Egon Neuhaus: Spinnewipp

Egon Neuhaus: Spinnewipp

17 Minuten
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Beschreibung

vor 1 Jahr

Viele Leute schreiben ihre Erinnerungen auf, meist für ihre
Familien, und lassen sie in kleinen Auflagen drucken, bei Firmen,
die sich darauf spezialisiert haben. Weitergehende Beachtung
finden diese Werke nicht, sind doch die Erinnerungen nur für
diejenigen interessant, die den oder die Autorin kannten. Und wer
möchte schon wissen, wie Erna Müller ihren Friedrich traf und
wann das grüne Canapee angeschafft wurde?


Was bleibt von einem einfachen Menschen, der keine Angehörigen
mehr hat? Sein Besitz wird von Müllräumern beseitigt.
Autobiographien sind meist dann erfolgreich, wenn ihre
Protagonist_innen mehr oder minder berühmte Zeitgenossen in
möglichst großer Zahl getroffen haben oder die Schauplätze der
Biographien exotisch anmuten.


Diese Voraussetzungen erfüllt der hier vorgestellte Roman
keineswegs. "Spinnewipp" ist die Geschichte eines Mannes, der die
erste Hälfte des Dritten Reiches in Erziehungsanstalten und die
zweite Hälfte knapp in der Wehrmacht übersteht und beschreibt das
Leben und die Umstände derer, die bei den Nazis, im Krieg und in
der Nachkriegszeit ganz unten waren.


Wenn man den autobiographischen Roman "Spinnewipp" von Egon
Neuhaus in einem Zug durchgelesen hat, werden bisher unbekannte
Bilder einer Zeit lebendig, aus der man historische Daten kennt,
die es in Schulbücher geschafft haben oder die bis zur
Unkenntlichkeit entstellt in Guido Knopps verdrehten
Historienreportagen auftauchen.


Egon Neuhaus wurde 1922 in Lüdenscheid geboren, den Titel des
Buches gibt sein Spitzname, den er wegen seiner schmächtigen
Gestalt die an Spinnweben erinnert, erhalten hat. Über sein Leben
bis in die 1950er Jahre schreibt er in einfachen, klaren Sätzen,
die belegen, dass Geschichte in Wellen verläuft und keinesfalls
in der oft linear bevorzugten Geschichtsschreibung einer
besserwerdenden Gesellschaft, und eben auch nicht in klare
Epochen, helle und finstere abgegrenzt werden kann, weil
Kontinuitäten verschwiegen oder negiert werden.


Seine Lebensumstände sind nicht rosig. Nicht gerade als
Wunschkind in proletarische Verhältnisse geboren, beschreibt er
seine ersten Kinderjahre in einem Umfeld zwischen
Deutschnationalen und Republikanern, in der elektrischer Strom
nur für die Beleuchtung genutzt wird und auf dem Herd Wäsche und
Essen gekocht werden. Und ihm ist immer klar, dass er am unteren
Ende der sozialen Leiter steht, deren Einteilung er sich
widersetzt. Immerhin weiß er wie alle seine Freunde bereits mit 4
Jahren, wie die anderen Geschwister gezeugt werden und hat
gelernt, dass sich das gut anfühlen soll, während seine reicheren
Mitschüler, die ein eigenes Zimmer hatten, überhaupt keine Ahnung
haben.


Nach der Trennung seiner Eltern kommt er zu seinen Großeltern,
eine Zeit, die er als schön erinnert. Dort lernt er viel über
Politik, wenn die Kollegen seines Opas beim Flaschenbier
politisieren. Als 1933 seine Oma stirbt, kommt er ins Heim und
muss die Schule wechseln. Unterrichtet wird er nun von
vaterländischen Ex-Soldaten, die, "nachdem sie Rekruten zum
Kadavergehorsam zurechtgeschliffen hatten, auch Schulkinder
verprügeln durften". Sein Opa hatte ihm noch eingeschärft, mit
Äußerungen über Politik zurückhaltend zu sein. Erkennbar sind ihm
jedoch immer die Lügen, die ihm über die Großartigkeit des
Krieges erzählt werden, ganz anders als die Beschreibung durch
den Großvater, der ihn als "grauenhafte Abschlachtung, bei der
Fabrikanten viel Geld verdienen." erklärt hatte.


