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09.11.2025
5 Minuten
Liebe Leserinnen und Leser,
das Jahresende naht und alles drängt sich auf ein paar enge
Wochen. Zeit also für eine Wiederholung, aber hier sind gleich 2
ganz großartige Bücher, deren wiederholte Erwähnung erst
eingestellt werden kann, wenn ihr beide gelesen habt. Es wird
dufte, versprochen!
______________
Manche Kreise sind groß und schließen sich nach 15 Jahren, wenn
auch auf einer höheren Ebene (denn wir wollen nicht denken, dass
es mit uns bergab geht, sondern dass wir gelebt und gelernt haben
und besser sind): damals stellte ich bei Studio B eine wunderbare
Sammlung von großartigen Reportagen von A.J. Liebling über das
Boxen vor, die zwischen 1951 und 1955 entstanden und damals im
renommierten New Yorker erschienen, bevor sie 2009 im Berenberg
Verlag als Sammlung “Die artige Kunst” ins Deutsche übertragen
wurden.
Sommerzeit ist Lesezeit, da sind hier gleich mal 2 Empfehlungen,
von ganzem Herzen, ohne jede Einschränkung, auch wenn das Sujet
den Leserinnen und Lesern bis heute vielleicht nicht das
Interessanteste oder Wichtigste schien. Ernsthaft.
Während A. J. Liebling Boxkämpfe sah, während sie geschahen und
das Fernsehen für den Niedergang dieser neben dem Ringen ältesten
Form des Zweikampfes verantwortlich machte, schreibt Rita
Bullwinkel in ihrer Debütnovelle “Headshot” - im Deutschen
“Schlaglicht” - auf schmalen 250 Seiten über ein fiktives
Sportereignis, das im Amateurboxen der Frauen angesiedelt ist.
Gekämpft wird im “Daughters of America Cup”, in dem
Amateurboxerinnen bis 18 Jahre antreten dürfen, Handlungsort ist
Bob’s Boxing Palace in Reno, Nevada. “Headshot” behandelt die im
“Töchter Amerikas Cup” ab dem Viertelfinale ausgetragenen Kämpfe.
Viertelfinale bedeutet (wir kennen die Zählweise aus anderen
Sportarten), dass noch 8 Sportlerinnen im Rennen um die Trophäe
sind, und jeweils die Siegerin der Partie gegen eine andere
Siegerin gelost wird.
Die Kämpfe bilden die Gliederung für das Buch, die jeweils mit
den Namen der angetretenen Kontrahentinnen betitelt sind.
Am ersten Tag finden die Viertelfinale statt, es folgen 2
Kapitel, die mit “Nacht” und “Tiefe Nacht” überschrieben sind,
bevor am nächsten Tag die beiden Halbfinalkämpfe und das Finale
ausgetragen werden.
Was die Autorin hier in schlichter Prosa zusammenfügt, ist
großartig: sie zeigt - und die Auflistung bedeutet keine Wertung
-
die Körperlichkeit des Boxens und was es für die jungen
Boxerinnen bedeutet;
warum sie Boxen;
wodurch ihre Wahl für diesen Kampfsport bestimmt wurde;
wofür sie boxen.
Rita Bullwinkel zeigt die wenig glamourösen Umstände des Turniers
im Nirgendwo, dessen Ort gewählt wurde, weil er angeblich “in der
Mitte des Landes” läge.
Dem Ort - Bob’s Boxing Palace - wohnt eine tiefe Traurigkeit
inne, und “Headshot” zeigt, dass das Amateurboxen für Frauen
keine Sportart ist, die in reichen Familien eine Möglichkeit der
Freizeitgestaltung für junge weibliche Teenager ist.
Neben den detaillierten Beschreibungen der Kämpfe finden sich
Rückblicke, aber auch Sprünge in die Zukunft. Wir erfahren viel
über die Umstände der Protagonistinnen, die sich teilweise vorher
kennen, teilweise nicht. Wir lesen, wie ihre Geschichten
individuell sind, wie ihre Familien unterschiedliche Haltungen
zum Boxen einnehmen, und die einzelnen Teenager unterstützen oder
eben auch nicht.
