71. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 305, K07, III

71. Luhmann Systemtheorie: Recht der Gesellschaft, S. 305, K07, III

Gerichte treffen Entscheidungen, indem sie das Re…
1 Stunde 8 Minuten
Podcast
Podcaster
Ulrike Sumfleth und Joachim Feltkamp sind Luhmani…

Beschreibung

vor 7 Monaten
Gerichte treffen Entscheidungen, indem sie das Recht „anwenden“ und
Gesetzestexte interpretieren – sollte man meinen. Wie nebenbei
entwickeln sie dabei jedoch umfangreiche Regelwerke, so etwa die
Zivilprozessordnung, in denen sie festlegen, auf welche Art und
Weise die Entscheidungsfindung abzulaufen hat. Dieses sogenannte
„Richterrecht“ ist vordergründig zwar nur ein Nebenprodukt der
Gerichtstätigkeit. Im Einzelfall kann es jedoch bedeutsamer sein
als das Gesetzesrecht! Hierin zeigt sich erneut das zirkuläre und
keineswegs hierarchische Verhältnis zwischen Politik und Recht:
RichterInnen wenden eben nicht nur einfach Gesetze an. Sie
„schaffen“ selbst das Recht, das sie „anwenden“. Diese Paradoxie,
dass die Gerichtsentscheidung aus der Logik des Rechts abgeleitet
wird, wird in der Praxis jedoch regelmäßig invisibilisiert. Statt
von „Richterrecht“ wird dann etwa von „Erkenntnisquellen“ des
Rechts gesprochen. Eine derartige Autonomie war nur möglich, indem
sich das Recht als System selbst ein „Verbot der
Justizverweigerung“ auferlegt hat. Das Verbot bedeutet, dass
Gerichte jeden vorgelegten Fall entscheiden müssen – auch wenn kein
entsprechendes Gesetz vorliegt, auch wenn der Fall unentscheidbar
ist. Trotzdem muss ein Urteil gefällt werden. Andernfalls hätte
sich das Recht als System gar nicht operativ schließen können. Man
müsste dann unentscheidbare Fälle an den Gesetzgeber „zurückgeben“
und abwarten, ob dieser die Gesetzeslage so ändert, dass ein Urteil
mit Bezug auf den neuen Gesetzestext möglich wird. Ein solches non
liquet hat sich das Rechtssystem aus guten Gründen selbst verboten.
Stattdessen hat es sich unter Entscheidungszwang gesetzt. Und
dieser Zwang macht es nun notwendig, laufend Regeln zu entwickeln,
wie zu entscheiden ist, auch wenn der Fall unentscheidbar ist.
Anm.: In unserem Podcast verweisen wir an dieser Stelle darauf,
dass alle Funktionssysteme im Umgang mit ihrer Kernfunktion so
verfahren. Egal, wie paradox, unentscheidbar oder unbequem eine
Anforderung jeweils ist, die Wirtschaft ist für ausnahmslos alle
Fragen zu Zahlungsoperationen zuständig, die Medizin für alle
Fragen zur Heilbarkeit/Unheilbarkeit von Krankheiten, das
Erziehungssystem für alle Erziehungsfragen usw. Die operative
Schließung verlangt es, jeden „Fall“ systemintern nach jeweils
eigenen Normen zu rekonstruieren und ihn auf Basis des jeweiligen
Codes zu entscheiden. Das wirft die Frage auf, was eine
Entscheidung ist. Jenseits der Entscheidungstheorien zu Fragen der
„Rationalität“ und „Vernunft“ bleibt die Grundfrage, was die
Entscheidung selbst ist, denn sie ist nicht einfach ein letztes
Argument. Da das Gerichtsurteil im Zentrum des Rechts steht,
erscheint eine tiefere Beschäftigung damit angebracht. In der
Theorie sozialer Systeme ist eine Entscheidung eine Differenz,
nämlich: die Differenz zwischen mindestens zwei Alternativen. Oder
genauer: die Einheit dieser Differenz. Die Entscheidung ist das von
den Alternativen ausgeschlossene Dritte. Eine Entscheidung setzt
voraus, dass die Situation prinzipiell unentscheidbar ist – also
nicht bloß: noch nicht entschieden. Denn nur wenn prinzipielle
Unentscheidbarkeit vorliegt, muss überhaupt entschieden werden. Der
Faktor Zeit spielt bei Entscheidungen eine wichtige Rolle. Zeit ist
eine Form, mit deren Hilfe Ereignisse in der Umwelt unterschieden
und bezeichnet werden. So wird das nicht mehr Änderbare als
Vergangenheit und das noch Änderbare als Zukunft bezeichnet. Die
Gegenwart ist die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft,
genauer: die Einheit dieser Differenz. Vollständiger Text auf
luhmaniac.de

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