Stephen King - Billy Summers

Stephen King - Billy Summers

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Beschreibung

vor 2 Jahren

Das Buch war fesselnd, intelligent und einfach grandios. Ich habe
mir post lectio frustriert gegen das Cranium geschlagen und
gefragt: wie präjudiziert kann man durch die Welt laufen. Seitdem
benutze ich keine Fremdwörter mehr und bin frei von Vorurteilen.


Aber, ich muß nicht jeden Stephen King lesen, speziell mit den
übernatürlichen Klassikern (und Neuwerken) kann ich noch immer
wenig anfangen, aber Sachen wie die “Mr. Mercedes”-Reihe sind
gelungener Zeitvertreib mit immer etwas mehr Tiefe, als man zu
Beginn vermutet. Teil Zwei und Drei dieser Serie hatte ich mit
etwas mehr Pflichtbewusstsein denn Enthusiasmus gelesen, um so
mehr erfreute mich die flüchtig überlesene Schlagzeile in einer
renommierten Tageszeitung, dass der neueste Stephen King mit dem
unprätentiösen Titel "Billy Summers" sein "bestes Buch seit
Jahren" sei.


Stephen King führt seinen titelgebenden Hauptheld Billy Summers
als einen Émile Zola lesenden Auftragskiller ein. Seinen
Auftraggebern gegenüber geriert er sich als eher schlicht, das
hatte sich irgendwann mal so ergeben und als praktisch erwiesen.
In einem Comic lesend wartet er also in einer Hotelhalle auf
seinen Kontakt, äußerlich den Simpleton gebend, nicht
übertrieben, aber überzeugend. Billy Summers, Anfang 40, ist ein
Ex-Marine und Irakkriegsveteran, war dort ein Sniper und kam mit
ein paar Orden und ohne einen halben großen Zeh zurück. Damit
hatte er eine Menge Glück gehabt, was auch damit zu tun hat, dass
er sein Handwerk versteht. Das erste Bild, das nicht nur vor
meinem lesenden Auge entstehen wird, ist das von
Thriller-Serienheld Jack Reacher. Nein, nicht der durch
hochkomplexe Kameraarbeit auf Format gefilmte halbe Hahn Tom
Cruise. Der richtige Jack Reacher, der für mich immer seinem
Autorenvater Lee Child am ähnlichsten sein wird, groß, hager, mit
einem schmalen, stählernen Lächeln. Wie Jack Reacher also hat
auch Billy Summers keine großen Bauchschmerzen, seiner Arbeit
nachzugehen und dabei Leichen zu hinterlassen, aber stets mit
einem moralischen Code, der simpel sagt: "Ich töte nur böse
Menschen." Wie einfach das ist, können wir uns vorstellen und
wird natürlich ein roter Faden im Buch sein.


Wir werden lernen, dass Billy Summers sehr zeitig im Leben
getötet hat. Er musste im Alter von elf Jahren mit ansehen, wie
der Abschaum von einem Freund seiner drogensüchtigen Mutter eines
Abends in ihr Haus kommt und seine kleine Schwester zu Tode
tritt. Billy kann sich nur in letzter Not und mit Hilfe des
Armeerevolvers des Arschlochs retten, der - zum Glück, Amerika! -
im Haus einfach so rum liegt. Er schießt dem Dreckskerl in den
Bauch und lässt ihn verbluten. Diese Szene wird ihn und uns
begleiten. Es ist ein Buch der Rückblenden und: Es ist ein
Kunstwerk.


Zunächst jedoch finden wir Billy Summers in einem kleinen Kaff in
Kentucky. Er ist hier um einen letzten großen Auftrag angeboten
zu bekommen. Der wird so lukrativ sein, dass er sich zur Ruhe
setzen kann. Ihm ist nicht ganz wohl dabei, denn nicht nur er
weiß, dass das schief gehen kann, dass das der Stoff ist, aus dem
Filme und Bücher gemacht werden.


Billy Summers sitzt also in einer Hotellobby und liest Comic. Ein
alter Bekannter aus der Unterwelt hat einen Auftrag: eine halbe
Millionen jetzt, anderthalb Millionen nach getaner Arbeit. Wenn
er zustimmt, wird er beauftragt, einen Auftragskiller zu killen.
Billy stellt die obligatorische Frage und ja, das Target ist kein
guter Mensch. Neben den dutzenden Auftragsmorden, bei denen Billy
jetzt nicht in der besten Position ist pro oder contra, gut oder
böse zu argumentieren, hat der Auftragsmörder letztens zwei Leute
nach einem Pokerspiel abgeknallt, weil sie gegen ihn gewonnen
haben, was ja wirklich unsportlich ist. Billy sagt ok, eine halbe
Minute später hat er $500.000 auf einem Nummernkonto in der
Karibik.


