Maria Leitner: Mädchen mit drei Namen & Lili Grün: Mädchenhimmel!

Maria Leitner: Mädchen mit drei Namen & Lili Grün: Mädchenhimmel!

8 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Jahren

Liebe Leserinnen & Leser,


Dem Aviva Verlag ist die Möglichkeit der Lektüre der heute
vorgestellten Bücher zu verdanken, der einen Teil seiner
Veröffentlichungen der erneuten Publikation nicht mehr
verfügbarer oder vergessener Werke widmet und dabei Autorinnen
(vor allem aus den 1920er Jahren) besondere Beachtung schenkt.
Die Bücher des Verlages könnt ihr direkt auf der Verlagsseite
bestellen.


Ich empfehle, und zwar ausdrücklich: Maria Leitner "Mädchen mit
drei Namen", im Untertitel "Reportagen aus Deutschland und ein
Berliner Roman, 1928-1933".


Ein weiteres Werk, zu welchem ich weit weniger Zugang fand, ist
Lili Grüns “Mädchenhimmel!”


Beide Autorinnen weisen Parallelen auf, tödliche: Beide starben
1942. Maria Leitner, entschiedene und lautstarke Nazigegnerin,
starb entkräftet nach ihrer Flucht aus einem südfranzösischen KZ
in einem Krankenhaus in Marseille, sie hatte kein rettendes Visum
in die USA erhalten können.


Lili Grün, verarmt und lungenkrank, konnte sich nicht ins Ausland
retten, wurde 1942 aus Wien deportiert und noch am Tage ihrer
Ankunft im weißrussischen Maly Trostinec ermordet.


Beide veröffentlichten in in den 1920er und 1930er Jahren in
etablierten Zeitschriften wie im Tempo, dem Berliner Tageblatt
und dem Prager Tageblatt.


Lili Grün wollte Schauspielerin werden. Ende der 1920er ging sie
nach Berlin und gehörte dort zur Kabarettszene um Ernst Busch und
Hanns Eisler. Sie konnte eigene Gedichte und Couplets vortragen.
1933 erschien ihr erster Roman “Herz über Bord”, der 2013 mit dem
neuen Namen “Alles ist Jazz” wieder veröffentlicht wurde. Er
wurde damals sehr gelobt, ihr Stil als “neusachlich” bezeichnet,
eine Kritik sah ihn als „beachtenswerten Beitrag zur
Zeitgeschichte der jungen Generation“. Mich hatte die Bewerbung
des Buches “Mädchenhimmel!” angesprochen, dessen Themenpalette so
definiert wurde: “junge, moderne, selbstbewusste Frauen - hin-
und hergerissen zwischen Autonomie, Selbstbehauptung und dem
‘Mann mit starken Armen’. Nun ja, wie zu Beginn schon erwähnt,
ich fand keinen Zugang zu den Lyrik- und Prosatexten Lili Grüns.
Die Gefühlsgeschichte der damaligen jungen Generation ist -
zumindest für mich - in den Beschreibungen uninteressant. Ich
fühle mich ignorant, die Beschreibungen ihres Sehnens langweilen
mich. Liebe und Sehnsucht sind groß, das Unverständnis auch, und
nach dem 20. Gedicht möchte ich nicht mehr, die “gefühlvollen
Beschreibungen” erschienen mir fad.


Nun gut, der Zeitgeist vieler Zeiten ist nicht erstrebenswert.
Immerhin beschwören die Stücke nicht den “Glanz der goldenen
Zwanziger”, der sich - trotz 47,38 Millionen anderer Erzählungen,
Deutungen, Beschreibungen immer noch hartnäckig hält und als
Vorlage für schlechte Kostümpartys herhalten muss. Vielleicht ist
es aber auch mein hartes altes Herz, dass den Schmerz der
Zwanzigjährigen nicht vergessen hat, aber weiß, dass er später
weit entfernt sein wird. Ein Sentiment, das Lili Grün in ihrem
Gedicht “Langweiliger Tag” schön zusammenfasst:


“Ich habe heut ein furchtbar schweres Herz.


Man kann nichts tun, als aus dem Fenster sehn.


Mit tausend Zigaretten übertön’ ich meinen Schmerz,


Und abends muß ich in ein Kino gehn.


Ich weiß, daß man so nicht zugrund’ gehen kann,


In ein paar Tagen ist es schon vorbei,


In einer Woche denk’ ich nicht mehr dran,


In einem Jahr ist es ganz einerlei.


