Erprobung eines Training der sequentiellen Analyse akustischer Reize bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung

Erprobung eines Training der sequentiellen Analyse akustischer Reize bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung

Beschreibung

vor 17 Jahren
Die Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) ist durch eine spezifische
Störung des Erlernens der Schriftsprache bei normaler Intelligenz
und adäquater Unterrichtung gekennzeichnet und betrifft mindestens
4 % der Bevölkerung. Eine familiäre Belastung wird häufig
beobachtet, dennoch sind Ätiologie und Pathophysiologie dieser
Störung unbekannt. Immer mehr Forschergruppen haben sich in den
letzten Jahren mit den Ursachen von
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten auseinandergesetzt. In zahlreichen
Studien an Patienten mit einer Aphasie nach linkshemisphärischen
Verletzungen der Großhirnrinde (Efron 1963, Tallal & Newcombe
1978, v. Steinbüchel et al. 1999), Kindern mit
Sprachentwicklungsstörungen (Tallal & Piercy 1973), sowie
Kindern und Erwachsenen mit Dyslexie (Tallal 1980, Hari &
Kiesilä 1996, Überblick bei Farmer & Klein 1995) konnten
Defizite in der zeitlichen Verarbeitung schnell dargebotener
Stimuli nachgewiesen werden. So benötigen Legastheniker deutlich
längere Interstimulusintervalle um vor allem jene Konsonanten
wahrzunehmen, deren Formanten einen raschen Wechsel durchmachen.
Zur Beurteilung zeitlicher Verarbeitungsmechanismen wird dabei
häufig die Ordnungsschwelle bestimmt. Sie ist definiert als die
Dauer eines Interstimulusintervalls, die notwendig ist, um zwei
zeitlich aufeinander folgende Reize zu unterscheiden und sie in
ihre zeitliche Reihenfolge zu bringen. Basierend auf diesen
empirischen Beobachtungen wird der kausale Zusammenhang zwischen
Zeitverarbeitungsdefiziten und Störungen der Laut- und
Schriftsprache diskutiert und veranlasste einige Forschergruppen
zur Entwicklung von geeigneten Trainingsmethoden. Diese hatten
nicht nur das Ziel, die zeitliche Diskriminationsfähigkeit rasch
aufeinander folgender Stimuli zu steigern, sondern auch
gleichzeitig die laut- und schriftsprachlichen Leistungen zu
verbessern (Merzenich et al. 1996, v. Steinbüchel 1995, Warnke
1993). Allerdings wird die Effektivität dieser Trainingsverfahren
von einigen Autoren in Frage gestellt, zumal viele der bisher
veröffentlichten Studien methodische Mängel aufweisen und eine
Interpretation der Ergebnisse erschweren. In dieser Arbeit sollte
nun geprüft werden, ob die zeitliche Diskriminationsfähigkeit durch
ein Zeitverarbeitungstraining tatsächlich verbessert werden kann
und ob dann auch Transferleistungen auf das Lesen und
Rechtschreiben zu verzeichnen sind. In der vorliegenden Studie
wurden leserechtschreibschwache und sprachentwicklungsgestörte
Kinder der 5. Jahrgangsstufe untersucht. Es erfolgte eine zufällige
Aufteilung der Stichprobe in Trainings- und Kontrollgruppe. Die
zeitliche Diskriminationsfähigkeit wurde mittels Bestimmung der
auditiven und visuellen Ordnungsschwelle sowie des Richtungshörens
untersucht. Hierzu diente das Trainingsgerät Brain-Boy-Universal
der Firma MediTECH sowohl zur Erhebung diagnostischer Daten als
auch dem Training der Zeitverarbeitungsparameter. Die
Datenerhebungen zur Eingangsdiagnostik, ersten und zweiten Retest
wurden in drei Untersuchungsblöcke unterteilt und betrafen beide
Gruppen. Zwischen Eingangstest und ersten Retest fand nur für die
Trainingsgruppe die achtwöchige zusätzliche Trainingsphase der
Parameter Ordnungsschwelle und Richtungshören statt. Die Erhebung
des zweiten Retests erfolgte nach sechs trainingsfreien Monaten.
Beide Gruppen nahmen während der gesamten Untersuchungszeit am
üblichen Schul- und Förderunterricht teil. Ein Gruppenvergleich vor
