Vom Wahnsinn des kapitalistischen Wachstums - Und vom Unsinn der „Wachstumskritik“, die vom Kapitalismus nichts wissen will
2 Stunden 34 Minuten
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vor 11 Jahren
„Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum keine
Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für die Bildung, ohne
Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Und umgekehrt: Mit
Wachstum Investitionen, Arbeitsplätze, Gelder für die Bildung,
Hilfe für die Schwachen und am wichtigsten Vertrauen bei den
Menschen.“
So hat es Bundeskanzlerin Merkel angesichts der Krise vor ein
paar Jahren auf den Punkt gebracht: Das Wachstum der Wirtschaft
ist der oberste Imperativ demokratischer Politik, weil ohne
Wachstum nichts gehe, mit Wachstum aber viel von dem möglich sei,
was sich jede und jeder Einzelne und wir uns alle zusammen an
Gutem und Schönem vorstellen sollen. Das gilt so grundsätzlich,
so unumstößlich und als so urvernünftig, dass die Kanzlerin eine
Begründung für diesen Zusammenhang gar nicht für nötig erachtet.
Und schon gleich nicht eine Auskunft darüber, was da eigentlich
wachsen muss, damit Politik und Wirtschaft die Werke tun können,
die sie als gute anpreist.
Selbstverständlich ist das nicht. Denn merkwürdig ist es schon,
dass es einer permanenten Vergrößerung des Geldreichtums der
Gesellschaft bedürfen soll, um alle möglichen materiellen
Interessen überhaupt auf auch nur gleichbleibendem Niveau zu
bedienen. Wenn dann noch die Frage gewälzt wird, ob „das Wachstum
endlich bei den Menschen angekommen“ sei, dann bekennen sich alle
an dieser Erörterung Beteiligten ja auch dazu, dass es mit diesem
lebensdienlichen und Vertrauen stiftenden Zweck des Wachstums
nicht weit her ist. Offen besprechen sie die Bedürfnisse der
Leute als das bloße Abfallprodukt eines Wirtschaftswachstums, das
seinen Zweck und seinen Inhalt in etwas anderem hat als in einem
möglichst guten Leben für möglichst viele Menschen. Das Wachstum
ist nicht für die da, denen da Leistungen des Wachstums
versprochen werden – sie sind von dem Wachstum abhängig, das sich
für die Wirtschaft und den Staat in wachsendem Geldvermögen
bilanziert. Worauf sich die Kanzlerin also beruft, das ist der
Vorrang des nationalen Reichtums, den die Politik kommandiert und
von dem der Staat alle Lebensverhältnisse abhängig gemacht hat.
Das ist zwar unschön genug, aber leider noch nicht einmal die
ganze unschöne Wahrheit über das Verhältnis von
Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt der 'Menschen'. Denn alle
wissen ja auch: Wenn die zuständigen Politiker ihrem Volk mit dem
Postulat 'Wachstum' als Bedingung der Machbarkeit des Wünschbaren
kommen, dann werben sie für die wachstumsdienlichen Konsequenzen,
die sie mit ihrer Politik praktisch ins Auge fassen. Und die
passen endgültig nicht mehr zur Vorstellung, Wachstum sei
Bedingung und Mittel für allseitiges Wohlergehen. Wenn sich die
Verantwortlichen praktisch daran machen, mit ihrer Politik „das
Wachstum zu fördern“ dann betrachten und behandeln sie nämlich
die postulierten schönen Effekte des Wachstums als ebenso viele
Schranken und Hindernisse dafür: Löhne und Gehälter, also die
„Teilhabe der Menschen“ am wirtschaftlichen Lauf der Dinge,
dürfen auf keinen Fall zu hoch werden; andernfalls wird ihnen die
Fähigkeit zugeschrieben „das Wachstum abzuwürgen“ oder auch
„Investoren abzuschrecken“. Auch soziale Leistungen, Umwelt- und
Arbeitsschutzregelungen usw. usf. fallen ganz schnell dem
Verdacht anheim, das Wachstum zu beschädigen. Und um wen es dabei
geht, wessen materielle Interessen da auf dem Spiel stehen, ist
auch klar: „Die Wirtschaft“, das sind die Unternehmer, denen man
als den notorischen „In vestoren“, „Arbeitgebern“,
„Mittelständlern“ auf keinen Fall mit zuviel Kosten das Geschäft
verderben darf. Es ist nämlich ihr Wachstum, von dem in unserer
Gesellschaft alles abhängig gemacht ist, ihr Wachstum, für das
sie sich des Materialismus der Massen als Arbeitskräfte und
zahlende Kunden ebenso bedienen, wie sie ganz selbstverständlich
die Nützlichkeit jeder politischen Maßnahme für ihr Wachstum
einklagen.
