Lampedusa und anderswo - Andauerndes Massensterben an Europas Grenzen: Das Grenzregime im grenzenlosen Kapitalismus
2 Stunden 58 Minuten
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Beschreibung
vor 12 Jahren
1.
Anfang Oktober kentert vor Lampedusa ein hoffnungslos überladenes
Schiff voller Afrikaner. Die Bilanz sind ca. 300 Tote. Die
allgemeine Aufregung ist groß. Eine „humanitäre Katastrophe“ wird
konstatiert. Das ist heftig: Also erst wenn das alltägliche
Ertrinken, Verhungern und Verdursten von „Flüchtlingen“ im
Mittelmeer das seit Jahren gewohnte Maß übersteigt, ist eine
politische Trauergemeinde hochrangiger Politiker zur Stelle -
dann aber auch sofort. Die breitet ihr „Entsetzen“ vor den bereit
stehenden Reportern aus und versichert, alles zu tun, was in
ihrer Macht stehe, damit so eine „Tragödie“ nicht mehr passieren
kann: „Das Mittelmeer darf kein Massengrab werden!“ heißt der mit
viel humanem Impetus vorgebrachte Aufruf. Und genau so meinen sie
es auch: Es muss doch möglich sein, dass der Ausbau ihres
Kontinents zu einer „Trutzburg“ gegen "Flüchtlingsströme" ohne
diese ständigen Leichenberge an Europas Grenzen voran geht! Das
ist ihre Sorge und entsprechend sieht es aus, wenn Politiker den
Schutz von Flüchtlingen zu ihrer humanitären Sache machen. Allein
über besseren Schutz der boatpeople vor den tödlichen
Konsequenzen ihrer eingerichteten Grenzschutzmaßnahmen beraten
sie. Der Schutz dieser armseligen Kreaturen vor jenen Umständen,
die sie zur Flucht gezwungen haben, ist die Sache der
EU-Politiker nicht. Wie auch? Sie gehören ja zu den Urhebern
jener "Lage", der sich Millionen Afrikaner durch Flucht zu
entziehen versuchen.
2.
Ihrem Interesse an einer Zurichtung der Welt als Quelle von
Kapitalreichtum ist es nämlich zu verdanken, dass inzwischen bis
ins entlegenste Dorf in Afrika die heimischen Lebensverhältnisse
durch Geldwirtschaft beherrscht werden. Für jedes Lebensmittel
und jedes armselige Produktionsmittel muss gezahlt werden - auch
wenn es dort an jeder regelmäßigen Verdienstgelegenheit fehlt.
Noch die letzten erbärmlichen Einkommensquellen der Einheimischen
werden z.B. durch europäische Fischfangflotten vor Afrikas Küsten
oder durch Billigexporte von Hühnerabfall ruiniert. Ganze
Völkerschaften gehören dann, immer gemessen am Bedarf des
globalisierten Kapitalismus an Arbeitskräften zur überschüssigen
Weltbevölkerung, mit der kein Geld und kein Staat zu machen ist.
Kriege und andere "Katastrophen", an denen die "modernen
Industriestaaten" ebenfalls und nicht nur mit Lieferung von
Waffen aus ihren Rüstungsschmieden beteiligt sind, komplettieren
das Szenario von Verwüstung, Elend und Unterdrückung.
3.
Diesen verheerenden Verhältnissen kann eine große Zahl der
betroffenen Menschen erst gar nicht entkommen. Sie vegetieren vor
Ort, nicht imstande, die Strapazen einer Flucht auszuhalten; wenn
sie denn überhaupt wüssten, wohin sie fliehen sollten. Andere
machen sich auf in angrenzende Länder, dürfen sich dort dauerhaft
in Lagern einrichten, betreut von westlichen Hilfsorganisationen,
die mit Zelten, Decken und jenem Milchpulver, zu dem hiesige
Milchüberschüsse verarbeitet werden, demonstrieren, dass "wir"
die "Ärmsten der Armen" nicht im Stich lassen. Und dann gibt es
noch die vergleichsweise geringe Anzahl der so genannten
Flüchtlinge. Das sind die Menschen, die irgendwie das Geld für
jene geschäftstüchtigen Banden aufbringen, Schlepper und
Schleuser genannt, deren Geschäft auf der Überlebensnot der
Flüchtlinge basiert. In zwangsläufig überfüllten Booten
unternehmen diese Flüchtlinge dann den Versuch, möglichst
lebendig das europäische Festland zu erreichen. Allein diese
Menschen stellen die "Flüchtlingsströme" dar, von denen sich
Europa bedroht sieht. Damit steht die Welt gänzlich auf dem Kopf:
Da wird ein ganzer Kontinent rücksichtslos für westliche
Interessen zugerichtet und dann leidet Europa an einem gerade
dadurch losgetretenen "Flüchtlingsproblem". Nicht sie, die
Flüchtlinge haben also ein existenzielles Problem, wenn sie
nirgends eine Bleibe finden - sie selbst sind das Problem. Europa
definiert sich als Opfer einer Lawine seiner eigenen
Armutskreaturen, die auf die Grenzen zurollt.
4.
