122 — Komplexitätsillusion oder Heuristik, ein Gespräch mit Gerd Gigerenzer
1 Stunde 4 Minuten
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Beschreibung
vor 7 Monaten
Auch heute freue ich mich wieder darüber, einen äußerst
kompetenten und prominenten Gast vorstellen zu dürfen: Prof. Gerd
Gigerenzer. Das Thema ist eines, das uns seit einiger Zeit
begleitet, und auch noch weiter begleiten wird, denn es gehört zu
den wesentlichsten Fragen der heutigen Zeit. Werden wir von der
stetig steigenden Komplexität in unserer Gesellschaft, Wirtschaft
und Wissenschaft überrollt, oder gelingt es, Mechanismen zu
entwickeln, trotzdem kluge und resiliente Entscheidungen zu
treffen? Entscheidungen, die uns auch helfen, mit komplexen
Risiken umzugehen?
Gerd Gigerenzer war unter anderem langjähriger Direktor am
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, ist Direktor des
Harding Center for Risk Literacy an der Universität Potsdam,
Partner von Simply Rational - The Institute for Decisions und
Vizepräsident des European Research Council (ERC). Er ist
ehemaliger Professor für Psychologie an der Universität von
Chicago und John M. Olin Distinguished Visiting Professor, School
of Law an der Universität von Virginia. Darüber hinaus ist er
Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften, der Deutschen Akademie der Wissenschaften und der
British Academy sowie Ehrenmitglied der American Academy of Arts
and Sciences und der American Philosophical Society. Er hat
unzählige Preise gewonnen sowie zahlreiche Bücher geschrieben,
die nicht nur inhaltlich höchst relevant sondern zudem auch noch
sehr zugänglich für eine breite Leserschicht sind.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen:
Entscheidungen unter Unsicherheit und Zeitbeschränkung
Risikokompetenz und Risikokommunikation
Entscheidungsstrategien von Managern, Richtern und Ärzten
Und genau über diese Themen werden wir uns in der Episode
unterhalten. Wie geht man in Situationen großer Unsicherheit mit
Daten und Informationen um?
»Je größer die Unsicherheit ist, desto mehr Informationen muss
man ignorieren.«
Was ist eine Heuristik, und welche Heuristiken wenden wir
erfolgreich in welchen Situationen an?
»In Situationen von Unsicherheit, verlassen sich Menschen nicht
auf die ganze Vergangenheit, sondern auf die jüngste
Vergangenheit — das nennt man recency Heuristik.«
Warum führen mehr Daten nicht immer zu besseren Entscheidungen?
»Ein Datenpunkt, gut gewählt, erlaubt [in vielen Fällen] bessere
Vorhersagen als Big Data«
Was ist Intuition und unter welchen Umständen ist intuitives
sinnvoller als vermeintlich rationales Entscheiden?
»Intuition ist keine Willkür. Intuition ist gefühltes Wissen, das
auf jahrelanger Erfahrung beruht.«
Was ist von den neuen Theorien der Rationalität, z. B. dem System
1 und 2 von Kahnemann zu halten?
»The abject failure of models in the global financial crisis has
not dented their popularity among regulators.«, Mervyn King
Was ist defensives Entscheiden, und warum ist es eines der
größten Probleme unserer modernen Welt?
»Der Arzt ist nicht in einer Situation, dem Patienten das Beste
zu empfehlen. Viele Ärzte fürchten, dass die Patienten klagen,
insbesondere, wenn etwas unterlassen wurde. Die Patienten klagen
nicht, wenn unnötige Operationen vorgenommen wurden.«
Weniger kann oft mehr sein:
»Viele Menschen denken — auch in der Wissenschaft — mehr ist
immer besser.«
Dabei gilt in den meisten Fällen, gerade auch dort, wo wir häufig
versuchen, komplexe Modelle anzuwenden:
»Je größer die Unsicherheit ist, umso einfacher muss man die
Regulierung [oder das Modell] machen.«
Eine Erkenntnis, die im Grunde jedem klar ist, der sich mit der
Steuerung komplexer Systeme auseinandersetzt. Warum handeln wir
stetig dagegen?