Was das Boxen für die Einzelne bedeutet, ist dabei teilweise
allgemeingültig: es gibt den jungen Teenagern eine Kontrolle über
ihren Körper, teilweise aber eben auch sehr individuell, wenn
Eine die Familientradition fortführen muss oder eine andere über
ein ertrunkenes Kind sinniert, dass unter ihrer Aufsicht im
örtlichen Schwimmbad ertrunken ist.
Dabei entfaltet “Headshot” von Anfang an eine Faszination, die
auch durch Rita Bullwinkels Witze, seien sie inhaltlicher oder
sprachlicher Natur bestimmt wird.
Was die Heldinnen von Headshot, Andi Taylor, Artemis Victor, Kate
Heffer, Rachel Doricko, Iggy Lang, Izzy Lang, Rose Mueller und
Tania Maw erkämpfen, sind nicht nur Sieg oder Niederlage, sondern
ihr Platz in der Gesellschaft, der - durch die Rück- und
Ausblicke gezeigt - weit über den jeweiligen Boxkampf hinausgeht.
Was “Headshot” überhaupt nicht verhandelt, ist, ob es überhaupt
ok ist, dass junge Frauen boxen. Warum auch.
“Headshot” von Rita Bullwinkel wurde für den Booker Prize 2024
nominiert, dies nur als Information für diejenigen, die ihre
Lektüre durch so etwas beeinflussen lassen (was ich nicht
verurteilen würde, irgendwie muss man ja auswählen), aber wenn
ihr euch durch die Rezensionen bei Studio B beeinflussen lasst:
Lest dieses Buch!
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02.11.2025
8 Minuten
Leider findet sich nicht immer die Zeit, um eine neue Rezension
zu schreiben und die Hörerinnen mit neuem Input zu erfreuen. Das
liegt zum einen daran, dass es manchmal einfach nicht zum
straffen Zeitplan passt und zum anderen, dass gelegentlich auch
einfach die Lektüre fehlt, die mich so mitreißt, dass ich
unbedingt etwas darüber schreiben will. Passend zum grauen Wetter
habe ich daher heute einen alte, bereits vor neun Jahren und
ebenfalls im November von mir veröffentlichte Rezension
ausgesucht, die es lohnt, noch einmal erneut Beachtung zu finden.
Bereits im Jahr 1869 schrieb der gerade einmal 23 jährige
Franzose Isidor Lucien Ducasse, besser bekannt unter dem
Pseudonym Lautréamont, sein Werk „Die Gesänge des Maldoror“,
welches 1963 in deutscher Übersetzung im Rowohlt Verlag erschien.
Dieses, sein einziges vollendetes Werk, gilt als Klassiker der
Schwarzen Romantik und übte gleichfalls großen Einfluss auf die
Surrealisten aus. Der Protagonist Maldoror besingt in sechs
Gesängen sowohl seine eigene als auch die Grausamkeit der
Menschen, ebenso wie seine Verachtung für den Schöpfer. Meine
Rezension möchte ich mit folgendem Zitat beginnen:
„Es liegt die Welt in Scherben,Einst liebten wir sie sehrNun hat
für uns das Sterben,Nicht viele Schrecken mehr.“ (1944)
Diese erste Strophe aus Hermann Hesses Gedicht „Leb’ wohl, Frau
Welt“, welches 1944 und damit circa 75 Jahre nach Lautréamonts
Werk erschien, deutet eine Thematik an, die die Dichter und
Philosophen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg beschäftigte
und beschäftigt und die auch in unserem Alltag fest verankert
ist. Die Medien berichten unablässig über die Gräueltaten der
menschlichen Rasse, sei es im kleinen oder großen Stil. Wir sind
jedoch nur begrenzt in der Lage, all diese Informationen zu
verarbeiten und halten uns bewusst vor der Auseinandersetzung
zurück, solange es uns selbst nicht betrifft und vielleicht auch,
um darüber nicht völlig zu verzweifeln.
