Krankheitsverarbeitungsprozesse bei Tumorpatienten während und nach Strahlentherapie

Krankheitsverarbeitungsprozesse bei Tumorpatienten während und nach Strahlentherapie

Beschreibung

vor 18 Jahren
Die vorliegende Arbeit untersuchte im Rahmen einer prospektiven
Longitudinalstudie mit sechs Erhebungszeitpunkten die
Krankheitsverarbeitung bei Tumorpatienten, die sich über einen
Zeitraum von dreieinhalb Jahren an der Klinik und Poliklinik für
Strahlentherapie und Radioonkologie des Klinikums Großhaderns in
radiotherapeutischer Behandlung befanden. Trotz einer deutlichen
Zunahme an Forschungsbemühungen hinsichtlich des genaueren
Verständnisses von Krankheitsverarbeitungsprozessen bei
Krebspatienten in den vergangenen Jahren sind
Strahlentherapiepatienten bislang nur sehr selten in
Forschungsvorhaben integriert worden. Angesichts der spezifischer
Belastungen, die eine Strahlentherapie für die Patienten mit sich
bringen kann, und der stetig gewachsenen Bedeutung dieser
Therapieform bei einer Vielzahl von Tumorerkrankungen könnten
Erkenntnisse über das Copingverhalten, dessen Effektivität
hinsichtlich der Lebensqualität der Patienten sowie Erkenntnisse
über einen potentiell vorhandenen Betreuungsbedarf bei
unzureichender Krankheitsbewältigung dazubeitragen, dass
Verständnis dieses wichtigen Teilaspektes der Lebensqualität von
Tumorpatienten in der Strahlentherapie zu verbessern. Zu diesem
Zwecke gingen die Fragebögen von insgesamt 276 Patienten in die
Auswertung ein, die anhand von sechs Erhebungzeitpukten vom Beginn
der Strahlentherapie bis zu zwei Jahre nach Abschluss derselben
Datenmaterial über einen Zeitraum von zwei Jahren beeinhaltete.
Neben der Erhebung von soziodemographischen und medizinischen
Variablen wurden zu jedem der sechs Zeitpunkte vier weitreichend
klinisch erprobte und standardisierte Fragebögen ausgewertet, die
jeweils die Bereiche Krankheitsverarbeitung (FKV),
Lebenszufriedenheit (FLZ), Depression (SDS) und Krankheitsbelastung
(FBK) abdeckten. Der subjektiv wahrgenommene Bedarf an diversen
Betreuungsmöglichkeiten wurde anhand eines selbst-entwickelten
Fragebogens evaluiert. Anwendung fand für die statistische Analyse
der genannten Fragebögen das Programm SPSS für Windows unter
Anleitung und Zusammenarbeit mit dem Institut für Biometrie und
Epidemiologie des Klinikum Grosshaderns. Unter den befragten 276
Patienten waren 132 Frauen (47,8%) und 144 Männer (52,2%), was im
Vergleich zur vorliegenden, überwiegend Patientinnen-fokussierten
Literatur einer ausgewogenen Verteilung entsprach. Es konnten zudem
mehrere Studienuntergruppen anhand der Primärtumordiagnose
weitergehend untersucht werden: Patienten mit Mamma-Karzinomen
(23,6%), Lymphomen (19,2%), Tumoren im HNO-Bereich (16,7%), Tumoren
des Urogenitaltraktes (13,8%) und schliesslich Patienten mit
Primärtumoren des Gastrointestinaltraktes (13,0%). Hinsichtlich der
bevorzugten Copingmechanismen zeigte sich, dass "Aktives
problemorientiertes Coping" sowie "Ablenkung und Selbstaufbau" bei
den teilnehmenden Tumorpatienten die grösste Rolle spielten. Es
folgten in abnehmender Bedeutung die Subskalen "Religiösität und
Sinnsuche" sowie "Bagatellisierung und Wunschdenken", "Depressives
Coping" wurde am geringsten eingesetzt. Letztere Copingform zeigte
einen signifikanten Abfall über den Erhebungszeitraum hinweg (p=
0,003), ebenso wie das "Aktive problemorientierte Coping" (p <
0,001), die weiteren Copingmodalitäten blieben weitesgehend
konstant. Die wichtigsten Einzelitems des Fragebogens zu
Krankheitsverarbeitung stellten "Entschlossen gegen die Krankheit
ankämpfen", "Genau den ärztlichen Rat befolgen", "Vertrauen in die
Ärzte setzen" und "Informationen über die Erkrankung und die
Behandlung suchen" dar. Die weiterführende Analyse anhand
soziodemographischer und medizinischer Variablen ergab, dass die
weiblichen Teilnehmer an der Studie bei allen befragten
Copingstrategien höhere Werte aufwiesen als die männlichen
Patienten, signifikant waren diese Unterschiede bei den Subskalen
"Ablenkung und Selbstaufbau" (p= 0,002 - 0,047), "Religiösität und
Sinnsuche" (p= 0,001 - 0,025) sowie "Bagatellisierung und
Wunschdenken" (p= 0,047) . Ledige bzw. allein lebende Patienten
