US-Migrationsexperte: "Merkel hatte recht!"

US-Migrationsexperte: "Merkel hatte recht!"

27 Minuten
Podcast
Podcaster
Analysis on politics, society and our changing world. In German and English.

Beschreibung

vor 3 Monaten

Liebe Leserinnen und Leser,


auf den Tag genau zehn Jahre ist es nun her, dass die ehemalige
Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz „Wir schaffen
das“ sagte. Gemeint war die große Herausforderung, vor der unser
Land stand (und steht), das binnen kürzester Zeit über eine
Million Menschen aufnahm.


Zehn Jahre später nur die Frage zu stellen, ob wir es „geschafft“
haben, das wäre zu einfach und ist bereits in vielen Analysen und
Leitartikeln geschehen. Natürlich ist vollkommen klar, dass unser
Land sich in den vergangenen Jahren stark verändert hat.


Ich wollte Ihnen in diesem Newsletter deswegen keine Perspektive
aus Deutschland bieten, sondern eher eine Perspektive auf
Deutschland.


Gesprochen habe ich mit dem Präsidenten des renommierten
Migration Policy Institute, das seinen Sitz in Washington D.C.
hat. Andrew Selee leitet das Institut seit 2017 und ist ein
ausgewiesener Migrationsexperte. Zudem lehrt Selee an der
Georgetown University (wo ich einen seiner Kurse belegen konnte).


Hören Sie sich das Gespräch hier (auf Englisch) im Podcast an
oder schauen Sie es gerne auch als Video auf meinem
YouTube-Kanal.


Die wichtigsten Themen des Gesprächs:


Selee über…


…Deutschland, die Flüchtlinge und Angela Merkel


* „Aus einer Außenperspektive betrachtet, denke ich, dass Merkel
recht hatte. Den Menschen, die damals gekommen sind, geht es
größtenteils gut; ihnen geht es besser als anderen Kohorten in
der Vergangenheit. Sie sind größtenteils in den Arbeitsmarkt und
in die Schulen integriert, ihre Kinder wachsen mit Deutsch als
Sprache auf.“


* „Was mir an Merkels Aussage gefällt, ist, dass sie sich auf die
positiven Aspekte der Migration konzentriert hat.“


„Der Arbeitsmarkt wird einen Sog auf Menschen ausüben. Ich
glaube, damit haben wir uns noch nicht genügend
auseinandergesetzt.“


* „Die größere Frage lautet allerdings: Was macht Deutschland
jetzt? Was tun in einer Welt, in der Länder wie Deutschland, die
USA, Italien oder Korea Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen?
Der Arbeitsmarkt wird einen Sog auf Menschen ausüben. Ich glaube,
damit haben wir uns noch nicht genügend auseinandergesetzt.“


* „Die Formel, die wir alle anstreben, lautet: Wie können wir
legale Wege für Menschen schaffen, die aus Gründen der
Arbeitsmigration zu uns kommen wollen und die wir auch brauchen?
Ob in Deutschland oder den USA – wir brauchen diese Menschen für
unsere Arbeitsmärkte. Wie können wir also Wege dafür schaffen,
aber gleichzeitig strengere Asylregeln durchsetzen und damit
sicherstellen, dass Asyl nicht als Hintertür für Arbeitsmigration
genutzt wird?“


…die USA, den Arbeitsmarkt und wie gelungene Integration aussehen
kann


* „In den USA erwarten wir, dass die Menschen es aus eigener
Kraft schaffen. Das führt wiederum dazu, dass die Menschen
schnell in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die Menschen
bleiben nicht, wenn sie keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden.“


* „Es gibt zwei Arten, über Integration nachzudenken. Die eine
ist, wie sich Einwanderer und die einheimische Bevölkerung mit
der Zeit einander angleichen. Meistens passen sich Einwanderer an
die Kultur an, in der sie leben, aber sie verändern auch die
Kultur um sich herum, sodass es zu einer gewissen Anpassung in
der Gesamtbevölkerung kommt.“


„Die eigentliche Frage lautet: Haben die Kinder der Einwanderer
die gleichen Chancen wie die Kinder der Einheimischen?“


* „Die andere Art der Integration ist das, was wir tatsächlich
messen können. Also, inwieweit gleichen sich Einwanderer in
bestimmten Merkmalen (wie z.B. beim Einkommen oder der Bildung)
an? Und wahrscheinlich noch wichtiger als das, was mit den
Einwanderern geschieht, ist das, was mit ihren Kindern
geschieht.“


* „Die erste Generation der Einwanderer hat oft ein ambivalentes
Verhältnis zu ihrem neuen Lebensumfeld, da sie oft erst in einem
späteren Lebensabschnitt einwandert, in dem es schwieriger ist,
sich zu verändern. Die eigentliche Frage lautet: Haben die Kinder
der Einwanderer die gleichen Chancen wie die Kinder der
Einheimischen?“


…die großen Trends und Herausforderungen beim Thema Migration


* „Es ist wichtig, das Tempo des Wandels und der Veränderung
anzuerkennen. Nicht, weil Wandel etwas Schlechtes ist. Ich glaube
sogar, dass es uns Menschen gut tut, anderen zu begegnen, uns
weiterzuentwickeln und anzupassen. Das haben wir als Spezies im
Laufe der Geschichte immer getan.“


* „In einer idealen Welt achten wir auf das Tempo des Wandels.
Wir holen Menschen hauptsächlich aus Interesse an Arbeitskräften
ins Land und wir konkurrieren um Talente. Natürlich holen wir
auch schutzbedürftige Menschen ins Land, aber wir treffen die
Entscheidungen darüber idealerweise früher und nicht erst an der
heimischen Grenze.“


„In Wirklichkeit wird sich das alles viel chaotischer
entwickeln.“


* „Meiner Meinung nach wird sich das allerdings in Wirklichkeit
alles viel chaotischer entwickeln. Zum Teil, weil niemand
wirklich die Weitsicht hat, um die legalen Migrationswege zu
ebnen.“


* „Wir werden einerseits eine schrittweise Ausweitung der legalen
Migrations-Möglichkeiten sehen, die den nationalen
Eigeninteressen entsprechen. Wir werden aber auch viel Chaos und
Widerstand in Bezug auf Identität und Ordnung sehen und mit Blick
auf Menschen, die spontan an Grenzen auftauchen.“


* „Ich glaube, es geht hier nicht nur um Identität. Ich denke,
viele Menschen reagieren vor allem negativ auf Chaos. Sie
reagieren auch, wenn sie glauben, dass sich Menschen nicht
integrieren. Das mag ebenso sehr die Schuld der Gesellschaft sein
wie die der Einwanderer.“


* „Das Tempo des Wandels ist enorm. Ich glaube, wir sollten uns
nicht wundern, dass Menschen Zuflucht in Identitäten und dem
bereits Bekannten suchen. Die Frage ist, wie wir in diesen
Identitäten Zuflucht finden und sie gleichzeitig so inklusiv
gestalten können, dass sie in einer wirklich mobilen Welt nicht
zu einem Abwehrmechanismus werden. Aber wir müssen auch sensibel
mit dem Tempo umgehen, in dem dies geschieht.“


Ich wünsche Ihnen einen schönen Sonntag und einen guten Start in
die Woche!


Philipp Sandmann


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