Anders löst der Protagonist Maldoror dieses Thema für sich. Er,
dessen Name so viel wie„Sonne des Bösen“ (Aurore du Mal), oder
auch „Vergolder des Bösen“ bedeutet, zelebriert die
Abscheulichkeiten und besingt die Bösartigkeiten der Bestie
Mensch, nicht ohne dabei auch den Schöpfer ins Gericht zu nehmen,
der diese Kreatur erschaffen hat. Maldoror sucht einerseits die
Einsamkeit, indem er sich in Höhlen und anderen entlegenen
Plätzen aufhält, andererseits braucht er die Gegenwart der
Menschen, um seinen abartigen Neigungen zu frönen und den
Menschen größt mögliches Leid in Form von beispielsweise
Misshandlungen, Vergewaltigungen und Kindsmord zuzufügen.
Maldoror sieht das Leben nicht als Geschenk an, sondern als
fremdbestimmte Entscheidung, an der er keinen Anteil hat. Er wäre
lieber „der Sohn der Haiin […] und des Tigers“ (S. 20) geworden,
deren Grausamkeit bekannt ist und die die des Menschen trotzdem
nicht im Ansatz übertrifft. Die gottgegebene Fähigkeit zu leiden,
sieht er als verdienstreich und als Ideal an.
Während des Lesens stellt sich die Frage, welches Geschöpf
Maldoror selbst eigentlich ist. Zwar wird er im Klappentext des
Buches als gefallener Engel, satanischer Verführer und als
Verkörperung des absolut Bösen bezeichnet, doch beim genauen
Lesen wird deutlich, dass der Satan nicht nur sein Rivale,
sondern sogar sein Feind ist. (s. S. 137) Auch die aufkommende
Vermutung, dass er ein Vampir sei, negiert er im Text selbst, mit
der Begründung: „man hält mich zu Unrecht für einen Vampir, da
man Tote so nennt, die dem Grabe entsteigen; ich aber bin ein
Lebender“ (S. 198) Ich glaube vielmehr, dass Maldoror als
Metapher für das Böse im Allgemeinen gedeutet werden kann.
Nämlich für die über die Jahrhunderte und Epochen hinweg
herrschenden Übel der Welt, die in immer anderen Gesichtern
Unheil bringen.
Und doch geht es Lautréamont mit seinem Roman nicht allein darum,
das Schlechte der Menschen aufzuzeigen. Vielmehr verbirgt sich
hinter seiner metaphernreichen Sprache, seinem Radikalismus,
seiner Vulgarität und seinen Übertreibungen der Wille, beim Leser
den Wunsch nach dem Guten im Menschen zu wecken. Auch sein
Protagonist ist nicht das ausschließlich Böse, sondern besitzt
Moral, wie sich meiner Meinung nach, an folgendem Zitat zeigt:
„...aber vor allem kommt es darauf an, richtige Begriffe über die
Grundlagen der Moral zu besitzen, solcherart, daß jeder von dem
Prinzip durchdrungen sein muß, das befiehlt, den anderen so zu
behandeln wie man vielleicht selber behandelt werden möchte.“ (S.
201/202)
Die Ambivalenz Maldorors zeigt sich darin, dass er einerseits
Freude daran hat, anderen beim Foltern zuzusehen, andererseits
aber auch hilft und verachtend auf die Unvernunft und
Rachsüchtigkeit der Menschen blickt, während die Tiere dem
Menschen in dieser Hinsicht überlegen sind. Der Vergleich mit
Tieren, der Wunsch des Protagonisten, selbst ein Tier zu sein,
sowie Tiere als Metapher sind ein von Lautréamont häufig
genutztes Stilmittel. Den Schöpfer bezeichnet er als hochmütig
und als Voyeur, der sich nachts die Träume der Schlafenden
ansieht.
„Die Gesänge des Maldoror“ sind keinesfalls einfach zu lesen,
schon aufgrund einer Sprache, die wir heute so nicht mehr
verwenden. Wenn der Zugang dazu einmal geglückt ist und man sich
sozusagen ‘eingelesen’ hat, ergeben sich weitere Schwierigkeiten.
