Werdet nicht zu Kulturpessimisten!

Werdet nicht zu Kulturpessimisten!

13 Minuten
Podcast
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Analysis on politics, society and our changing world. In German and English.

Beschreibung

vor 1 Monat

Liebe Leserinnen und Leser,


im Sommer 2024 saß ich mit dem Kommunikationschef einer Partei
beim Mittagessen in Berlin. Er sagte mir das, was man im Berliner
Politik- und Medienbetrieb zu diesem Zeitpunkt von vielen Seiten
hörte: Die nächste Regierung (damals war relativ klar, dass die
Ampel nicht mehr lange hält) ist die letzte Chance für die
Parteien der Mitte. Dieser „letzte Schuss“, der müsse sitzen.


Wie erwartet gewann die Union dann die Bundestagswahl. Die Ampel
und Olaf Scholz waren abgewählt, die FDP flog aus dem Bundestag.


Dem waren allerdings mehrere eigenartige Geschichten
vorausgegangen. So hatte Friedrich Merz, im Januar noch
Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, bei einer Abstimmung
zum Thema Migration in Kauf genommen, dass erstmals eine Mehrheit
mit Hilfe der AfD erreicht wurde. Das Kalkül war: Deutschland
muss bei diesem so wichtigen Thema endlich handeln und der Wähler
sollte sehen, dass die Union hier handlungsfähig ist. Nur so
bekommt man die AfD klein, dachten sich Merz und sein engster
Kreis.


Der Plan ging grandios nach hinten los.


Die Union fuhr bei der vorgezogenen Bundestagswahl im Februar ihr
zweitschlechtestes Ergebnis aller Zeiten ein, die AfD verdoppelte
sich auf ihr bestes Ergebnis und die eigentlich schon in der
politischen Versenkung verschwundene Linke erlebte eine
Wiedergeburt. Und damit nicht genug: Als die Koalition aus Union
und SPD stand, bekam Friedrich Merz bei der Wahl des Kanzlers im
Bundestag im ersten Wahlgang keine Mehrheit. Ebenfalls ein
historischer Tiefpunkt. Heute wissen wir (mit großer Sicherheit),
dass die fehlenden Stimmen (zumindest teilweise) ein Signal aus
den eigenen Reihen der CDU/CSU in Richtung Merz gewesen waren.


Aber gut, nach diesem holprigen Start - dachten sich viele -
konnte es jetzt ja richtig losgehen. Pragmatische Politik,
Zukunft, entschiedenes Handeln. Doch es kam anders und nun steht
die AfD in Umfragen gleichauf oder sogar vor der Union.
Spätestens als es zum Debakel rund um die Wahl der
Verfassungsrichter-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf kam, die
die Koalition an den Rand des Zusammenbruchs brachte, war klar:
hier läuft etwas gehörig schief. Der letzte Schuss? Womöglich
schon vergeben.


Unser politisches Personal Mist, Deutschland am Ende, die
AfD schon mit einem Bein im Kanzleramt. So könnte man gerade
denken. Ich rate allerdings davon ab und will erklären,
warum.


Kulturpessimismus als reichweitenstarker Selbstläufer


1961 erschien das Werk des US-amerikanischen Historikers Fritz
Stern „Kulturpessimismus als politische Gefahr“.


Stern wurde 1926 in Schlesien geboren. Im September 1938 flohen
er und seine Familie vor dem Nazi-Terror aus Deutschland und
wanderten in die USA aus. Das Buch, dessen Grundlage Sterns
Promotion Mitte der 50er-Jahre gewesen war, wurde zu einem seiner
wichtigsten Werke. Stern fokussierte sich darin auf drei
Personen: Paul de Lagarde, ein Orientalist (und
Antisemit); Julius Langbehn, ein Schriftsteller
und Kulturkritiker (und Nationalist); und Arthur Moeller
van den Bruck, ein völkisch-nationaler Staatstheoretiker
und Publizist, der 1923 ein Werk namens „Das dritte Reich“
veröffentlichte.


Sterns Hauptargument: Diese drei Personen, die alle im
19. Jahrhundert geboren wurden und den Aufstieg Adolf Hitlers an
die Macht dann gar nicht mehr miterlebten, bildeten ein Fundament
für den sogenannten Kulturpessimismus, der wiederum zur Basis für
den darauffolgenden Faschismus und die große Tragödie
wurde.


Kulturpessimismus, so Stern, war eine Form von ausgearteter
Kritik am vermeintlichen „Niedergang“ deutscher Kultur und Werte.


