Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung: Arme beobachten statt Armut erklären
2 Stunden 13 Minuten
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Beschreibung
vor 12 Jahren
Unsere Demokratie verschweigt die Armut in der Gesellschaft
nicht, sondern beschäftigt das Publikum mit der Veröffentlichung
ihrer wissenschaftlichen Zählung als „statistisch signifikante“,
also durchaus verbreitete Erscheinung.
FDP-Rösler, der den neusten Bericht hat frisieren lassen, mag das
schädlich finden für den Leistungs-Willen und den guten Ruf
unserer Marktwirtschaft. Die professionellen
Öffentlichkeitsarbeiter wissen es besser: Armut stellen sie dar
als „Problem“, nicht als Produkt „unserer reichen Gesellschaft“,
das „gerade uns“ und auch den Armen Ansporn sein muss. Damit ist
schon fast alles auf dem konstruktiven Gleis: Für die Bewältigung
von Armut, nicht für ihre Erzeugung, dafür ist in dieser Sicht
„unsere Wirtschaft“ zuständig. Die Wirtschaft mit ihren
Arbeitsplätzen und deren Rationalisierung, der Staat mit seiner
Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen demnach energischer
weitermachen - wie bisher. Für diese Botschaft braucht es
allerdings eine gewisse wissenschaftliche Heraus-Präparation der
kapitalistischen Armut aus dem Kapitalismus, der sie erzeugt und
ausnutzt, zum Defekt unserer gelobten Wohlstandsgesellschaft.
• Wie machen das die regierungsamtlichen Armutsforscher?
• Warum und wozu lässt die Regierung periodisch Armut und
Reichtum durchleuchten?
• Darum geht es auf der Veranstaltung und darum, wie Armut,
Arbeit und Reichtum in unserer Wirtschaft zusammengehören.
Armut gehört für jeden ersichtlich zum festen Inventar unserer
schönen deutschen Marktwirtschaft. Die brummt derweil und legt
seit der Krise von neulich eine jährliche Steigerung der
Exportüberschüsse, der Staatseinnahmen und des DAX nach der
anderen hin.
Man könnte angesichts dessen das Offensichtliche zur Kenntnis
nehmen: Der Reichtum der Nation verträgt sich wunderbar mit
massenhafter Armut unter ihren Einwohnern. Und jeder weiß ja
auch, dass der nationale Reichtum nicht als große Liste
nützlicher Güter bilanziert wird, mit denen die materiellen
Bedürfnisse der Leute zu befriedigen wären, sondern als
Geldsumme: als Summe der Gewinne, die kapitalistische Unternehmen
erwirtschaften, die ausschließlich ihnen gehören und für die sie
eine einzige Verwendung wissen – den Einsatz für die
Erwirtschaftung noch größerer Gewinne. Dass das am besten dann
funktioniert, wenn die Arbeitskräfte, derer sie sich dafür
bedienen, möglichst wenig Lohn bekommen – auch das gehört zum
Allgemeinwissen: Jeden Tag verkünden Politik und Wirtschaft, dass
der konkurrenzlos effektive Niedriglohnsektor samt aller
begleitenden Regelungen eines der entscheidenden
Erfolgsgeheimnisse des deutschen Wirtschaftserfolges darstellt.
Man könnte von daher zu dem Schluss kommen, dass die Armut derer,
die den Reichtum der Gesellschaft produzieren, notwendige Folge
wie nützliches Mittel für diesen Reichtum ist. Und man könnte der
Frage nachgehen, warum und wie die Arbeit den Reichtum derjenigen
mehrt, die arbeiten lassen, aber denen, die auf Arbeit und
Einkommen angewiesen sind, weder ein ordentliches Auskommen noch
überhaupt die Gelegenheit, sich eines zu verdienen, sichert...
Wie gesagt: So könnte man dem offensichtlichen Sachverhalt auf
den Grund gehen. Muss man aber nicht.
Man kann nämlich auch
– Armut als schweres Schicksal bedauern und daran erinnern, dass
sich hinter den ‚anonymen Zahlen konkrete Menschen verbergen‘.
Mit dieser Verschiebung von Armut auf die individuelle
Betroffenheit der Armen und die Beteuerung, dass das niemand
wollen kann, hat man deren ‚Schicksal‘ schon einmal grundsätzlich
von dem System der Marktwirtschaft abgetrennt, in dem Armut
entsteht und sich endlos reproduziert.
– darüber herum rechten, welche Formen von materieller
Beschränktheit und Opferung von Lebenszeit für den Kampf um die
immer prekäre Existenzsicherung überhaupt das Etikett ‚Armut‘ und
damit das allgemeine Mitleid verdienen. Auf diese Weise gelangt
man garantiert zu einer Definition von Armut, die sie aufs Komma
genau als Abweichung von einem rechnerischen Durchschnitt
beschreibt. Und wenn Armut die Abweichung von einem Durchschnitt
ist, dann ist damit streng mathematisch bewiesen, dass die
Millionen Fälle von Armut millionenfache individuelle Ausnahmen
von der Regel sind, die man so gleich miterfunden hat: dass beim
‚normalen‘ Arbeitsvolk von Armut jedenfalls im Prinzip keine Rede
sein kann.