»Wir brauchen eine Welt, die den Mut hat zur Vereinfachung.«
Und dann gibt es noch den Aspekt der Rückkopplung von
(schlechten) Modellen auf die Welt, die sie vermeintlich
beschreiben oder vorhersagen, und wir kommen leicht in einen
Teufelskreis der zirkulären und selbstverstärkenden Fehler. Wie
lassen sich diese vermeiden? Was wird die Folge sein, wenn diese
Formen der Modellierung und Verhaltenssteuerung auf eine immer
totalitärere und total überwachte Gesellschaft trifft?
Entwickeln wir uns aber in der Realität mit künstlicher
Intelligenz, Large Language Models und IT-getriebener
Automatisierung, aber nicht gerade ins Gegenteil? Eine Welt,
deren Entscheidungen von immer komplexeren Systemen intransparent
getroffen werden, wo niemand mehr nachvollziehen oder bewerten
und in Wahrheit verantworten kann, ob diese Entscheidungen
sinnvoll sind? Denken wir beispielsweise an Modelle, die
Rückfallwahrscheinlichkeiten von Straftätern bewerten.
»Viele Menschen lächeln über altmodische Wahrsager. Doch sobald
die Hellseher mit Computern arbeiten, nehmen wir ihre Vorhersagen
ernst und sind bereit, für sie zu zahlen.«
Zu welcher Welt bewegen wir uns hin? Zu einer, in der wir
radikale Unsicherheit akzeptieren und entsprechen handeln, oder
einer, wo wir uns immer mehr der Illusion von Kontrolle,
Vorhersagbarkeit und Steuerbarkeit verlieren?
»In einer Welt, in der Technik (vermeintlich) smart wird,
brauchen wir vor allem eines, nämlich Menschen, die auch smart
werden. Also Menschen, die mitdenken, die sich nicht zurücklehnen
und konsumieren; die sich nicht auf das reduzieren lassen, was
man ihnen empfiehlt.«
Und zum Ende macht Prof. Gigerenzer noch den wichtigsten Aufruf
der heutigen Zeit:
Mitdenken!
Denn es gilt:
»The world is inherently uncertain and to pretend otherwise is to
create risk, not to minimise it.«, Mervyn King
Referenzen
Andere Episoden
Episode 121: Künstliche Unintelligenz
Episode 118: Science and Decision Making under Uncertainty, A
Conversation with Prof. John Ioannidis
Episode 112: Nullius in Verba — oder: Der Müll der
Wissenschaft
Episode 109: Was ist Komplexität? Ein Gespräch mit Dr. Marco
Wehr
Episode 107: How to Organise Complex Societies? A
Conversation with Johan Norberg
Episode 106: Wissenschaft als Ersatzreligion? Ein Gespräch
mit Manfred Glauninger
Episode 99: Entkopplung, Kopplung, Rückkopplung
Episode 92: Wissen und Expertise Teil 2
Episode 80: Wissen, Expertise und Prognose, eine Reflexion
Episode 79: Escape from Model Land, a Conversation with Dr.
Erica Thompson
Prof. Gerd Gigerenzer
Prof. Gigerenzer amd MPIB-Berlin
Fachliche Referenzen
Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des
Unbewussten und die Macht der Intuition, Goldmann (2008)
Gerd Gigerenzer, Das Einmaleins der Skepsis: Über den
richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken, Piper (2015)
Gerd Gigerenzer, Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen
trifft, Pantheon (2020)
Gerd Gigerenzer, Klick: Wie wir in einer digitalen Welt die
Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen,
Bertelsmann (2021)
Gerd Gigerenzer, Smart Management: Mit einfachen Heuristiken
gute Entscheidungen treffen, Campus (2025)
Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, Siedler
Verlag (2012)
Gerd Gigerenzer, The rationally wars: a personal reflection,
BPP (2024)
Konstantinos Katsikopoulos, Gerd Gigerenzer et al,
Transparent modeling of influenza incidence: Big data or a single
data point from psychological theory?, International Journal of
Forecasting (2022)
Mervyn King, John Kay, Radical Uncertainty, Bridge Street
Press (2021)
Rory Sutherland, Alchemy, WH Allen (2021)
Peter Kruse, next practice. Erfolgreiches Management von
Instabilität. Veränderung durch Vernetzung, Gabal (2020)
John P. Ioannidis, Forecasting for COVID-19 has failed,
International Journal of Forecasting (2022)
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