Zum einen die mitunter sehr langen und verschachtelten Sätze, zum
anderen die Vermischung von Realität, Traum, Metapher und auch
Halluzinatorischen. Oft ist nicht ganz klar bzw. eindeutig mit
wem oder wovon Maldoror gerade spricht. Hinzu kommen die
Brutalität, Grausamkeit und der Sadismus, mit denen Maldoror
agiert und die Lautréamont bewusst einsetzt, um zu schockieren,
aber vor allem um zu läutern. Nicht ohne Grund hatte er daher
Schwierigkeiten, sein Buch verlegen zu lassen.
Und doch schafft es Lautréamont, dass der Leser nicht nur
Abneigung gegen Maldoror empfindet, sondern sich auch in ihn und
seine zutiefst menschlichen Fragen hinein fühlen kann, wie
beispielsweise folgende: „Oft habe ich mich gefragt, was leichter
zu ergründen sei: die Tiefe des Ozeans oder die Tiefe des
menschlichen Herzens!“ (S.24/25) Diese Frage mag zunächst etwas
pathetisch klingen, doch der Ozean ist ein wichtiges Motiv im
Roman. Denn der Ozean ist majestätisch und birgt eine enorme
Tier- und Pflanzenwelt und neben diesen bekannten Dingen auch
viele Geheimnisse und unerforschte Stellen. Maldoror geht sogar
soweit, ihn, also den Ozean, den ‘großen Junggesellen’ zu nennen,
was in diesem Fall eine Bezeichnung für Gott ist und deutlich
macht, welchen Stellenwert der Ozean für Maldoror einnimmt. Sein
innehalten und seine Gedanken über den Ozean, zählen für mich zu
den schönsten Stellen im gesamten Buch, da sie nicht nur Bilder
und Assoziationen in mir hervorrufen, sondern auch sehr treffend
formuliert sind, weshalb ich an dieser Stelle gern noch einmal
zitieren möchte:
„Alter Ozean, du bist das Symbol der Identität: immer dir selber
gleich. Im Grunde deines Wesens änderst du dich nicht, und wenn
deine Wogen irgendwo in Aufruhr sind, dann sind sie in einer
anderen, ferneren Gegend in vollendeter Ruhe. Du gleichst nicht
dem Menschen, der auf der Straße stehenbleibt, um zwei Bulldoggen
zuzusehen, die sich an der Gurgel packen, der aber auch nicht
stehenbleibt, wenn man einen Menschen zu Grabe trägt, der heute
morgen zugänglich ist und heute abend schlechter Laune; der heute
lacht und morgen weint. Ich grüße dich, alter Ozean!“ (S. 23)
„Die Gesänge des Maldoror“ sind keine einfache Lektüre, nichts
das man eben mal so nebenbei liest und doch sehr lesenswert, da
sie im Laufe der Zeit nicht an Aktualität verloren haben. Daher
möchte ich Lautréamonts einziges, vollendetes Werk unbedingt
weiter empfehlen, auch wenn das einmalige Lesen sicher nicht
genügt, um es in Gänze zu durchdringen, so doch um zunächst einen
Eindruck dessen zu gewinnen, worum es dem Autor ging, nämlich:
„um den Leser zu bedrücken und in ihm den Wunsch nach dem Guten
als Heilmittel zu wecken.“
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26.10.2025
9 Minuten
Die Nostalgie ist ein Laster, welchem man sich versagen sollte.
Denn für jedes Vergnügen, was uns im “Damals!!” genommen wurde,
sagen wir: Rauchen in Flugzeugen, gibt es im Heute Ersatz. Hier:
Internet in Flugzeugen! Ja, vorbei sind die Zeiten, in denen man
sich in der Flughafenbuchhandlung eine Packung steuerfreie Lucky
Strikes und einen dicken Dan Brown holte, um den
Transatlantik-Flug zu überstehen. Heute kauft man sich für das
gleiche Geld einen Internetpass und kocht sich über den Wolken
das Hirn weich mit acht Stunden TikTok-Videos-Swipen. Das ist,
zugegeben, deutlich gesundheitsschädigender als eine Schachtel
Luckies (für alle Beteiligten), aber irgendwas ist ja immer.
