Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

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Beschreibung

vor 2 Jahren

Ein schmaler Band, 77 Seiten, die es einem einfach machen: Die
Gefahr der Todsünde des Rezensenten, den Autoren mit dem
Ich-Erzähler zu verwechseln, ist schlicht nicht gegeben. “Wer hat
meinen Vater umgebracht” ist ein
autobiographisch-polemisch-politischer Text.


Es wechseln literarische Beschreibungen von Kindheits- und
Jugenderinnerungen mit soziologisch-philosophischen Einordnungen
und Hinweisen. Diese sind das Gerüst des Autors für die
Sinnwerdung der Vater-Sohn-Beziehung.


Sein erstes Werk, mit dem Édouard Louis bekannt und erfolgreich
wurde, war “ Das Ende von Eddy”, in welchem er autofiktional
seine Kindheit beschrieb: aus ärmlichen und von der Abwesenheit
des Vaters geprägten Verhältnissen, die wieder und wieder
gewaltvoll Normen an Geschlechterverhältnisse durchsetzen.
Während dieses Werk als persönliche Abrechnung gelesen und
verstanden wurde, errichtet Édouard Louis nun mit dem Abstand
einiger Jahre, mit Reflektion, die Verzeihen ermöglicht, einen
Interpretationsrahmen. Dieser erlaubt Zugeständnisse an die
eigentlich unverzeihlichen Handlungen seines Vaters und gibt die
Verantwortung für diese jemand anderem, der - hier zunächst
unpersönlich - Politik.


Der Vater des Autors ist in eine arme Familie geboren und
verliert durch seine Ausbeutung in unbarmherzigen
Arbeitsverhältnissen nicht nur seine Gesundheit, sondern auch
seine Würde, kurz: sein Leben. Die Verhältnisse bringen ihn um.
Und diese werden zunehmend schwerer, weil einst vorhandene
Sicherungsnetze systematisch verbrannt werden: mit einer
Arroganz, die nur besitzt, der nichts von Armut weiß, weil er sie
nie erleben musste.


Während die fortdauernde Wiederholung des Kreislaufes aus Armut,
schlechter Bildung, fehlenden Aufstiegschancen, Alkohol benannt
wird, findet Édouard Louis an einer Stelle einen bemerkenswerten
Bruch seines Vaters mit einer der als sich unabdingbar
gerierenden, zwangsläufig scheinenden wieder und immer wieder
reproduzierten Erscheinung: der Gewalt. Zitat:  “...du
sagtest zu uns: Nie im Leben werde ich die Hand gegen eines
meiner Kinder erheben. Gewalt produziert nicht nur Gewalt. Lange
habe ich immer wieder gesagt, Gewalt bewirke Gewalt, aber da habe
ich mich geirrt. Die Gewalt hat uns vor der Gewalt bewahrt.”
Zitatende. Hier wird deutlich, dass es möglich ist, individuelle
Entscheidungen zu treffen. In einem gegen sich gerichteten System
dieses aufzubrechen, ist jedoch nahezu unmöglich.


In den letzten Jahren ist die Diskussion um Klassen, deren
Vorhandensein nach dem Kalten Krieg geradezu negiert wurde,
erneut aufgeflammt und wird seitdem verstärkt nicht nur in
wissenschaftlichen Diskursen, sondern auch literarisch behandelt.
Klassismus, also die strukturelle Diskriminierung aufgrund der
sozialen Herkunft oder Position, findet sich in Berichten der UN,
aber eben auch als Thema der Literatur. Édouard Louis nimmt hier
ausdrücklich Bezug auf Didier Eribon und Annie Ernaux, deren
Werke ebenfalls stark autobiografisch geprägt sind und die ihre
Herkunft behandeln und - auch hierzulande interessant - eine
Erklärung finden, warum die Armen rechts wählen.


Gewisse Subjekte unseres Rezensentenkollektivs, namentlich Herr
Falschgold, lesen vor und während ihrer Lektüre nicht die
Rezensionen anderer und nehmen in Kauf, Verbindungen und
Anspielungen zu verpassen.


Mir hingegen ist das, zumindest nach der Lektüre und vor der
Rezension ein großer Spaß, aber wen will ich hier eigentlich
verarschen, meistens regt es mich sehr auf. “Wer hat meinen Vater
umgebracht” KEIN Satzzeichen am Ende des Titels. Und so wird der
Titel häufiger als Frage verstanden, weil die SatzSTELLUNG des
Titels es vorgibt, obwohl die 77 Seiten schnell gelesen sind und
ab S. 68* die Verantwortlichen für die Misere seines Vaters, die
Édouard Louis’ ausgemacht hat, Absatz für Absatz genannt werden:
diejenigen, die mit politischer Macht den Armen und Prekären
mitgeteilt haben, dass sie selbst Schuld an ihrem Schicksal sind
und sich einfach nur mehr anstrengen müssen.