Ja, käm’ uns wenigstens die Wissenschaft abhanden,


Und könnt’ man glauben, daß man daran sterben muß.


Mit fünfundzwanzig ist dies alles öd und abgestanden,


Mit sechzehn ist solch Schmerz noch ein Genuß.”


Maria Leitner wurde 1892 in einer kroatischen Kleinstadt geboren,
wuchs in Wien auf, studierte dort und in Berlin Kunstgeschichte
und arbeitete als Journalistin. Während des 1. Weltkriegs
berichtete sie unter anderem aus Stockholm und schloss sich mit
ihren beiden Brüdern der Kommunistischen Partei Ungarns an. Nach
dem Fall der Räterepublik musste sie Ungarn für immer verlassen.
Von 1925 an bereiste sie im Auftrag des Ullstein Verlages für 3
Jahre den amerikanischen Kontinent und nahm mehr als 80 Stellen
an, um aus eigener Erfahrung über das Leben der Leute auf der
Kehrseite des American Dream in sozialkritischen Reportagen
berichten zu können. Ihr 1930 veröffentlichter erster Roman
“Hotel Amerika” war ein großer Erfolg und wurde auch ins
Spanische und Polnische übertragen. Ihre Reportagen, die aus der
Zeit in Amerika stammen, fasste sie im Buch “Eine Frau reist um
die Welt” zusammen, die im August letzten Jahres neu
veröffentlicht wurden.


Im hier vorgestellten Band “Mädchen mit 3 Namen” sind Reportagen
gesammelt, die sie zwischen 1928 und 1933 in deutschen
Zeitschriften veröffentlichte. Mit sachlichen Beschreibungen
zeichnet Maria Leitner das Leben in Berlin und lässt dabei die
Menschen selbst zu Wort kommen. Ihr Verdienst ist es, uns eine
Zeit näherzubringen, die sonst verklärt, romantisiert oder
pathologisiert wird. Titel ihrer Reportagen lauten “Die
Geschäftsführerin eines Schönheitssalons erzählt”, “Das
Warenhausfräulein erzählt”, “Eine Kellnerin erzählt”, aber auch
“Bankbeamter vor dem Abbau” oder “Hausdiener gesucht”. So
entsteht ein vielschichtiges komplexes Bild einer Zeit, die sonst
in ihrer Bearbeitung zwischen der elenden Not der
Weltwirtschaftskrise und rauschhaften Parties und sich neu
entwickelnder Kunst oszilliert, bevor die Nazis 1933 an die Macht
kommen. Neben den kurzen Portraits, die überwiegend in der
Berliner Abendzeitung Tempo erschienen, ist mit der Serie “Frauen
im Sturm der Zeit - Zwischen Arbeitsstätte, Stempelstelle und
Familienheim” eine Serie von Reportagen im Band enthalten, die
unterschiedliche Frauen und ihre harten Leben portraitieren.
Dabei sind Maria Leitners detaillierte Schilderungen sehr privat.
Sie verweisen auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge, indem
sie die Kämpfe der Einzelnen zeigen, die anrühren, und dabei
wütend machen. Oh so wütend. Und sie ermöglicht Vergleiche mit
unserem Leben, unseren Herausforderungen.


Harter Tobak ist die im April in der Volkszeitung für das
Vogtland 1931 erschienen Serie über den §218, der seit 1871 den
Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert. Maria Leitners
Überschrift heißt “Wo gibt es Hilfe? Opfer und Schmarotzer um den
§ 218”.


Sie zeigt die Nutznießer des Paragraphen, der Frauen ihr
Selbstbestimmungsrecht nimmt und zu verzweifelten Maßnahmen
greifen lässt, das arme Frauen bestraft, zerstört und
kriminalisiert.


Einen Ausweg zeigt Maria Leitners “Berliner Roman” “Mädchen mit 3
Namen”, dessen Intention in der Zeitung Die Welt am Sonntag so
angekündigt wurde: Zitat: “...schildert in diesem Roman … die
Erlebnisse eines jungen Mädchens,...das zuletzt den Weg findet,
der allein eine Rettung aus allem Wirrwarr verheißt.” Lest also
dieses Buch, danach wissen wir alle mehr.


Nächste Woche diskutieren Anne Findeisen, Herr Falschgold und
meine Wenigkeit die Bücher der letzten Wochen. Wer vorlesen
möchte findet diese auf lobundverriss.substack.com


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