Auseinandersetzung mit Kraepelins Werk in den Jahren 1900 bis 1960

Auseinandersetzung mit Kraepelins Werk in den Jahren 1900 bis 1960

Beschreibung

vor 18 Jahren
Kraepelins Nosologie hat nach ihrer erstmaligen, teilweisen
Präsentation in der 5. Auflage des Lehrbuches 1896 und der
vollständigen Vorstellung in der 6. Auflage des Lehrbuches 1899 zu
vielen verschiedenen Reaktionen von Kraepelins Zeitgenossen,
Schüler und Nachfolger geführt. Kraepelin hatte ein System aus zwei
grossen Gruppen erstellt, das die bisherigen – auch bewährten –
Einteilungen radikal zerstörte. Die Kritik an dieser Dichotomie aus
Dementia praecox und manisch-depressivem Irresein ist für viele
Autoren der Hauptgesichtspunkt. Daneben findet sich Kritik am
generellen, vom Weltbild des 19. Jahrhunderts geprägten
Wissenschaftsverständnis Kraepelins, an seiner klinischen Methodik
und der Vernachlässigung der psychologischen Komponente, der andere
Schulen (BLEULER, FREUD, KRETSCHMER) wesentlich mehr Bedeutung
zumessen. Aufgabe der vorliegenden Arbeit war es, die Beurteilung
und Akzeptanz von Kraepelins Konzept der Geisteskrankheiten über
den Zeitraum von 1900 bis 1960, also von der Vorstellung der
vollständigen psychiatrischen Lehre Kraepelins 1897 bis über seinen
100. Geburtstag hinaus darzustellen. Daneben sollte die Besprechung
von Kraepelins wissenschaftlicher Grundeinstellung über diesen
Zeitraum analysiert werden. Die verschiedenen Ansichten zu
Kraepelins Nosologie und seinem Wissenschaftsverständnis lassen
sich anhand von Kraepelins Lebensdaten, historischen Ereignissen
und der Weiterentwicklung der psychiatrischen Forschung in drei
Phasen einteilen. In der ersten Phase nach Erscheinen der 6.
Auflage des Lehrbuches 1899 bis etwa 1920 wurde Kraepelins Werk
erbittert (THALBITZER) und polemisch (HOCHE) bekämpft und von
vielen weiteren Autoren bewertet. Während jedoch die meisten
anderen Autoren mit Einzelgesichtspunkten, die die Einteilung in
Subgruppen in Kraepelins Lehre betreffen, nicht einverstanden sind,
sind Kraepelins Hauptkritiker HOCHE und THALBITZER mit dem
Gesamtaufbau von Kraepelins System, der wissenschaftlichen
Grundlage und Logik nicht zufrieden Der Angriff THALBITZERS
erfolgte gegen Kraepelins Sonderstellung der Involutionsmelancholie
gegenüber den manisch-depressiven Erkrankungen. Auch die
Unterdrückung der Zustände von einfacher Manie und einfacher
Depression ohne Rezidiv und ihre ausschließliche Auflösung in der
rezidivierenden manisch-depressiven Psychose ist ein wichtiger
Diskussionspunkt (RÉGIS 1907). HOCHEs Polemik richtete sich gegen
Kraepelins Krankheitsformen im allgemeinen, die er für nicht
zielführend in der Diagnostik hält. Lediglich SOUTZO (1906) sah
Kraepelins Werk als „Quintessenz“ der modernen Psychiatrie an.
Unterstützung für Kraepelins Werk kam von DENY (1907) und DREYFUS
(1909) in der Frage der manisch-depressiven Psychosen und von
WALKER (1907) in der Frage der Dementia praecox. JASPERS (1913)
sieht in der Erstellung von Krankheitsformen eine nicht erreichbare
Aufgabe. Die Auseinandersetzung mit dem der Nosologie zugrunde
liegenden Wissenschaftsverständnis Kraepelins ist vor 1920 spärlich
(HOCHE 1906 und JASPERS 1913). Während HOCHE den gesamten
wissenschaftlichen Ansatz Kraepelins mit Polemik überzieht, ohne
