Wissenschaftskritik - Geschichte: Die Verwechslung von Begriff und Genese
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Beschreibung
vor 11 Jahren
Historiker halten bei allen Gegenständen die immer gleiche
Bestimmung fest, Produkt der Geschichte zu sein. „Die
Geschichtswissenschaft gründet auf der Überzeugung, dass die
Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgeht”, heißt es. Das Wesen
der Dinge liegt damit in ihrem Bewirktsein durch Anderes,
Früheres. Ein Historiker will „die gegenwärtige Welt als
historisch gewordene erklären“. Die Kardinalfrage des Historikers
lautet: Wie ist es zum Gegenstand meines Interesses gekommen?
Eine geschichtliche Erklärung liegt immer in der Entstehung.
Ursache ist immer der Ursprung. Geschichte ist für einen
Historiker nicht das, was erklärt werden soll, sondern das, womit
alles erklärt werden muss. Es geht nicht um die Erklärung
geschichtlicher Phänomene, sondern um die geschichtliche
Erklärung der Phänomene.
Damit ist eine entscheidende Weiche gestellt: Der Schlüssel zur
historischen Erkenntnis eines Gegenstandes liegt programmatisch
außerhalb des Gegenstands in dessen ‚Vorgeschichte’. Um einen
Gegenstand zu erklären, wendet sich der Gedanke im Rückwärtsgang
von ihm ab und vorausgehenden, oft weit zurückliegenden
Geschehnissen zu. Der Gedanke entfernt sich damit von seinem
Gegenstand, um sich im weiten Feld seiner Vorgeschichte nach
Entstehungsbedingungen umzutun, die seine Entstehung bewirkt
haben sollen. Das heißt nicht, dass über den zur Debatte
stehenden Gegenstand nichts gesagt worden wäre. Mit dem
Erklärungsprinzip ‚Vorgeschichte’ ist er kategorisch als Wirkung
früher datierender Ereignisse identifiziert. Und die zur
Erklärung herangezogenen Begebenheiten der Vorgeschichte haben
auch schon ihre spezifisch historische Qualität abbekommen: Sie
sind Ursache für Späteres. Jedes Phänomen wird von der Warte
eines anderen aus rezipiert. Die historischen Phänomene geben
sich – unter der Ägide ihres Interpreten – wechselseitig ihren
Begriff. Die Identität einer Sache wird damit in dem angesiedelt,
was sie nicht ist. Jeden Gegenstand lässt der Historiker in die
Verhältnisse zerfallen, deren Ergebnis er sein soll bzw. für die
er als Bedingung oder Ursache zitiert werden kann. Nichts gilt
für sich, nichts muss folglich hinsichtlich seiner Qualitäten
bestimmt werden. Die Begriffslosigkeit ist Programm. „Die
Historie lässt die Gegenwart in die Vergangenheit vergehen.“ In
der Tat: Historische Erklärungen verlaufen sich in der
Vorgeschichte ihres Themas.
Die solchermaßen konstruierten geschichtlichen Zusammenhänge sind
notwendig abstrakter Natur: Wer sich von vornherein einen Begriff
des zu erklärenden Gegenstand erspart, kann unmöglich seine
notwendigen Entstehungsbedingungen darlegen. Deswegen sind trübe
Prädikate wie ‚führte zu’, ‚mündete in’, ‚brachte hervor’, ‚hatte
Einfluss auf’, ‚war Voraussetzung für’, ‚hängt zusammen mit’,
‚bahnte an’ und am schönsten: ‚zeitigte’ die allgegenwärtigen
Formeln zur Erzeugung eines Scheins historischer
Folgerichtigkeit. Das reflektiert diese Wissenschaft nicht als
Manko. Im Gegenteil: Es eröffnet ihr eine immense Freiheit der
Interpretation: ‚Jede Generation muss ihre Geschichte neu
schreiben’, sagt man sprichwörtlich. Man kann sich darauf
verlassen, dass die historische Weisheit immer aktuell ist.
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