Marieke Lucas Rijneveld "Was man sät"

Marieke Lucas Rijneveld "Was man sät"

9 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Im Jahr 2018 in der Originalausgabe in Amsterdam erschienen, ist
Marieke Lucas Rijnevelds Debütroman „Was man sät“ seit 2019 auch
beim deutschen Suhrkamp Verlag erhältlich. 2020 gewann es zudem
den International Booker Prize, wodurch sie mit nur 29 Jahren die
erste und jüngste niederländische Preisträgerin wurde.


Die Geschichte setzt ein, als die Protagonistin, die nie
namentlich genannt, sondern von allen nur mit dem Spitznamen
Jacke angesprochen wird, 10 Jahre alt ist. Sie lebt mit ihrer
Familie, bestehend aus den zwei älteren Brüdern Matthies und Obbe
und der jüngeren Schwester Hanna sowie ihren Eltern, auf einem
Bauernhof, der von der Rinderhaltung lebt. Nachdem auf ersten
wenigen Seiten das Leben auf dem Land und in der streng
orthodox-kalvinistisch lebenden Familie beschrieben wird, führt
die Autorin schnell zu dem Ereignis hin, das prägend für die
Familie und damit den weiteren Verlauf des Romans sein wird. Es
ist kurz vor Weihnachten und da Jacke befürchtet, ihr Vater
könnte ihr geliebtes Kaninchen als Weihnachtsbraten verwenden,
betet sie kurzerhand zu Gott, er möge stattdessen doch lieber
ihren Bruder Matthies nehmen. „Sei vorsichtig mit deinen
Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen“, besagt ein altes
Sprichwort. Und so wird auch Jackes Wunsch auf tragische Weise
Realität.


Kurz vor Weihnachten verlässt Matthies das Haus um Schlittschuh
laufen zu gehen und bricht an einer noch zu dünnen Stelle im Eis
ein. Sein Verschwinden wird viel zu spät bemerkt und so kehrt er
nicht mehr lebend nach Hause zurück. Der Verlust des Bruders und
Sohnes schwebt von nun an über allem und jedes Familienmitglied
versucht bewusst oder unbewusst seinen Umgang damit zu finden.
Während der Vater sich von der Familie zurückzieht und vielleicht
zumindest in der Arbeit noch einen Sinn sehen kann, hört die
Mutter allmählich auf zu essen. Nach dem Tod ihres Sohnes kann
sie auch im übertragenen Sinn nichts mehr aufnehmen; nichts geht
mehr in sie hinein und so magert sie schließlich ab. Aber sie
kann auch nichts mehr abgeben, was zur Folge hat, dass weder sie
noch der Vater sich mit ihren noch lebenden Kindern
auseinandersetzen. Sie sind nicht mehr in der Lage ihren Kindern
Liebe zu schenken, nicht einmal in Form von kleinen Berührungen
nach denen sich, vor allem Jacke, so sehr sehnt. Der große
Verlust beherrscht das tägliche Familienleben und führt auch zur
Entfremdung innerhalb der Familie.


Das beklemmende und bedrückende Gefühl, das sich bei mir während
der Lektüre einstellte, wurde auch noch dadurch verstärkt, dass
die Protagonistin selbst durch die Geschichte führt. Das heißt,
alle Schilderungen, Gefühle und Worte sind so gewählt, wie es
auch ein Mädchen dieses Alters tun würde. Ihre Unwissenheit und
Unsicherheit Dingen gegenüber die sie noch nicht kennt, schlagen
sich somit auch sprachlich nieder und machen es umso leichter und
manchmal fast schmerzhaft, sich in ihre Gefühlswelt
hineinzuversetzen.


“Hanna umarmt mich schnell, sie hält mich fest, wie sie ihre
Puppen festhält, unter den Achseln. Vater und Mutter knuddeln
nie, bestimmt weil dann etwas von den eigenen Geheimnissen am
anderen kleben bleibt, pappig wie Vaseline. Darum umarme ich auch
nie von mir aus: Ich weiß nicht, welches Geheimnis ich hergeben
möchte.” (S. 200)


Die beiden Schwestern sind auch die Einzigen, die in der Lage zu
sein scheinen, sich noch gegenseitig Zuneigung und Nähe schenken
zu können. Gemeinsam denken sie sich Pläne aus, um auf die andere
Seite des Sees zu gelangen. Ein Fluchtpunkt den sie auserkoren
haben, ein Ort an dem alles besser sein wird, als es zu Hause ist
und an dem sie am liebsten sofort sein möchten. Es sind
Träumereien, die ihnen helfen den Alltag zu überstehen und sie
die Hoffnung nicht aufgeben lassen, dass es eine gute Zukunft für
sie geben kann.


