf Deutsch:


Ein Amerikaner und ein Russe diskutieren über ihre beiden Länder.
Der Amerikaner sagte: „Schau mal, in meinem Land kann ich ins
Oval Office gehen, auf den Schreibtisch des Präsidenten schlagen
und sagen: Herr Präsident, mir gefällt nicht, wie Sie unser Land
regieren.“ Und der Russe sagte: „Das kann ich auch.“ Der
Amerikaner sagte: „Das kannst du?“ Er sagte: „Ja, ich kann in den
Kreml gehen, ins Büro des Generalsekretärs, auf seinen
Schreibtisch hauen und sagen: Herr Generalsekretär, mir gefällt
nicht, wie Präsident Reagan sein Land regiert!“


Wir halten also fest: Meinungsfreiheit ist u.a. das, was es
möglich macht, die Mächtigen, den Staat, die Regierenden zu
kritisieren und sie so unter Druck zu setzen, dass sie ihr Amt
verlieren oder zurücktreten müssen. Dabei müssen wir keine
Repressalien fürchten. DAS ist in der Tat ein entscheidender
Bestandteil unseres gesellschaftlichen Vertrags. Wenn der ins
Wanken gerät, dann sollten wir uns Sorgen machen.


Die freie Meinungsäußerung hingegen, wie Snyder sie bezeichnet,
ist etwas anderes. Wir sollten diese Dinge strikt voneinander
trennen.


Warum?


Weil wir uns selbst schaden, wenn wir suggerieren, dass die
gesetzlich geregelte Meinungsfreiheit in Gefahr sei. Das stärkt
nämlich genau die, die ein Interesse daran haben, unsere
Demokratie auseinanderzunehmen und ein Bild zu zeichnen, das so
aussieht: Die Mächtigen da oben unterdrücken die Kleinen da unten
und lassen sie gar ins Gefängnis werfen, wenn ihnen eine Meinung
oder Kritik an der Regierung nicht passt.


Das ist in Deutschland mitnichten so.


Und wenn eine Gesellschaft den sozialen Preis für die
Meinungsäußerung erhöht, dann ist das womöglich kein sonderlich
guter Trend, es ist aber am Ende des Tages eine Entscheidung der
Menschen innerhalb einer Gesellschaft.


Mit anderen Worten: Nein, die Meinungsfreiheit in
Deutschland ist nicht in Gefahr.


Wenn überhaupt haben wir es verlernt, andere Meinungen
auszuhalten. Das ist aber nicht das Problem der Politik, sondern
unser Problem. Wir sollten damit aufhören, diese beiden Dinge zu
verwechseln. Denn wenn wir das weiterhin tun, dann stärken wir
die, die eine ganz eigene Vorstellung von Meinungstoleranz haben
und am Ende die wirkliche Meinungsfreiheit per Gesetz
einschränken wollen.


Die USA sollten uns in diesem Punkt eine Warnung
sein.


Philipp Sandmann


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