Stern schreibt:


„Alle drei schrieben mit großer Eindringlichkeit und
Leidenschaft. Ihnen ging es weniger um die Klarlegung und Analyse
von Tatbeständen als vielmehr darum, Verdammungsurteile zu fällen
und Prophezeiungen zu äußern. […] Jahrzehntelang wurden sie als
Zeitkritiker und Propheten deutschen Volkstums gefeiert. Ich habe
diese drei Männer nicht deshalb ausgewählt, weil ihre Ideen
besonders originell waren, sondern weil ihr Denken und ihr
Einfluss auf das deutsche Leben deutlich die Existenz einer
kulturellen Krise im modernen Deutschland erkennen lassen. Sie
waren – selbst krank – die Analytiker einer zumindest zum Teil
kranken Gesellschaft, und als solche spielten sie in der
deutschen Geschichte eine wesentliche, bisher nicht genügend
erkannte Rolle.“


Und an anderer Stelle schreibt der Autor:


„Gerade weil er so unlogisch ist, trifft der Ausdruck
‚konservative Revolution‘ genau den Kern der Sache, verkörpert
doch die Bewegung in der Tat ein Paradoxon: ihre Anhänger wollten
die von ihnen verachtete Gegenwart zerstören, um in einer
imaginären Zukunft eine idealisierte Vergangenheit
wiederzufinden.“


Warum ist das heute so relevant?


Sterns Buch ist nicht nur ein bemerkenswerter Rückblick und eine
Antwort auf die Frage, warum es zum Nationalsozialismus kam,
sondern in Teilen auch eine Vorausschau auf das, was noch kommen
würde. Und in der Tat, auch heute gibt es sie wieder, die
Kulturpessimisten. Natürlich nehmen sie eine andere Gestalt an
und vertreten (teils) andere Ideologien, doch es gibt viele
Parallelen.


Klar ist, dass die heutigen Kulturpessimisten und die Themen, die
sie setzen bzw. die Falschinformationen, die sie verbreiten, auf
eine empfängliche Masse treffen.


Eines sollten wir dabei wissen: Es ist die
ausgewiesene Strategie der politischen Rechtsradikalen und
Neo-Kulturpessimisten, Deutschland (und Europa) so schlecht wie
möglich zu reden. Es ist übrigens auch die ausgewiesene Strategie
von Wladimir Putin und seinen Geheimdiensten, genau das zu
unterstützen und noch zu befeuern. Und um auch das
klarzustellen: Mit „schlechtreden“ meine ich nicht
berechtigte und dringend notwendige Kritik an Politik, Wirtschaft
und politischen Entscheidern. Was ich meine, das sind die, die
den Untergang Deutschlands herbeischreiben und auf der Suche sind
nach einem Sündenbock. Klingt nach einem bekannten Muster in
Deutschland.


Ganz oben auf der Agenda der Kulturpessimisten steht in dem
Kontext natürlich das Thema Migration. Es ist mittlerweile zu
einem Selbstläufer geworden. Auf Basis von Fakten wird schon
lange nicht mehr argumentiert. Remigration ist
das neue Zauberwort, mit der die Rechtsradikalen in den
politischen Kampf ziehen. Vorbild: Die Politik
von US-Präsident Donald Trump. Eva Vlaardingerbroek, eine
Influencerin der katholischen Rechten, bezeichnet Remigration gar
als die „Mission unseres Lebens.“


Dabei werden in den sozialen Medien auch oft gezielte Kampagnen
vorbereitet und ausgespielt, die wiederum ein ganz bestimmtes und
negatives Bild über Deutschland und Europa darstellen sollen. Die
Strategie ist klar: Deutschland steht am Abgrund und ist im
Grunde bereits dem Niedergang geweiht.


Die Stern-Reporterin Miriam Hollstein schrieb darüber auf
X:


Wenn nicht gerade gegen Migranten und/oder Minderheiten
geschossen wird, dann werden wiederum politische Entscheiderinnen
und Entscheider verächtlich gemacht.


Hier geht es nicht um kritische Äußerungen oder berechtigte
Rücktrittsforderungen. Nein, diese Form der Kritik hat ein
anderes, ein viel zynischeres Level. Von Accounts mit vielen
Followern (viele davon werden aus dem Ausland gesteuert) werden
Ausschnitte aus Pressekonferenzen oder Bilder ohne Kontext
genommen und auf eine bestimmte Art und Weise „geframed“. Dabei
geht es ausschließlich darum, jemanden so schlecht wie möglich
aussehen zu lassen und eine Geschichte um ein Bild zu bauen -
natürlich frei von Fakten und Wahrheit.