Trainingsbeginn ergab für die Ordnungsschwelle und das
Richtungshören, sowie in den Lesetests keine signifikanten
Gruppenunterschiede. Lediglich die Kontrollgruppe zeigte im
Rechtschreiben signifikant bessere Testleistungen (p £ .019) im
Vergleich zur Trainingsgruppe. Beim Vergleich der Verläufe wurde
diese Ausgangswertdiskrepanz unter Einbezug der Kovariaten des
Ausgangswertes berücksichtigt. Nach dem Training kamen wir zu
folgendem Ergebnis. Durch das Zeitverarbeitungstraining wird vor
allem bei Kindern mit hohen Ordnungsschwellenwerten eine deutliche
Verringerung der auditiven und visuellen Ordnungsschwelle bewirkt.
Dieser Trainingserfolg korreliert offenbar mit dem Training selbst
und entbehrt sich einer Dauerhaftigkeit unter Trainingsabstinenz.
Dagegen wird mit dem Training des Richtungshörvermögens kein Erfolg
erzielt. Hinsichtlich der Rechtschreibleistungen zeigte der
Gruppenvergleich vom Ausgangstest zum ersten Retest einen hoch
signifikanten Unterschied. Dieser kam deshalb zustande, weil sich
die Kontrollgruppe unmittelbar nach dem Training hoch signifikant
verschlechterte, während gleichzeitig die Trainingsgruppe keine
signifikante Veränderung zeigte. Bei der Analyse der langfristigen
Veränderungen zwischen beiden Gruppen präsentierten allerdings
sowohl die Kontroll- als auch die Trainingsgruppe eine
Leistungsverbesserung, welche wahrscheinlich durch den
fortgeführten Schul- und Förderunterricht herbeigeführt wurde.
Deshalb ist eine alleinige Rückführung auf ein
Zeitverarbeitungstraining nicht möglich. Bezüglich des Lesens kann
davon ausgegangen werden, dass ein Zeitverarbeitungstraining zu
keiner deutlichen Steigerung der Lesegeschwindigkeit und
Verbesserung der Lesesicherheit geführt hatte. Der grenzwertige
Signifikanzfall betreffend des kurzfristigen Trainingseffektes auf
die Lesesicherheit in einem einzigen Fehlertest (PLT-Fehler) ist
unter Berücksichtigung, dass mehrere Signifikanzberechnungen
erfolgten (Alpha-Fehler), nicht mehr signifikant. Schließlich
lassen die Befunde der Erhebungen vom ersten zum zweiten Retest
keinen Hinweis für einen anhaltenden Trainingseffekt zu, denn die
Trainingsgruppe zeigte hierbei sogar eine Verschlechterung in der
Lesesicherheit. Da im Gesamtverlauf vom Ausgangstest zum zweiten
Retest beide Gruppen in Lesegeschwindigkeit und Lesesicherheit
besser geworden sind, wird letztlich eine Leistungsverbesserung
basierend auf einem Zeitverarbeitungstraining widerlegt und auf den
fortgeführten Schul- und Förderunterricht zurückgeführt. Die
schriftlichen Befragungen von Eltern, Lehrern und Kindern zum Thema
Zeitverarbeitungstraining lieferten kein einheitliches Bild.
Während die Eltern mehrheitlich den Trainingseinfluss trotz
fehlender objektivierbarer Trainingseffekte vorwiegend positiv
beurteilten und zudem die Fortführung eines
Ordnungsschwellentrainings befürworteten, standen Lehrer und Kinder
dem Training eher ablehnend gegenüber. Unser Nachweis über die
Trainierbarkeit der Ordnungsschwelle erbrachte weitgehend mit der
Literatur übereinstimmende Ergebnisse. Eine Stabilität der
unmittelbar trainierten Zeitverarbeitungsparameter Ordnungsschwelle
und Richtungshören ließ sich über einen längeren Zeitraum nicht
bestätigen. Transferleistungen auf Lesen und Rechtschreiben konnten
nicht beobachtet werden. Somit ist nicht davon auszugehen, dass die
aufgrund von Zeitverarbeitungstherapien berichteten Verbesserungen
spezifische Effekte eines Zeitverarbeitungstrainings sind. Da
Therapieversuche kausaler Art weiterhin umstritten bleiben und die
Lese-Rechtschreibstörung auf unspezifischen Einflussfaktoren
beruht, wäre eine symptomorientierte Therapie am sinnvollsten.

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