Auch das geht wie selbstverständlich durch: ‚Das Wachstum‘, auf
dessen harte Sachnotwendigkeiten die arbeitende Menschheit im
Lande immer wieder neu eingestimmt und verpflichtet wird, ist
kein Gemeinschaftswerk der dafür Zuständigen. Da wird nicht
gemeinschaftlich Nützliches und Notwendiges geschaffen; die
'Wirtschaft', die 'wachsen' muss, das sind die um ihren
wachsenden Geldreichtum gegeneinander konkurrierenden
Unternehmen. Denen liegt jeder Gedanke, jede Rücksicht auf so
etwas wie Volkswohl und Mehrung der gesellschaftlich verfügbaren
Mittel fern, sie nehmen umgekehrt die ganze Gesellschaft in
Beschlag dafür, dass ihre Geldrechnungen aufgehen. Und auch das
ist nicht unbekannt: Mit ihrer Konkurrenz um ihr jeweiliges
Geschäftswachstum produzieren sie regelmäßig Wachstumskrisen, in
denen von allem auf einmal zuviel da ist, zuviel für ihre
Geschäftsansprüche – zuviel Arbeitsplätze, die sich für die
Anwender der Arbeitskräfte nicht lohnen, zuviel Güter, die sich
nicht verkaufen lassen, zuviel Produktionsanlagen, die sich nicht
rentieren. Das alles ist dann nichts wert, wird brachgelegt, weil
nicht ‚wachstumstauglich‘. Dann machen sich Unternehmen erst
recht an den zu hohen Kosten des Arbeitsvolks als
‚Wachstumshindernis‘ zu schaffen.
Und finden Unterstützung bei der Politik. Denn bei der und nur
bei der gibt es den Standpunkt ‚des Wachstums‘: Der Staat
bilanziert die Resultate der Unternehmerkonkurrenz um ihr
Gewinnwachstum als seinen nationalen Reichtum, von dem er lebt.
Als Manövriermasse für deren und damit sein Geldwachstum
organisiert und kommandiert er sein Volk. – damit ‚das Wachstum‘
zustande kommt, ohne dass ja nichts geht... s.o.
Es gäbe also genug Fragen: Worin besteht eigentlich die
ökonomische Substanz des ‚Wirtschaftswachstums‘? Wie kommt es
überhaupt zustande und warum fallen seine Resultate regelmäßig so
einseitig aus? Wie kommt es, das eine Ökonomie, die sich dem
‚Wirtschaftswachstum‘ verschreibt, regelmäßig dessen Einbruch und
Zusammenbruch produziert, und dann tatsächlich alle
Lebensverhältnisse in Frage stehen? Was ist das für ein Wachstum,
das als allgemeinen Zweck überhaupt keiner der wirtschaftenden
Akteure verfolgt? Und warum und wie macht sich der Staat mit
seiner Gewalt zu dessen Anwalt? Vielleicht produziert ja das
Wachstum all die Notlagen und die als ungerecht beklagten
Verteilung, als deren Abhilfe die Kanzlerin das Wachstum
anpreist...
Die paar Kritiker marktwirtschaftlichen Wachstums, die es gibt,
halten sich mit solchen Fragen und den Ungereimtheiten
marktwirtschaftlicher Wachstumsapologetik nicht weiter auf. Die
negativen Wirkungen für die Betroffenen, Umwelt usw. verbuchen
sie als Folge einer falschen Einstellung zu Möglichkeiten und
Grenzen ‚des Wachstums‘. Sie nehmen die ideologischen Versprechen
der Politik hinsichtlich der Segnungen des Wachstums wie den
eigentlichen Gehalt und Zweck des Wachstums und seiner
politischen Förderung, vermissen deswegen bei deren Einsatz für
nationales Kapitalwachstum die ‚gesellschaftliche Verantwortung‘
und machen sich für ein Wachstum ohne all die negativen
Wirkungen, ein ‚nachhaltiges‘, ‚begrenztes‘, ‚qualitatives‘ …,
stark. Und sie nehmen die Unterordnung aller Lebensverhältnisse
unter die ‚Sachnotwendigkeiten‘ ‚kapitalistischer Geldvermehrung
wie ein verfehlte, alle Gesellschaftsmitglieder, Kapitalisten,
Arbeiter, Konsumenten, eben ‚die Menschen‘ einigende falsche, auf
'immer mehr' gerichtete Stellung zu Bedürfnissen und deren
Befriedigung und denken sich von daher Korrekturen ausgerechnet
an den abhängigen Interessen und deren gesellschaftlicher
Regelung aus. Die einschlägigen ‚Modelle‘ laufen regelmäßig auf
auf Änderung der hierzulande angeblich herrschenden
‚Einstellung‘: des ‚Konsumismus‘ heraus, verlangen ‚Umdenken‘ im
allgemeinen und v e r a n t w o r t u n g s v o l l e B e s c h r
ä n k u n g i m besonderen... Womit Wachstumskritik also vor
allem eines ist: eine neue Variante von Antikritik am
Kapitalismus und seinen widrigen bis zerstörerischen Konsequenzen
für die Grundlagen, Bedingungen und Mittel des Lebens der Leute.
Veranstalter: Arbeitskreis Gegenargumente
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