Dennoch kann ich nicht umhin, einen Verlust wirklich zu
betrauern: den Verlust eines intellektuellen Vergnügens, einer
albernen Freiheit, eines ungefährlichen Spaßes. Nein, Axel,
Polenböller ist falsch. Es geht um die gute alte
Verschwörungstheorie. Noch in den 2000ern habe ich Nächte damit
verbracht, mir auf YouTube wilde Vorträge zu 9/11 anzuschauen.
Tagelang hatten alte weiße Männer in Hobbykellern CNN-Footage
solange zusammengetoastet, bis die Videorealität mit ihrem
Weltbild in Kongruenz war und niemand hat sich einen Kopf
gemacht, ob man beim Abrufen der Kunstwerke von Youtube getrackt
wurde, denn, selbst wenn: Ja, Herr Falschgold kuckt alberne
Amateurvideos, big deal. Aber es war auch eine den Kopf
erwärmende Übung, sich in die zwei, drei Prozent der Leute
reinzuversetzen, die die Filmchen kuckten und sich die Zeit
nahmen, absatzweise Kommentare darunter zu schreiben. “Wieviel
seines Hirns muss man ausschalten, bis 2+2 tatsächlich 5 ist?”,
ist eine faszinierende Frage.
Zwanzig Jahre später sind all diese Videos aus dem
Normalo-Internet getilgt, zu groß ist der Hirnschwund in großen
Teilen der Bevölkerung, sie könnte verunsichert werden, glaubt
der Bürger doch heute wirklich jeden Scheiß und außerdem muss
Platz gemacht werden im Internet für die wirklich manipulativen
Kaliber, damit irgendwann auch der letzte Widerständige fünf
Lichter sieht, statt vier.
Stimmen uns Connaisseure der Kunstart “Verschwörungstheorie”
diese Um- und Zustände traurig, wütend oder, s.o., einfach nur
nostalgisch, so kann das für die professionellen Createure ruinös
werden. Brachte Dan Brown nach seinem ersten
Professor-Langdon-Buch “Illuminati” im Jahr 2000 die
Fortsetzungen noch alle drei bis fünf Jahre heraus, brauchte er
glatte acht für dessen jüngste Geschichte. Sie heißt “The Secrets
of Secrets” und ich habe den Roman tatsächlich gelesen.
Wollen wir doch mal spekulieren: Man kann vermuten, dass Dan
Brown 2017, nach Veröffentlichung von Teil Fünf der Serie
(”Origin”), kurz das Bankkonto gecheckt hat und sich an Teil
Sechs machte. Kurz vor Fertigstellung zwang ihn dann Corona ins
Homeoffice, wie den Rest der Weltbevölkerung. Für einen
Schriftsteller ist das kein Problem, aber seine Zielgruppe, die
Transatlantikfliegenden, brach komplett weg. Bummer. Wie er sich
nun überrascht und leicht gelangweilt durch Facebook klickerte,
wird ihm aufgefallen sein, dass die Menge und Verbreitung seines
Markenzeichens, seines f*****g Spezialgebietes, des Dinges, in
dem doch er die Koryphäe ist: die gemeine Verschwörungstheorie
nämlich, dass diese sich so explosionsartig vergrößerten, dass
vielleicht, so spekulieren wir, jemand zufällig auf genau die
spinnerte Idee gekommen war, die er gerade in Buchform den
Millionen schenken wollte. S**t. Was tun?
Wahrscheinlich (wie gesagt, wir spekulieren hier nur) hat er
nochmal von vorn angefangen und eine Story ersonnen, die in eine
Gedankenlandschaft passt, wie wir sie alle seit dem Jahr 2020
ertragen müssen, eine Landschaft, die man im allgemeinen mit “Es
ist eh alles egal” beschreibt. Weiß ist schwarz, gut ist böse,
und alles ist erlaubt. Und alles ist egal.