So stand Friedrich Merz auf einer Konferenz mit internationalen
Regierungschefs für ein paar Momente allein auf der Bühne und
verschränkte die Arme. Diesen Moment nutzten hunderte Accounts
auf X, um den Bundeskanzler lächerlich aussehen zu lassen.


Bei dieser Herabwürdigung von Deutschland und seinem politischen
Personal machen aber nicht nur unbekannte Accounts mit. Es gibt
auch „Journalisten“ in Deutschland, die zunehmend eine Art
kulturpessimistische Kritik betreiben und damit bewusst oder
unbewusst die gleiche Agenda pushen. Dazu gehört z.B. der
ehemalige Chefredakteur der BILD Zeitung, Julian Reichelt.


Und dann gibt es natürlich auch offen rechtsextreme Akteure. Dazu
gehört z.B. der Aktivist und Publizist Jürgen Elsässer, Gründer
und Chefredakteur des rechtsextremen Magazins „Compact“, der
wiederum propagiert, dass Deutschland mehr Angst vor seinen
eigenen Politikern haben sollte, als z.B. vor Wladimir Putin.
Auch hier ist die Strategie klar: Deutschlands Regierung muss um
jeden Preis verunglimpft und geschwächt werden. Putin wiederum
wird als kluger Stratege dargestellt, der auf der Suche nach
Frieden sei.


Zu guter letzt sind da noch Kommentatoren wie Richard David
Precht, den ich zwar nicht per se als Kulturpessimisten
bezeichnen würde, der allerdings ebenfalls ein Geschäftsmodell
aus der Negativität gemacht hat. Ich habe darüber in meinem
Newsletter in der vergangenen Woche geschrieben.


Tatsächlich lassen sich in den Medien, und natürlich auch in
Podcasts, enorme Reichweiten mit dieser Art von negativer
Berichterstattung erzielen. Da sind Gäste wie Precht absolute
Klick-Garanten.


Meistens entstehen dann Headlines wie diese
hier:


Werden wir gerade alle zu Kulturpessimisten?


Verstehen Sie mich nicht falsch. Für mich ist es ein Unterschied,
ob man berechtigte und dringend notwendige Kritik an den teils
fragwürdigen Entscheidungen unserer politischen Akteure trifft,
oder ob man jeden Tag den Untergang unserer Kultur, unseres
Landes und der Wirtschaft herbeischreibt, ohne dabei auch nur
eine einzige konstruktive Lösung vorzuschlagen.


Und damit sind wir in diesem Artikel auch bei einem ganz
entscheidenden Punkt angekommen.


Viel wichtiger als die offensichtlichen Kulturpessimisten unserer
Zeit ist nämlich die Frage, wie die Mitte der Gesellschaft, die
immer kleiner wird, auf diese negative Dauerbeschallung reagiert.
Ich stelle fest, dass sich auch bei den moderaten und
diplomatischen Menschen im Land eine neue Negativität und ein
Pessimismus eingenistet hat. Das ist eine gefährliche
Entwicklung.


Hinzu kommt, dass Menschen in der Mitte der Gesellschaft
zunehmend verachtet werden. Sie werden von den Rändern als
haltungslos und ohne Rückgrat dargestellt. Dabei bildet die Mitte
einer Gesellschaft das Fundament einer funktionierenden
Demokratie und oft findet man genau hier die so wichtigen
Brückenbauer zwischen den verschiedenen Lagern.


Das Herbeischreiben und Herbeikommentieren des Untergangs
entwickelt sich wiederum gerade zum Bestseller: Alle sind gegen
die Regierung und wettern gegen unser Land, aber keiner ist
bereit, Kompromisse einzugehen. Wir schwächen uns selbst. Und
zwar auf grandiose Art und Weise. Die, die ein Interesse daran
haben, Deutschland und die EU zu zerstören, freuen sich dabei
diebisch!


Wenn wir dagegen ankommen wollen, dann brauchen wir bessere
Argumente. Wir müssen z.B. besser erklären, warum Institutionen
wie die Europäische Union so wichtig sind und warum wir sie
verteidigen müssen vor ihren Feinden. Und ja, auch unsere
gewählten Volksvertreter müssen erkennen, dass sie gerade eher
hilflos agieren. Es braucht eine neue Form der wahrhaftigen und
authentischen Kommunikation, damit wir endlich rauskommen aus
diesem teuflischen Kreis des Pessimismus.


Ideen? Her damit.


Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die Woche.


Philipp Sandmann


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