Verbesserungsvorschläge machen zu können, geht JASPERS von einem
vielschichtigeren psychopathologischen Modell aus, als das strenge
morphologisch und klassifikatorisch geprägte Verständnis
Kraepelins. Nach 1920 scheint Kraepelins Werk anerkannt. Nur noch
ein Artikel mit harscher Verurteilung der fehlenden Dynamik der
Kraepelinschen Dichotomie erscheint (MEYER 1922), es überwiegen
leichte Meinungsverschiedenheiten (KRETSCHMER 1919, GAUPP 1926)
über methodische Fragen. Schon 1926 stellt GAUPP Kraepelins Werk –
trotz der bemerkten Mängel – als historische Leistung dar und
beschreibt die alle anderen Lehren verdrängende Wirkung von
Kraepelins Nosologie auf die Diagnostik der modernen Psychiatrie.
Die zweite Phase beginnt mit Kraepelins Tod im Jahre 1926 und endet
1928. Werk und Persönlichkeit des Forschers Kraepelin werden in den
Nachrufen mit Ruhm und Lob überhäuft, die Leistungen Kraepelins
werden bereits als epochal eingeschätzt (BIRNBAUM 1928). Deutliche
Ablehnung zeigen nur wenige Autoren (HENNEBERG 1926, CLAUDE 1927,
HALBERSTADT 1927) Die schärfste Kritik kommt ein weiteres Mal von
MEYER (1927), der eine Reihe sachlicher Differenzen beleuchtet und
an Kraepelins Forschungsmethode die Vernachlässigung des
konstitutionellen Hintergrundes bedauert. Zu Beginn der dritten
Phase, 1929, erscheinen zwei Artikel von GRUHLE und MAYER-GROSS mit
Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Punkten. Beide bedauern die
fehlende Einbeziehung der Psychologie in Kraepelins Werk. Die mit
MEYER (1922) begonnene Diskussion über das statisch-anatomische
Wissenschaftsverständnis Kraepelins ist hier auf dem Höhepunkt.
Dieser systematische Fehler in Kraepelins Nosologie wird jedoch mit
dem wissenschaftlichen Verständnis des 19. Jahrhunderts und den
damaligen Ansichten über den psychisch kranken Menschen
entschuldigt, denen sich Kraepelin nicht entziehen konnte. Das
Festjahr 1956 findet Kraepelins Werk in eine historische
Perspektive gestellt, die Kritik – sofern überhaupt vorhanden –
fällt milde aus. Kraepelins Werk gilt für die Autoren GRUHLE,
SCHNEIDER, WYRSCH (alle 1956), BRACELAND (1957) und KAHN (1959) als
Grundlage moderner Psychiatrie, Kraepelins Werk gilt als
unentbehrlich für die moderne Diagnostik. Ein – im Hinblick auf die
in den 60er Jahren beginnende Debatte der „Neo-Kraepelinianer“ –
früher Denkanstoß zur Überarbeitung des Systems wegen der zu
scharfen und klinisch nicht haltbaren Trennung zwischen
manisch-depressiv und schizophren kommt von CONRAD (1959).
Kraepelins Nosologie hat sich innerhalb von zwei Dekaden gegen die
vorhandenen Lehrmeinungen durchgesetzt und gilt ubiquitär seit etwa
1920, wurde zwar abgewandelt durch den „Neo-Kraepelinianismus“ und
moderne Forschungsergebnisse, ist aber als konkurrenzloses
Fundament der Psychiatrie für die Diagnostik in ICD-10 und DSM-IV
unverzichtbar. Die Anreicherung von Kraepelins System durch die
moderne Forschung zeigte zwar den Mangel des Systems an
Variabilität, aber erst durch diese Anreicherung wurde erkannt, daß
Kraepelins Nosologie kein abgeschlossenes Kapitel einer
wissenschaftlichen Meinung ist, sondern die wandlungsfähige,
weiterhin gültige Grundlage einer klinischen Einteilung.

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