Alles? Nun, nicht alles, dachte sich Dan Brown und man muss ihm
zugestehen, der Gedanke ist clever: Egal ist, ob sich die Börse
von der Wirtschaft abkoppelt und deshalb alle ärmer werden; egal
ist, ob sich das Weltklima um 1,5 Grad erhöht, während die USA
Windparks verbieten; egal ist, ob Kinder an Masern sterben, weil
ein Mann mit Wurm im Kopf Gesundheitsminister der reichsten
Nation der Welt ist. Was nicht egal ist, selbst all den
Wahnsinnigen, die an den drei vorbenannten Egalismen schuld sind:
Ob man den s**t selbst noch erlebt. Einfacher: was niemandem egal
ist, ist, dass man früher oder später sterben wird. Und dort
setzt Dan Brown an und das ist brillant.
Das schöne für diese Rezension ist, dass das gerade kein
wirklicher Spoiler war, haut uns der Autor das doch so ziemlich
auf den ersten Seiten vor die Füße. Wir wissen nur noch nicht:
Warum? „Das entwickelt sich!“, wie Manfred Krug sagte, damals,
und zwar gewohnt rasant. Die Story ist, von ein paar Rückblenden
unterbrochen, eine, die sich über gerade mal einen Tag und einen
halben erstreckt. Sie liest sich, wie man das von moderner
Pageturnerware gewohnt ist, wie das Drehbuch für den zu
erwartenden Film, in dem der mittlerweile neunundsechzigjährige
Tom Hanks als Prof. Langdon definitiv ein Bodydouble brauchen
wird, denn nicht nur rennt der Hauptheld mal locker früh halb
sieben über die Karlsbrücke, nein, er rennt auch wieder zurück.
Kurz danach schwimmt er dann, leicht unfreiwillig, in der Moldau.
Im Februar. Zudem hat er sich verliebt, und zwar in seine
ehemalige Professorin, ¡Holla! Wir werden im Kino also extrem
weichgezeichnete GILFs sehen, bis uns der fade to black erlöst.
Das wird hart.
Ein Markenzeichen der Serie ist, dass Dan Brown seinen
Protagonisten jetsetten lässt, wie seine primäre Zielgruppe. Von
Rom, Paris, Florenz geht es diesmal nach, geographisch bewanderte
Leserinnen haben es längst punktgenau verortet, ins goldene Prag,
in die Stadt der hundert Türme. Wie Beate Baum letztens die
Dresdner Neustadt als hyperlokales Setting benutzte, um Morde in
deren Künstlerinnenmilieu aufzuklären, präsentiert Dan Brown uns
auf der ersten Seite des Buches eine Karte der Prager Innenstadt
und gibt den Fremdenführer. Im Schatten von Vyšehrad, Prager Burg
und Veitsdom passieren die üblichen internationalen Intrigen,
muss der Professor sich nur mithilfe seines genialen,
rätsellösenden Kopfes aus brenzlichen Situationen befreien;
Schießereien, Morde, Verfolgungsjagden halten uns am Ball, all
das geschrieben in den mittlerweile üblichen minusklen Kapiteln
von ein paar hundert Worten, über 137 sind es am Ende, auf dass
man sich zwischen diesen Lesesnacks den Gargrad des Kopfinhalts
mit zwei, drei Instareels auf “sehr soft” stellen kann. So soll
das sein in einem Pageturner, so verlangt es der Lektor. Dan
Browns real existierender bekommt übrigens in der Prof. Langdon
Serie nicht zum ersten mal eine prominente Nebenrolle (was ich
wirklich nice finde).
Worauf der ganze Quatsch hinausläuft, ist lange unklar und nicht
des Spoilerns Wert, denn die Story hat mit der
Verschwörungstheorie nicht wirklich viel zu tun, letztere ist
eher Mittel zum Zweck, der Hammer, der das Ding irgendwie passend
machen soll. Was nicht heißt, dass Dan Brown nicht eine wirklich
überraschende Wendung hat zum Schluss, da ist er schon Profi.