Billy ist beauftragt, es wird ein Plan geschmiedet. Ein
schmieriger Immobilienbesitzer hat einen Büroturm genau gegenüber
dem Gerichtsgebäude, wo dem Auftragskiller der Prozess gemacht
werden wird, mit idealer Sicht auf den Eingang, durch den er
TV-wirksam vom Sheriff mit dem übergroßem Cowboyhut im orangen
Einteiler und mit Hand- und Fußfesseln vorgeführt werden wird.
Einziges Problem: keiner weiß wann. Es wird noch mindestens ein
paar Wochen, vielleicht Monate dauern, bis der Angeklagte aus
Kalifornien ausgeliefert wird. Billy muss also warten, und damit
er einen plausiblen Grund hat hier zu sein, wird die Legende
gebaut, nach der Billy Summers ein Schriftsteller von der
Ostküste sei, der mit seinem Buch nicht fertig wird und von
seinem Agenten in den Schreiburlaub dahin geschickt wird, wo er
nicht den ganzen Tag den Vorschuss verhuren und versaufen kann.
Man mietet ihm ein beschauliches Wohnhaus in den suburbs, dazu
das ideale Eckbüro mit Sicht auf das Gerichtsgebäude und gibt ihm
ein MacBook, auf dem er "irgendwas schreiben" soll, um in die
Rolle zu kommen.


Diese leicht sperrige Konstellation ist ganz, ganz eventuell das
einzige, was man dem Buch vorwerfen kann, mir fallen ein halbes
Dutzend Wege ein, das Ganze mit deutlich weniger Aufwand
durchzuziehen; andererseits, was weiß ich schon, ich bin
schließlich kein Auftragsmörder. Oder vielleicht doch?!


Egal, denn dieses Setting, womit wir uns übrigens von der
konkreten Handlung verabschieden, keine Spoiler mehr ab hier,
Rezensentenehrenwort, diese Konstruktion also, ist wohl und sehr
bewusst gewählt denn es ist der Grund, warum wir hier einen
Stephen King besprechen. Wie jeder weiß, ist das überflüssig.
Die-hard-Fans von Stephen King lesen das Buch eh und Leute, für
die Stephen King unter Niveau ist, Leute mit Vorurteilen also,
lesen noch nicht mal diese Rezension. Unvorstellbar.


Dass Stephen-King-Bücher immer etwas tiefer sind als man denkt
weiß ja jeder, "Billy Summers" jedoch ist viel mehr geworden: es
ist ein praktisches Lehrbuch der Schriftstellerei in der Form
eines Thriller. Es würde Pflichtmaterial für die Verwendung an
belletristischen Hochschulen werden, wenn es diese denn gäbe.
Stephen King packt alles, was er als Schriftsteller über den
Prozess, das Denken und Arbeiten weiss und dann noch ein paar
Sachen Extra in einen Krimi und schafft ein "Vermächtnis", wenn
so ein Wort denn zu Stephen King passen würde und nicht zu
endgültig klänge. Stephen King wird eine Buchlänge lang zum
Autoren für Autoren.


Alles beginnt mit der Struktur: Während Billy Summers, der
Killer, in seiner Tarnung als Schriftsteller auf den Anruf
wartet, dass sein Opfer auf dem Weg ist, denkt er sich, kann er
auch ein bisschen schreiben. Wie man liest weiss er, wie schwer
kann schreiben sein? (Das ist im subtext natürlich auch ein
Hinweis an jeden Leser und potentiellen Schriftsteller). Erlebt
hat Billy Summers genug: von der Horrorkindheit über seine Zeit
im Waisenhaus, seine Ausbildung bei den Marines, die Horrorzeit
im Irak bis zum Karrierewechsel vom staatlichen zum
privatwirtschaftlichen Auftragskiller. Also setzt er sich an den
ihm zur Tarnung gestellten Notebook und schreibt über seine
Kindheit. Da er (zutreffend) annimmt, dass alles, was er schreibt
von seinen Auftraggebern mitgelesen wird und diesen ihn als
Simpleton kennen, übt er sich im Stil eines solchen und schreibt
aus der Perspektive und in der Sprache des elfjährigen Billys.
Dabei zeigt Stephen King im Buch die Fehler und Fehlversuche, die
man unweigerlich beim Schreiben macht, und beginnt Kapitel zum
Beispiel in "verbesserter" Kindersprache von neuem, wie ein A/B
Test. Wir lesen, typographisch durch serifenlose Abschnitte
abgesetzt, die wahre Geschichte des Billy Summers. Wir lesen im
einfachen Stil von seiner Kindheit und von seiner Zeit im
Waisenhaus.