Ihr Bruder Obbe hingegen hat andere Methoden bzw. Ticks
entwickelt, um den Verlust des Bruders zu ertragen. Sich selbst
zu verletzen, indem er mit dem Kopf gegen das Bettgestell schlägt
oder auch das Töten von Tieren, sind sowohl physisch als auch
psychisch schmerzhafte Strategien. Ohnehin spielen Gewalt, aber
auch Sexualität und Exkremente eine fortlaufend große Rolle im
Roman. Die Protagonistin, deren Namen der Lesende nie erfährt,
trägt ihren Spitznamen „Jacke“, weil sie selbige nie auszieht.
Ihre rote Jacke ist ihr Schutzschild gegen die Außenwelt, noch
mehr aber bietet sie ihr einen Zusammenhalt nach innen. Sie
sammelt kleine Dinge, wie die Schnurrhaare ihres Hasens, in ihren
Taschen. Symbole des Sich-an-etwas-festhalten-müssens, um sich
nicht auch noch selbst zu verlieren. Nicht einmal ihren Kot ist
sie mehr bereit abzugeben: „Ich konnte meine Kacke festhalten,
nichts, was ich nicht loswerden wollte, brauchte ich ab jetzt zu
verlieren.“ (S. 42) Ihre Namenlosigkeit, die einerseits
Unauffälligkeit symbolisiert, steht andererseits im starken
Kontrast zu dem Wunsch, einmal für jemanden etwas ganz Besonderes
zu sein.


Der Tod ist allgegenwärtiges Thema im Roman und kommt nicht
ausschließlich durch den Verlust des Bruders und Sohnes zum
Ausdruck, sondern manifestiert sich beispielsweise auch in der
Nahrungsverweigerung der Mutter oder dem Essen von bereits
angeschimmeltem Brot. Er zerstört die Ordnung und das
Familiengefüge. Aber auch die Religion ist, wie es der Titel des
Buches bereits anklingen lässt, ein maßgebliches Motiv. Selbst in
einem religiösen Elternhaus aufgewachsen, webt Marieke Lucas
Rijneveld immer wieder Zitate aus der Bibel ein. „Wer wind sät,
wird Sturm ernten“ heißt es in der Bibel bei Hosea 8 Vers 7. Es
verweist auch auf das Schuldgefühl, dass die einzelnen
Familienmitglieder an Matthies Tod mit sich tragen. Zentral ist
dabei Jackes anfänglicher Wunsch, Gott möge doch lieber ihren
Bruder als ihr Kaninchen zu sich nehmen. Aber auch als im Dorf
die Maul- und Klauenseuche ausbricht und auf dem Hof alle Rinder
geschlachtet werden müssen, empfinden dies die Eltern als Plage
und Strafe Gottes zugleich und sind verzweifelt, weil sie nicht
wissen, womit sie diese verdient haben.


Marieke Lucas Rijneveld gliedert ihren Roman in drei Teile und
nutzt damit, bewusst oder unbewusst, die klassische Dramentheorie
nach Aristoteles. Sie verarbeitet in ihrem Roman einen eigenen
persönlichen Verlust, nämlich den Tod ihres Bruders als sie drei
Jahre alt war. Schonungslos ist dabei ein Begriff, der einem beim
Lesen unweigerlich in den Sinn kommt. Erstens mit ihren Figuren,
die dem bäuerlichen Hof und der zunächst vermeintlichen Idylle
auf dem Land nicht entkommen können. Eltern die den Verlust ihres
Kindes nicht verkraften können, und dabei außer Stande sind, sich
weder gegenseitig zu stützen und gemeinsam zu trauern noch für
ihre noch lebenden Kinder ein zu Hause der Geborgenheit, des
Aufgehobenseins und der Stabilität zu ermöglichen. Jeder trauert
für sich allein und die Gedanken an das verstorbene Kind, lassen
alles andere in der Hintergrund treten. Aber auch Jacke, Hanna
und Obbe sind gefangen. Nicht nur in einer Welt aus Trauer und
dem Wunsch nach Normalität, sondern auch im natürlichen Prozess
des Heranwachsens, der zunehmend von Gewalt, Sexualität und dem
Gefühl der Ausweglosigkeit geprägt ist. Aus dieser, sich immer
mehr verdichtenden und beklemmenden Situation, lässt sie,
zweitens, auch den Lesenden nicht heraus. Fast schmerzhaft wird
der Prozess des Lesens mit Fortgang der Geschichte und auch die
Vorahnung, dass es kein Happy End geben wird, wird zur
selbsterfüllenden Prophezeiung. Drittens kennt aber auch die
Autorin für sich selbst keine Gnade und unternimmt keinen Versuch
etwas zu verharmlosen, zu beschönigen oder Hoffnungen zu wecken,
wo es keine gibt.


Einmal in den Bann des Romans hineingezogen, kann man sich ihm
schwerlich wieder entziehen. Wenn es gelingt sich darauf
einzulassen, wird man Teil einer Welt die viel Unerbittliches,
aber auch viel Fragiles und Beschützenswertes bereit hält. Ein
gewaltiger Roman, der viele sprachliche Metaphern in sich birgt,
die genau ins Schwarze treffen. Keine schöne Geschichte im
herkömmlichen Sinne, aber eine ganz klassische Empfehlung.


In der nächsten Woche bespricht Irmgard Lumpini "Mary Jane: A
Novel" von Jessica Anya Blau, eine sommerliche Coming-of-Age
Story im 1970er Jahre Baltimore, die Marxens Diktum "Das Sein
bestimmt das Bewußtsein" unterstreicht.


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