Die Frage, die mich während und nach der Lektüre umtrieb, ist die
des Adressaten: Wer soll dieses Buch lesen? Wem wird es die Augen
öffnen? Wird diese polemische Kampfschrift Einfluss haben, einen
Platz finden, und wo?


Édouard Louis beschreibt das Projekt der Austerität. Eine bessere
findet sich in Karl Heinz Roths & Zissis Papadimitriou “Die
Katastrophe verhindern - Manifest für ein egalitäres Europa”,
dass allerdings ungleich theoretischer an diese Fragen
herantritt. Und so vermutete ich zunächst, dass Édouard Louis mit
seinem schmalen Band “Wer hat meinen Vater umgebracht” diesen und
sein Umfeld, seine Freunde, die Verarmten erreichen möchte.
Sicher war ich mir nicht, denn schon im 2. Absatz von Kapitel 1
werden Homophobie, Transphobie erwähnt, vielleicht also doch eher
an die linken Intellektuellen gerichtet, sie aufrütteln, allein,
das schien nicht richtig.


Peinlich spät kommt mir der Gedanke, dass “Wer hat meinen Vater
umgebracht” nicht nur ein Theatertext sein könnte, wie er im
kursiv gestellten Vortext mitteilt. Zitat: “Wenn dies ein
Theatertext wäre,” Zitatende. Es ist ein Stück, fürs Theater
geschrieben. Vorangestellt ist eine genaue Beschreibung des
Bühnenaufbaus, es beginnt ein Monolog, dem Vater wird explizit
keine Stimme gegeben. Der aus der Armut entkommene gebildete Sohn
spricht das gebildete Theaterpublikum an, dass von Armut nur
gelesen hat. Sie versucht Édouard Louis zu
überzeugen. Soziologen, Philosophen, Schriftsteller werden
zitiert. Hier finden sich dann die Gebildeten wieder, können
wissend nicken, “Ja, kenne ich, war im Feuilleton”, “Aha, ja”,
vielleicht sind sie auch kurz überrascht, obwohl, etwas
überraschend Neues findet sich nicht.


Am Ende des schmalen Bandes kommt der Vater zu Wort und bestärkt
den Sohn in seinen Überzeugungen. Eine kaputte Kindheit zerstört
nicht diese Beziehung, die Verhältnisse sind es. 


Nun kann das Theaterpublikum nach Hause gehen, und beim nächsten
Mal trotzdem die Immergleichen wählen, warum auch nicht, oder
anders, wen denn sonst?


Die vielen Zitate diverser Soziologen, Philosophen,
Schriftsteller hatte ich bereits erwähnt. Einiges davon ist
fragwürdig oder gleich kompletter Quatsch. Zitat: “Bei deinem
Anblick wurde mir klar, dass Langeweile das Schlimmste ist, was
einem passieren kann.” Zitatende. Édouard Louis’ Begründung dafür
ist so hanebüchen, dass ich mich frage, ob der Übersetzer da beim
Verlag rückgefragt hat, ob er das wirklich hinschreiben
soll. 


Hier kommts: Langeweile ist das Schlimmste, weil, die gab es auch
in den Konzentrationslagern. No Joke! Da werden Imre Kertész und
Charlotte Delbo zitiert, die davon berichtet haben, dass es auch
dort LANGEWEILE gab, und dann wird vom Autoren direkt übersehen,
der es selbst hingeschrieben hat: Zitat: “ Hunger, Durst, Tod,
Öfen, Gaskammern, Massenerschießungen und Hunde, die stets bereit
waren, einem die Gliedmaßen zu zerfleischen…” Die Aufzählung geht
noch weiter, aber klar, die Langeweile war das Schlimmste. Alter.


Am Ende wie immer die Frage, ob die Lektüre empfohlen wird. Ihr
erlebt mich etwas ratlos. 


Pro: Hinterher weiß man, warum Macrons Chancen bei der
derzeitigen Wahl ziemlich mies sind, sollten die Wähler*innen
angesichts von Trumps Erfolgen, Putins Einmischungen und dem
Schrecken des Brexit nicht motiviert genug, statt faschistischer
Scheiße nur Scheiße zu wählen. Dazu kommt, dass es ein schmaler
Band ist.


Contra: Annie Ernaux und Didier Eribon würde ich uneingeschränkt
empfehlen. 


Fazit: Also, ich weiß es wirklich nicht.


Es verabschiedet sich Irmgard Lumpini, den Link zum Buch findet
Ihr auf unserer Website lobundverriss.substack.com. Nächste Woche
wird es aufgrund des Feiertagsmarathons eine alte Diskussion
geben, bevor die Bücher der letzten Wochen gemeinsam besprochen
werden. Frohe Ostern!


* Die Seitenzahl für diejenigen, die sich nur für die Auflösung
interessieren..


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