Der verordnete Pluralismus in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften: Anstandsregeln einer falschen Wissenschaft
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Beschreibung
vor 19 Jahren
Eigentlich liegt es ja auf der Hand: Fächer, in denen
verschiedene Meinungen über ihren Gegenstand kursieren, haben es
zu gültigem, überzeugendem Wissen nicht gebracht. Früher hat man
das in den Gesellschaftswissenschaften auch noch so gesehen und
am unübersehbaren Unterschied zur Objektivität und
Unumstrittenheit naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse
gelitten; ähnlich haltbare Einsichten wollte man erst noch
erzielen. Inzwischen ist jede Unzufriedenheit über den Stand des
Wissens an den philosophischen Fakultäten ausgestorben. Der
Zustand des Nicht Wissens ist endgültig. Der Auftraggeber der
Universität, der Staat, feuert nicht etwa Forscher, die es zu
Wissen nicht bringen, sondern fordert und schützt mit dem
Pluralismusgebot den Zustand des beliebigen Meinens, zu dem es
seine großen Geister gebracht haben. Die Freiheit, die er ihnen
gewährt, hat den Sinn einer Freiheit des Wissenschaftlers
gegenüber dem Wissen. Er sichert seinen Wissenschaftsbeamten das
Recht, sich ihre persönliche "Lehrmeinung" von niemandem weder
von Kollegen noch Studenten, weder vom besseren Argument noch von
moralischer Mißbilligung bestreiten zu lassen. Er setzt
Partikularität und individuelle Eitelkeit seiner bezahlten Denker
ins Recht. Die Autorität des Wissens ersetzt er durch die
Autorität derjenigen Personen, die es geschafft haben, eine
Lehrbefugnis zu ergattern. Die Autorität des Amtes macht die
subjektive Lehrmeinung verbindlich freilich nur innerhalb
Reichweite des Amtes: in Vorlesungen und Prüfungen des
Lehrstuhlinhabers. Ein weiterreichender Geltungsanspruch würde
die Rechte der Inhaber anderer Lehrmeinungen verletzen. wischen
den vielen Theorien, die alle dieselbe Sache zu erklären
beanspruchen, sich also wechselseitig bestreiten und die Geltung
absprechen, ist die Tugend der Toleranz geboten. Und die wird
auch geübt. Die Fächer haben ein ganzes System wissenschaftlicher
Anstandsregeln ausgebildet, mit denen die Professoren den
Gegensatz ihrer Ansichten betätigen, ohne sich zu kritisieren.
Sie pflegen eine Diskussionskultur, die Ausgangspunkt und
oraussetzung jeder Diskussion dementiert: die Unterstellung
nämlich, dass es überhaupt ein gemeinsames Objekt gibt, über
dessen Auffassung man sich klar zu werden hat. Die Eintrittskarte
in die wissenschaftliche Diskussion ist ein eminent bescheidenes
Auftreten: Man nennt seine Überlegungen "vorläufig", "erste
Annäherungen", "Versuche" und versichert die Kollegen dessen, daß
niemand das Unzureichende dieser Bemühungen klarer sehe als man
selbst. Wer so von seinen Einsichten spricht, fühlt sich nicht
verpflichtet, vorläufig das Maul zu halten und seinen Gegenstand
erst einmal gescheit zu studieren. Im Gegenteil. Die frech
hervorgekehrte Bescheidenheit nimmt eventueller Kritik den Wind
aus den Segeln und macht die schwache Leistung unangreifbar zumal
sie die Gegenseite auf die Erwiderung der wissenschaftlichen
Höflichkeit verpflichtet. So unverschämt sind die bestallten
Denker, daß sie mit der Beteuerung, wie schlecht ihr Zeug sei,
jeder anderen Wortmeldung das gleiche Bekenntnis abverlangen und
dadurch die Gleichrangigkeit ihres Quarks reklamieren. Sie nennen
ihre subjektiven Ansichten von der Sache einen "Aspekt" so als ob
sie ihn an sich hätte , und kommen zu ebenso vielen "Aspekten"
der Sache, wie sich Diskutanten an der Debatte beteiligen. Jeder
rechtfertigt seinen Aspekt, indem er den anderen vorwirft, das
vernachlässigt, ausgeblendet, unterschlagen zu haben, was er
"einbringen" möchte. Das nehmen die Kollegen nicht weiter übel,
denn gegen solche "Kritik" können sie mit dem gleichen Recht
darauf bestehen, dass sie eben auch nur ihren Aspekt behandelt
haben. Jeder "begründet" seine Sicht der Sache mit seinem
Interesse, sie eben so zu sehen. "Erkenntnisinteresse" heißt man
das. Zur Verteidigung stellen demokratische Wissenschaftler ihre
Einsichten als das tautologische Produkt eines Vorurteils hin.
Sie versprechen, daß bei ihren Theorien nichts anderes
herauskommt, als was sie vorher in Form ihrer Absicht und
methodischen Vorentscheidungen hineingesteckt haben. Da weiß man
immerhin, woran man ist! Das Vorurteil geht in Ordnung, ist nach
allgemeiner Auffassung sogar nötig man muß es nur zugeben und
ausdrücklich machen, damit niemand das arteiliche Bild mit einer
objektiven Erklärung verwechselt.
Das ganze System von verkehrten Anforderungen an Theorien, mit
denen die Wissenschaftler ihre Debatten bestreiten, dient nur
dazu, die eine Frage an die vorgetragenen Erklärungen zu
verhindern, auf die es ankäme: Die nach ihrer Wahrheit. Richtige
Einsicht in ihre Institutionen, ihr Funktionieren und ihre
Prinzipien kann diese Gesellschaft, die sich immerhin
Wissenschaft leistet, offenbar nicht brauchen. Das wirft kein
gutes Licht auf sie und kein gutes Licht auf die Wissenschaft,
die gerade durch den Verzicht auf Wahrheit ihren Staatsdienst
leistet. Kein Wunder, daß "Theorie" einen so schlechten Ruf
genießt: "Theoretisch" ein Wort, das wissenschaftliche
Notwendigkeit ankündigt, bedeutet heute so viel wie "bloß
möglich".
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