Als er sich in der Haupthandlung, dem Thriller "Billy Summers",
zuverlässig von der Überwachung durch seine Auftraggeber befreien
kann, kommt er zum zutreffenden Gedanken, dass er über die
Erlebnisse als Soldat in Fallujah, Irak, in seiner eigenen
Sprache berichten kann und sollte und wir lesen seitenlange
fesselnde Einschübe aus dem alternativen "Billy Summers", die
Geschichte von persönlichen Fuckups in einem abgefuckten Krieg.
Dabei greift Stephen King auf ein Buch mit Namen "No True Glory"
von Bing West zurück, welches er im Nachwort erwähnt und
empfiehlt, womit King dem unsicheren Autoren demonstriert, dass
man nicht alles selbst erlebt haben muss und wie man fremde
Quellen in seinen eigenen Sound transponiert.


Da Stephen King Billy Summers, den Schriftsteller, die Geschichte
seiner Entwicklung zum Billy Summers, den Auftragskiller
schreiben lässt, vereinigen sich diese beiden Stories, je näher
sich Präteritum und Präsens kommen. Dass es kompliziert werden
kann, wenn sich Fiktion und Fiktion in der Fiktion nähern und
dass dabei strukturell sauber gearbeitet werden muss, lässt King
dann innerhalb der Story die Protagonisten besprechen, was in
einer letzten Wendung des Romans geschieht. Es ist erstaunlich
und brillant.


Weit vorher jedoch, in einer sehr überraschenden Wendung, wird -
sehr dramatisch - eine einundzwanzigjährige Studentin in die
Story eingeführt. Überraschend nicht nur für die Handlung,
sondern weil Stephen King sich damit völlig ohne narrativen Zwang
in die Situation begibt, das Verhältnis des Mittvierzigers Billy
Summers zur blutjungen Alice bis zum Ende des Buches zu
untersuchen und zu beschreiben, etwas, was sich in unseren woken
Zeiten fast nur noch ein Stephen King ohne Angst um die Karriere
leisten kann. Er schreckt dabei vor keinem Topic zurück: ob
Liebe, Hass, Vergewaltigung, Pädophilie, männliche Physiognomie;
jeden potentiellen Absturz von der argumentativen Klippe meistert
er mit tiefem Mitgefühl für den toxischen s**t, den die meisten
Frauen in ihrem Leben oft nicht nur einmal erleben müssen, und
klingt dabei nie wie eine #metoo timeline auf Twitter. Er spricht
ein "kompliziertes" Thema nach dem anderen an, organisch
innerhalb der Haupthandlung, und meistert es mit Bravour und
voller Zärtlichkeit, mit fast surreal-traumwandlerischer
Sicherheit. Man hält oft genug den Atem an, ob Stephen King die
Kurve bekommt oder über die Cancelklippe springt - und wird
jedesmal erlöst. Ich bin sicher, dass mir das gesamte Internet da
zustimmt und denke nicht, dass ich das groß googlen muss.


Und wie ein Mittelfingerzeig dem "ernsthaften" Literaturbetrieb
(und weil er es kann) schafft er es am Ende eines strukturell wie
thematisch seriösen Werkes selbst aus dem zynischsten
Literaturkritiker eine Träne auf's Papier zu wringen in einem
sich twistenden und windenden Ende, welches dennoch keine Seite
zu lang ist.


Stephen King erweist sich mal wieder als der Meister der
überraschenden Wendung und hat einen Roman geschrieben, der in
der Rezension konstruiert erscheinen mag, beim tatsächlichen
Lesen jedoch fließt und pageturned wie man es vom Autor kennt und
erwartet. Ich, der ich meine Bücher gerne geradlinig habe,
Rückblenden eher skeptisch gegenüberstehe (und meinen Hass
gegenüber der Vorblende hier oft genug geäußert habe), dem Bücher
in Büchern höchst suspekt sind und der Bücher "Aus dem Leben
eines Schriftstellers" für eitle Eigenbauchmiezelei halte, stehe
baff erstaunt vor einem Werk, welches alle diese No-Gos enthält,
dazu reihenweise Verweise und Anspielungen auf andere Werke der
Literaturgeschichte und bestimmt ein halbes Dutzend derer auf das
eigene Oeuvre und die ich alle nicht verstanden habe. Und dennoch
ist "Billy Summers" einfach "nur" ein spannender Thriller, von
einem Autor, der sich Gedanken macht über unsere Zeit, der
reflektiert über die human condition und dabei keine Seite
Langeweile aufkommen lässt. Denn Stephen King ist ein Meister
seines Faches, wie ich schon immer empathisch gesagt habe. Weiß
jede.


In der nächsten Woche im Studio B bespricht Anne Findeisen Rosie
Price' Debütroman "Der rote Faden", der bereits 2020
veröffentlicht wurde, uns thematisch an Irmgard Lumpinis zuletzt
besprochenen Roman "That Summer" von Jennifer Weiner erinnert und
bereits kurz nach Veröffentlichung zur Post-"Me too" Literatur
avanciert ist.


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