Oder eben nicht zum Schluss. Irgendwie war der Lektor schon ein
bisschen happy über seine Prominenz im Buch, so dass er sich
selbst nicht aus den letzten fünfzig Seiten Abspann streichen
wollte, die wir, nachdem schon alles klar war, überstehen müssen.
Aber vielleicht hat Danny auch darauf bestanden, dass das alles
drin bleibt, weil er da nochmal richtig seine Theorien ausbreiten
kann. Denn Dan Brown ist, so weit ich das sehe, der einzige
Erfolgsautor im Genre, der zu seinen absurden “Entdeckungen”
steht und sich nicht dagegen wehrt, wenn Künstler und Werk in
einen Topf geworfen werden. Das alles läuft natürlich unter
“Anregung, den Status Quo zu überdenken” und ähnlichem Schwurbel
(als würden Wissenschaftler das nicht den ganzen f*****g Tag lang
machen), und das ist auch OK und war immer harmlos genug, bis es
das nicht mehr war, siehe oben. Der zu hinterfragende Status Quo,
den er sich in “The Secret of Secrets” herausgesucht hat, ist
dankbarerweise ein recht harmloses Stück Pseudoscience.
Zusammengefasst lautet seine These: “Die Realität ist nicht wie
sie uns erscheint”. No s**t, sherlock. Gefühlt 1/3 aller
TED-Talks in den 2010ern drehte sich genau darum. Dan Brown
zitiert die üblichen Experimente, nach denen wir z.B. deutlich
schneller auf externe Stimuli reagieren, als unser Hirn das
eigentlich leisten kann. Er berichtet von den alten Programmen
der CIA, in denen man “psychics” für das “remote viewing” züchten
wollte, also, ein Medium in Langley verbindet sich mit einem
Medium im Kreml und schon weiß LBJ, was Chruschtschow zum
Frühstück hat. Er schreckt noch nicht mal vor dem in den 80ern
allgegenwärtigen ESP zurück, über das sich schon die brillante TV
Serie “The Americans” lustig gemacht hatte. Die Konsequenz aus
all dem ist, irgendwie, lest den Humbug bitte selbst, dass wir
alle unsterblich sind. Na also!
All das wird ausgebreitet hinter einem Vorwort, welches
behauptet, das alle im Buch erwähnten Experimente real wären. Nur
dass halt die wenigsten davon reproduzierbar sind. Das spielt
aber keine Rolle, so Dan Brown, denn die übergreifende Theorie im
Buch erkläre ganz wundersam, dass all die Experimente gar nicht
nachvollziehbar sein können!
In der Wissenschaft nennt man das einen Zirkelschluss. Ich nenne
es einen unterhaltsamen, mittelspannenden Pageturner zum
Kopfausschalten in schweren, dunklen Zeiten.
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28.09.2025
51 Minuten
(Fast) gerade eben erschienene Bücher finden diesmal in der
Nachbesprechung zu den Rezensionen der letzten drei Wochen Lob
und Kritik, als da wären:
* Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne
* Beate Baum: Kunstgerecht
* R. F. Kuang: Katabasis
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21.09.2025
4 Minuten
Ja, laut der Lob-und-Verriss-Regeln ist heute eigentlich die
Studio B Diskussionsrunde zu den rezensierten Büchern der letzten
Wochen dran, aber da ja heutzutage eh jeder macht, was er will..
oder vielleicht auch, weil Teile des Kollektivs nochmal im Urlaub
waren: hier ein optimistischer Einwurf von Herrn Falschgold. Die
Diskussion wird dann am nächsten Sonntag, dem 28.9. ausgestrahlt.
Wenn US-Präsident Trump in ein paar Tagen "Antifa" verbieten
lassen wird (was immer "Antifa" sein soll und was immer
"verbieten" in einem Staat ohne funktionierende Judikative
bedeutet), werden wieder die Semantiker in den Medien unterwegs
sein und wortakrobatisch vermeiden, einen Staat "faschistisch" zu
nennen, der "Antifaschisten" verbietet. Ist ja auch komplex. Es
wird uns alle an die Mutti erinnern, die der neuvegetarischen
Tochter das Hähnchenbrustfilet auf den Teller knallt mit den
Worten "Huhn ist kein richtiges Fleisch" und es wäre faszinierend
zu beobachten, wenn es auf Netflix geschähe und nicht auf CNN.