gaben höhere Werte an depressivem Coping an (p= 0,014 bzw. 0,031),
kinderlose Patienten beriefen sich desweiteren verstärkt auf Coping
mittels "Bagatellisierung und Wunschdenken" als Tumorpatienten mit
Kindern (p= 0,004 – 0,045). Mit höherem Alter der Patienten konnte
eine verstärkte Inanspruchnahme der Verarbeitungsmechanismen
"Religiösität und Sinnsuche" (p= 0,017 – 0,024) sowie
"Bagatellisierung und Wunschdenken" (p= 0,018 – 0,048) festgestellt
werden, jüngere Patienten neigten zudem eher zu einem Coping
mittels "Ablenkung und Selbstaufbau" (p= 0,001 – 0,007). Der
globale Allgemeinzustand der Tumorpatienten, evaluiert mittels des
Karnofsky-Index, wirkte sich dahingehend aus, dass Patienten mit
niedrigerem Index vermehrt depressives Coping (p= 0,014) und
"Bagatellisierung und Wunschdenken" (p= 0,020) einsetzten,
gleichzeitig aber auch weniger "Ablenkung und Selbstaufbau" (p= 0,
012) suchten und "Aktives problem-orientiertes Coping" eine
geringere Rolle spielte als bei Patienten mit besserem
Allgemeinzustand (p= 0,017 – 0,047). Der Einfluss der
Primärtumordiagnose spielte eine geringe Rolle bei der Wahl der
Krankheitsverarbeitungsmechanismen, ebenso weitere medizinische
Parameter wie der TNMStatus der Tumorerkrankung. Hinsichtlich der
Adaptivität der ermittelten Copingstrategien zeigte sich, dass
„Aktives problemorientiertes Coping“ zu Beginn und am Ende der
Strahlentherapie mit einer höheren Lebenszufriedenheit korrelierte,
jedoch über den gesamten Erhebungszeitraum kein geringeres Mass an
Belastungen oder depressiven Symptomen festgestellt werden konnte.
Coping mittels „Ablenkung und Selbstaufbau“ sowie „Religiösität und
Sinnsuche“ wies einen positiven Zusammenhang mit der ermittelten
Depressivität und den wahrgenommenen Belastungen der Patienten auf,
insbesondere nach Abschluss der Strahlentherapie. Ein wesentliches
Ergebnis dieser Studie war demzufolge die Erkenntnis, dass im
Gegensatz zu einigen vorliegenden Untersuchungen in der Literatur
keine eindeutig günstigen und die Adaptivität der
Strahlentherapiepatienten über den kompletten Studienverlauf von
zwei Jahren positiv beeinflussenden Copingmechanismen evaluiert
werden konnten. Zu allen Erhebungszeitpunkten konnte jedoch eine
erhebliche Maladaptivität im Sinne einer geringeren
Lebenszufriedenheit und hohen Depressions- und Belastungswerten bei
den Krankheitsverarbeitungsstrategien „Bagatellisierung und
Wunschdenken“ sowie „Depressives Coping“ ermittelt werden.
Patienten, die verstärkt auf „Depressives Coping“ zurückgriffen,
wiesen dabei das geringste Mass an Adaptivität aus. Eine
Identifizierung dieser Patientengruppe anhand medizinischer und
soziodemographischer Variablen mittels Cox-Regression war nicht
möglich, weiterführende Studien zu diesem Aspekt wären daher
sinnvoll und wünschenswert. Ein Vorhersagemodell dieser Arbeit
erbrachte das Ergebnis, dass Patienten mit vermehrt depressiven
Coping insbesondere ein bzw. zwei Jahre nach Ende der
Strahlentherapie einen hohen Betreuungsbedarf aufwiesen. Gewünscht
wurden vor allen Dingen Gespräche mit dem behandelnden Arzt sowie
zusätzliche Sachinformationen über Krankheit und Behandlung, ferner
Betreuungsangebote im Rahmen von Patientengruppen und pflegerische
Betreuung. Es scheint demnach von grosser Bedeutung zu sein, gerade
in der Nachsorgebehandlung nach abgeschlossener Strahlentherapie
Patienten psychosoziale Betreuung anzubieten. Wie die vorliegende
Arbeit gezeigt hatte, war der Einfluss medizinischer sowie
tumorspezifischer Faktoren auf die Krankheitsverarbeitung relativ
gering. Es scheint daher denkbar, anstelle schwer zu realisierenden
hochspezifischen Unterstützungsprogrammen einen breitgefächerten
psychoonkologischen Betreuungsapparat gerade in der Nachsorge der
Patienten zu etablieren. Verstärkte Forschung, basierend auf ein
derartiges Betreuungskonzept, wäre ein wichtiger nächster Schritt
bei der Beantwortung der Frage, wie Tumorpatienten während und nach
Strahlentherapie bei der Krankheitsverarbeitung unterstützt und
geeignete und zu einer verbesserten Adaptivität führende
Copingmechanismen auf individueller Ebene herausgearbeitet werden
können.

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15
:
: