Das Proletariat
1 Stunde 53 Minuten
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Beschreibung
vor 23 Jahren
Nichts könnte unzeitgemäßer sein, als heutzutage vom Proletariat
zu reden. So etwas mag es früher einmal gegeben haben – im
Manchester-Kapitalismus, im Kaiserreich, vielleicht noch vor
Hitler; aber das ist Ewigkeiten her. Inzwischen kann die
Sozialwissenschaft keine Arbeiterklasse mehr entdecken - schon
wegen der vielfältigen Lebenslagen, in die es die „abhängig
Beschäftigten“ verschlägt. Sie vor allem, die mit dem Fremdwort
einmal gemeint waren, weisen den „Proletarier“ als eine
Beleidigung zurück, die sich ehrbare Steuerzahler und
Arbeitsplatzbesitzer nicht bieten lassen müssen. Sogar als
Schimpfwort für sozial minderwertige und rohe Zeitgenossen, die
nicht in die gute Gesellschaft passen, ist der „Prolet“
weitgehend ausgestorben.
Tatsächlich hat die bürgerliche Gesellschaft ihr Problem mit dem
einst außerhalb stehenden, rechtlosen und rebellischen
Arbeiterstand offenbar gelöst. Vor der „starken Hand des
Arbeiters“, die alle Räder stillstehen lässt, wenn sie nur will,
fürchtet sich kein Kanzler und kein Mittelständler mehr.
Arbeiterparteien, die den Umsturz von Staat und Wirtschaft
betreiben, und Gewerkschaften, die zugunsten des Lebensunterhalts
ihrer Mitglieder die Interessen der Wirtschaft missachten, sind
verschwunden. Die Gesellschaft kann zufrieden sein.
Aber hat sie auch die Probleme gelöst, die dieser Stand mit ihr
hat, - oder hat sie nur dessen Widerstandswillen aufgelöst?
Jedenfalls sind Armut, Verwahrlosung, Not und Lebenskampf unter
den „Sozial Schwachen“ nicht zusammen mit dem Proletariat
ausgestorben. Die demokratischen Medien, die nichts verschweigen,
berichten von freien Arbeitnehmern, die flexibel zwischen Tag-,
Nacht- und Schichtarbeit, Überstunden und Unterbeschäftigung
wechseln; von „working poor“ in einem „Niedriglohnsektor“, dessen
Entgelt seinen Mann nicht ernährt. Sie wissen aber auch von
normal verdienenden Familienvätern, die gleich in die Armut
abstürzen, wenn sie sich unvorsichtigerweise ein paar Kinder
leisten; andere hängen dauerhaft in der Schuldnerberatung, weil
sie sich sonst etwas geleistet haben. Man kennt die „abhängig
Beschäftigten“ allesamt als Kassenpatienten, für die im
Krankheitsfall die schlechtere Abteilung einer
„Zwei-Klassen-Medizin“ zuständig ist; und im Alter werden sie
Sozialrentner, die dem Gemeinwesen unerträglich zur Last fallen.
Wenn alles gut geht! Es gibt nämlich auch noch die
unbeschäftigten Teile der modernen Arbeitnehmerschaft, die
Arbeits- und Obdachlosen, Sozialhilfeempfänger und Penner. Der
menschliche Schrott der Leistungsgesellschaft gilt endlich auch
den Maßstäben des Sozialamts als echt arm.
Was also hat sich geändert seit den Tagen, in denen es ein
rechtloses, nicht gesellschafts- und nicht überlebensfähiges
Proletariat gegeben hat? Vor allem eines: Der „Vierte Stand“
steht nicht mehr außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und
kämpft nicht mehr gegen sie um sein Überleben. Die Arbeiterklasse
hat sich integriert – und das voll und ganz auf eigene Kosten.
Sie hat das Bewusstsein aufgegeben, dass die zahllosen
unglücklichen Einzelschicksale aus ihren Reihen einen gemeinsamen
Grund haben, und dass die vielfältigen Lebenslagen, in denen sich
Lohnabhängige finden, auf eine gemeinsame Klassenlage und einen
gemeinsamen Gegensatz zu den Eigentümern der Produktionsmittel
zurückgehen. Für diesen Fortschritt war vieles nötig, von dem das
Buch handelt. Vor allem hat der Staat sich und seinen
Aufgabenkatalog ändern müssen, damit sich die Rechnungsweise des
Kapitals und sein freier Gebrauch der Arbeit nicht ändern musste.
Die Staatsmacht, die das Eigentum garantiert, hat gelernt, auch
die Lohnarbeit als ehrbares Geschäft anzuer kennen, und sich der
Regelung dieses Tauschgeschäfts ebenso gewidmet, wie der
besonderen Sorte von Eigentümern, die nur sich selbst, d.h. ihren
eigenen Körper besitzen. Inzwischen werden die proletarischen
Lebensumstände umfassend staatlich verwaltet. An der ökonomischen
Rolle, die der Lohnarbeiter spielt und an den Folgen, die seine
Rolle für ihn hat, haben die sozialen Jahrhundert-Reformen nichts
geändert. Was als das Ende des Proletariats gefeiert wird, ist
die Vollendung seiner Funktionalität für Staat und Kapital.
Arbeiter und Unternehmer, Sozialwissenschaftler und Politiker
erkennen das Proletariat nicht mehr wieder, weil es fertig
hergerichtet ist. Die Karriere eines Jahrhunderts ist zu Ende –
und alle Gründe für die soziale Revolution bestehen fort.
Das Proletariat
Politisch emanzipiert - Sozial diszipliniert - Global ausgenutzt
- Nationalistisch verdorben - Die große Karriere der
lohnarbeitenden Klasse kommt an ihr gerechtes Ende
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