– diese Millionen ausnahmsweisen Armutsfälle als Fälle eines
eingetretenen individuellen Armutsrisikos problematisieren und
die These aufstellen, dass Umstände wie Kinder,
Ausbildungsnachteile, Krankheit, Jugend, Alter … dieses Risiko
erhöhen. Auf die Weise hat man ohne großes Aufheben die
marktwirtschaftliche Verrücktheit einfach so durchgewunken, dass
mitten in einer hochgradig arbeitsteiligen und auf immer neuem
technologischen Niveau produzierenden Gesellschaft ausgerechnet
das materielle Leben und Auskommen das Abfallprodukt eines
privaten Kampfes auf sich allein gestellter Individuen ist. Nur
um diese üble Wahrheit in die Lüge zu verwandeln, dass dann die
Gründe für ein ‚Abrutschen in die Armut‘ in den privaten
Lebensumständen der Einzelnen liegen müssen – die sich wie durch
ein Wunder allesamt bei denen einfinden, die auf Erwerbsarbeit
angewiesen sind und die regelmäßig zu spüren bekommen, dass sich
diese Abhängigkeit nicht mit einem ordentlichen Leben, nicht mit
Kinderkriegen, Alleinerziehen und Alleinverdienen, nicht mit
Krank- und Altwerden... verträgt
– schließlich vom Staat „Beschäftigungspolitik“ fordern. Auf die
Weise hat man dann endgültig Lohnarbeit in das Gegenteil von
Armut verwandelt. Peinlich ist das nicht nur deswegen, weil
zugegebenermaßen Armut in der Marktwirtschaft die Lage oder das
Risiko just derjenigen ist, die auf Lohnarbeit angewiesen sind.
Sondern obendrein erfährt man doch auch, dass der Staat dem
Begehr nach möglichst vielen Arbeitsplätzen am effektivsten
dadurch Rechnung trägt, dass er gesetzliche Bedingungen des
„Arbeitgebens“ schafft, die allesamt eine Stoßrichtung haben: Sie
zielen darauf, das Verhältnis von Lohn und Leistung für die
kapitalistischen Unternehmen zu optimieren, also für die
Arbeitenden möglichst ununterscheidbar von den Sorten von Armut
zu machen, gegen die Beschäftigung das Allheilmittel sein soll.
Damit wird – ganz nebenbei – eingestanden, was die wirkliche
Unterscheidung ist, die die Marktwirtschaft zwischen ‚echter‘
Armut und allen anderen prekären Formen des Auskommens überhaupt
nur kennt: Armut liegt marktwirtschaftlich betrachtet und als
Problem seiner staatlichen Betreuer nur dort vor, wo
Arbeitskräfte nicht kapitalistisch produktiv genutzt werden, wo
sie also nicht in der Doppeleigenschaft als möglichst weidlich
auszunutzender Produktionsfaktor und zugleich sparsamst zu
kalkulierender Kostenfaktor gewinnbringend zur Anwendung kommen.
Und Linke, allen voran die gleichnamige Wahlpartei samt ihrer
Vordenkerin Wagenknecht? Auch die wollen von Lohnarbeit und der
schäbigen Stellung, die ihr im System kapitalistischer
Reichtumsproduktion zukommt, nichts mehr wissen. Lieber rufen sie
„Sozial statt Krise!“ So geben sie zu Protokoll, dass ihnen gegen
die Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus gegen die Nöte und
Notwendigkeiten seiner dienstbaren Massen kein anderes Argument
einfällt, als dass er sich damit am Ende noch ins eigene Fleisch
schneidet. Und mit der Parole „Reichtum umverteilen“ ergänzen sie
diesen Opportunismus um eine nicht minder große Lüge: Der
Reichtum des Kapitalismus sei letztlich doch so etwas wie ein im
Prinzip für alles verwendbarer großer Topf, der leider die
Tendenz hat, immer zu der Seite derjenigen hin überzulaufen, die
ihn nicht erarbeiten, sondern erarbeiten lassen. Für die Linke
bedarf es bloß der beherzten Umverteilungspolitik des Staates,
der sich mehr an diesem Reichtum bedienen und ihn dann zu denen
hinlenken soll, die ihn schaffen, aber immer weniger zu Gesicht
bekommen. Wie sie auf die Albernheit kommen, der Grund für Armut
sei ihre fehlende staatliche Bekämpfung das bleibt das Geheimnis
der Linkspartei. Ebenso wie die Idee, ausgerechnet der Staat, der
dieses System nützlicher Armut einrichtet, könnte genauso gut für
alles Gute und Schöne zu haben sein. Kein Geheimnis ist dagegen,
wofür sie ihr Publikum mit diesem Mist behelligen: Sie bieten
sich allen materiell Unzufriedenen als alternativ wählbare
Armuts- und Reichtumsbetreuer an. Auch Linke legen heutzutage die
vom Kapitalismus per Benutzung oder per Nichtbenutzung
Geschädigten auf die Perspektive fest, dass sie bloß ohnmächtige
und abhängige Anhängsel wirtschaftlicher Kalkulationen und
staatlicher Regelungen sind, und dass das, was sie gegen ihre
Armut tun können, nur in einem besteht: Statt eigener Einmischung
ein Kreuz für die Linke in die Wahlurne!
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