Aber warum sollen nur alle Menschen ever in beschissenen Zeiten
gelebt haben - wir sind nicht besser, wir haben das nur 80 Jahre
lang gedacht.
Was zu tun ist, was zu vermeiden, um die aktuelle Spielart der
Diktatur doch noch zu verhindern, schreiben seit Jahren genug
Leute. Der (Techno-)Faschismus, wie alles Böse, wird auch wieder
gehen und dass auf der anderen Seite des bloody rainbow die Sonne
lacht, sieht man im Geburtsland des richtigen Faschismus. Nein,
in Berlin scheint bis Mai keine Sonne mehr, falsch assoziiert,
denn Hitler hat beim Duce doch nur abgeschrieben und somit ist
hier die Rede von einer italienischen Stadt, die wie
schaumgeboren aus den Ruinen der alliierten Bombardierung
auferstand und sehr zu Unrecht mit Massentourismus und piefigen
Spätpiefkes in Verbindung gebracht wird: Rimini.
Der Ruf des Antiurlaubsortes kommt von stinkenden, überhitzten
Käfern in Kolonne, wie sie in den Fünfzigern über die Alpen kamen
wie Hannibal, nur schlechter gelaunt, und von bitterbösen
deutschen Filmkomödien. Zumindest außerhalb der Saison ist das in
2025 alles weit, weit von der Realität entfernt. Jetzt, im
September, sind hier nur Rentner, die Strände sind frei von
Schulkindern und doch noch im Vollkomfort der durchnumerierten
Bagni. Liegen, Schirme, Duschen, Kabinen in Konstellationen
angeordnet, wie sie nur jahrzehntelange Optimierung hervorbringt
und sind dabei kommunal, mit Gemeinschaftsküche, Klo mit
Schlüssel und von jedermann ein freundliches Wort. Jeder kennt
sich und nach zwei Tagen auch mich.
Architektonisch wird, wer Massentourismus in Rimini mit
Hotelburgen assoziiert, enttäuscht werden. Die "Burgen" hier sind
ähnlich der "Wolkenkratzer" im New York zur 19. Jahrhundertwende:
(k)ein Haus ist höher als zehn Stockwerke, die meisten eher sechs
bis acht. Gebaut sind sie zwischen 1950 und 1990, was im heutigen
Zeitgeist wieder als "schick" gilt.
Und wenn man dann z.B. in einem Haus aus dem Jahr 1973 wohnt,
sieht man, wofür man zwischen den Faschismen so alles Zeit und
Raum fand: Portierslogen, die heute noch besetzt sind zum
Beispiel. Für 60 Mietparteien lohnt es sich, dass man jemanden
hat, der sich permanent um das Haus kümmert, früh mal das
fallende Laub wegkehrt, die Mülltonnen leert und die Zeit für
einen Schwatz findet, mit den alten und jungen Ladies im Haus. Im
Le Corbusier - Style baute man Balkone für jeden und Veranden für
alle dran, hat im Erdgeschoss Platz für kleine Läden geschaffen,
alle in Privat- oder Familienbesitz: das Café, der günstige
Imbiss, der Friseur, und diese Komfortzonen steigern neben der
alltäglichen Sonne, der Temperatur und dem Meer die Laune der
Einwohner so derart, dass man auch als AirBnB-Made freudig
gegrüßt wird und schon am zweiten Tag im Café jeder weiß, was man
früh trinkt und ißt.
Das ist so ziemlich das Gegenteil von Massentourismus und damit
anempfohlen und wenn das in Miami nach dem möglichst grausamen
Ende des aktuellen Diktators badeorttechnisch genauso gut läuft,
schau ich gerne mal vorbei. Bis dahin bleibt es bei: Rimini.
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