Klar ist damit: Diese Menschenspezies hat keinen Zutritt und darf
ihn nicht erhalten. Jedenfalls keinen, über den nicht die Staaten
wirksame Kontrolle und Entscheidungshoheit haben. Und genau
dieser Beschluss zur Grenzziehung gegenüber Menschen, die hier
als Treibgut der „Globalisierung“ anlanden, ist die politische
Grundprämisse aller „Flüchtlingspolitik“: Diese Elendsgestalten
haben keinerlei Rechtsanspruch auf Aufnahme in einem europäischen
Land da mögen sie noch so sehr kurz vor dem Verhungern oder
Verdursten stehen. Einen irgendwie gearteten Anspruch auf Hilfe
sieht das Flüchtlingsrecht nicht vor. Dass die Flüchtlinge etwas
brauchen, nämlich etwas zum Überleben, taugt nicht als
Richtschnur staatlichen Handelns. Dessen Gehalt ist ebenso
einfach wie brutal: Als erstes werden die Grenzen dicht gemacht;
Europa will sich die Flüchtlinge wirksam vom Hals schaffen und
halten. Zweitens ist mit der Neufassung der Asylgesetze geregelt,
wie man die widerrechtlich Eingedrungenen schnell und rechtlich
einwandfrei wieder los wird. Und drittens wird schon mal darauf
geschaut, ob sich unter den Eindringlingen Menschen befinden, mit
denen sich in den Zentren des europäischen Kapitalismus als
Tagelöhner in der Ernte oder beim Bau etwas anfangen lässt. Im
Unterschied zu auswärtigen IT-Fachkräften, die deutsches Wachstum
beflügeln sollen oder syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die als
lebende Kronzeugen der „Unmenschlichkeit des Assad-Regimes“ von
Nutzen sind, ist bei den „Armutsflüchtlingen“ aber erst einmal
keine Brauchbarkeit in Sicht. Ohnehin sind die meisten von ihnen
von vornherein als "Wirtschaftsflüchtlinge" deklariert, für die
es nicht nur keine Verwendung gibt, die vielmehr - Frechheit! -
"unsere Sozialsysteme unterwandern". Damit ist die zur
europäischen Staatsräson gewordene Sortierung rechtlich exakt
hergestellt.
5.
An den Grenzfestungen wird - dies ist für die EU-Politik die
einzig logische Konsequenz aus Lampedusa - generalstabsmäßig
weiter gearbeitet. Die Frontex-Schiffe bekommen neue Order: Sie
sollen möglichst keines der Flüchtlingsschiffe vor Europas Küsten
auftauchen lassen, sie abdrängen, ihre Rückfahrt begleiten, dabei
auch - das ist die humanitäre Seite ihrer Mission - schon mal
Flüchtlinge retten und sie dann irgendwo in Afrika an Land
abladen. Ausgreifend werden nordafrikanische Staaten dafür
eingespannt: Sie sollen den Schleppern das Handwerk legen, damit
Europa der Anblick der boatpeople erspart bleibt; sie sollen
Schwarz-afrikaner auf ihrem Weg nach Europa internieren und
zurückschicken. Am besten ist es, wenn schon die Heimatstaaten
dafür sorgen, dass niemand die Flucht aus seinen elendigen
Lebensverhältnissen in Richtung Europa antritt. Das kommt dann
wohltönend als „Bekämpfung der Fluchtursachen“ daher. Wenn erst
gar kein Flüchtling eine europäische Dienststelle erreicht, um
seinen Asylantrag zu stellen, dann werden zudem auch keine
Leichen an europäischen Stränden angeschwemmt und dann ist die
humane Flüchtlingspolitik am Ziel.
6.
Die Flüchtlinge, die durchkommen, sind: Illegale. Das ist
ebenfalls kein Merkmal, das sie irgendwie an sich haben. Es ist
vielmehr der Rechtsstatus, der ihnen zugeordnet wird, und in dem
alle „Einzelschicksale“ aufgehen: Für wen Europas Regierungen das
„Trennende“ ihrer Grenzen nehmen oder aufrecht erhalten, das ist
- längst bevor noch so ein armes Wesen sich auf den Weg nach
Europa macht - in dem umfangreichen Rechtswerk kodifiziert, mit
dem sie die weltweite „Migration“ sortieren. Es mag makaber sein,
wenn den Überlebenden von Lampedusa mit ihrer „Rettung“ in
Italien gleich die Strafanzeige wegen illegalen Grenzübertritts
angekündigt wird –
zeigt aber das unerbittliche Rechtsprinzip, auf das sich alle
„Flüchtlingspolitik“ stützt. An dem ändert sich nichts, wenn
andere europäische Staaten mit dem Status der Illegalität das
Recht verbinden, einen Asylantrag zu stellen, der dann -
ebenfalls nach gültigen Rechtsvorschriften und in ca. 98% aller
Fälle abgelehnt werden kann. So wird dann der rechtsgültige
Status des unrechtmäßigen Aufenthalts durch Abschiebung beendet.
7.
Dagegen regt sich Protest. Menschen, die dieses Elend aufregt,
machen in Großdemonstrationen die Bevölkerung auf die Lage der
Flüchtlinge und auf ihre Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU
aufmerksam. Sie organisieren Hilfen für Flüchtlinge, die es bis
hierher geschafft haben, und versuchen sich an ihrem Schutz vor
dem Zugriff der Staatsmacht, die sie am liebsten gleich wieder in
jene "sicheren Drittstaaten" abschieben möchte, über die sie nach
Europa gelangt sind. Das ist verständlich. Weniger verständlich
ist es, wenn sie ihre Kritik in der Forderung nach einem
"Bleiberecht" für die hier Gestrandeten zusammenfassen. Der Sache
nach ist das nichts als eine Einmischung in jene
Flüchtlingspolitik, die die Protestierer zugleich als
"menschenverachtendes" Staatshandeln kritisieren und vor der sie
mit Menschenketten die Lampedusa-Flüchtlinge beschützen. Das kann
doch wohl nicht angehen, dass sie den Rechtsstaat, der die
"Duldung" von Flüchtlingen als die "vorübergehende Aussetzung der
Abschiebung" definiert, zu einer gemeinsamen Verantwortung
aufrufen. Auch darüber wurde diskutiert.
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