Mehrfach versucht er nach Holland auszureißen, wird jedoch immer
wieder zurückgebracht. Mit 14 Jahren muss er das Heim verlassen,
ohne die achte Klasse abzuschließen, und wird in die
Landwirtschaft zwangsverpflichtet.


Egon Neuhaus erzählt klar, unprätentiös und manchmal derb, und
ist dabei eminent komisch, aber niemals weinerlich. Das Pathos,
welches widerständigen Erinnerungen bestimmter Epochen innewohnt,
ist ihm völlig unbekannt und wird damit ein Schlag in die
Gesichter all derer, die sich in ihren Leben manipulieren lassen
und Fremdbestimmung als gegeben nicht nur nörgelnd hinnehmen,
sondern sogar zustimmend akzeptieren.


Im Buch eingefügte Bilder, die im Unterschied zu anderen
autobiographischen Werken eben keine Schnappschüsse handelnder
Personen oder ihm selbst sind, sondern Anzeigen, Filmplakate oder
Postkarten, zeigen in erschreckender Klarheit, dass die bereits
1000fach widerlegte Aussage "Wir wussten von nichts." einer
selbstgewählten Blindheit und bedingungslosem Opportunismus
geschuldet sind. Bei den Abdrucken handelt es sich oft um Kopien
von Kopien, die Originale sind verloren gegangen oder wurden
vernichtet, aber ihre Botschaften sind klar erkennbar: "BOSS,
Berufskleiderfabrik Metzingen, Zugelassene Lieferfirma für SA und
SS", "AEG Rundfunkgeräte, im /Gleichschritt/ unserer Zeit", "Agfa
Photos: eine Brücke zwischen Front und Heimat", Bayer Leverkusen
wirbt mit einer Anzeige "Die Heimatfront steht" und fordert, dass
jeder dazu beitrage, indem er sich für seine Gesundheit
verantwortlich fühle. Allianz, Tempo, Quelle, die Liste der vom
Nationalsozialismus profitierenden Firmen und ihre
Verstrickungen, die beiläufig zwischen die Beschreibungen des
täglichen Lebens in der Unterschicht eingefügt werden, ist lang.


1941 wird Egon Neuhaus in die Wehrmacht eingezogen und entzieht
sich den Kämpfen, so gut es geht. Das hier nicht sein Krieg
gekämpft wird, ist sonnenklar. Nach seiner Rückkehr 1947 soll er
als Knecht in der Landwirtschaft arbeiten, obwohl er zuvor
gezwungen wurde dort zu arbeiten, weigert sich und schlägt sich,
weil er keine andere Arbeit finden kann, als Schmuggler,
Tagelöhner und Schrottsammler durch. Während dieser Zeit lebt er
in einem ehemaligen Luftschutzbunker, der von seinen Bewohnern
"Paradies" genannt wird.


Nach dem Ende der in "Schwinnewipp" beschriebenen Zeit siedelte
Egon Neuhaus nach München über, um dort in einer
Altpapiergroßhandlung zu arbeiten, die er als "gebührenfreie
Volkshochschule" bezeichnete. Er sammelte auch dort Material,
welches er für die Geschichtsforschung hoch einschätzte, kaufte
es auf und gab es an Institutionen wie das Institut für
Zeitgeschichte, das Bayrische Staatsarchiv, das Deutsche Museum,
und beteiligte sich an einigen Ausstellungen.


Seine Lebensgeschichte führt auch die vor einigen Jahren neu
aufgeflammte Unterschichtendebatte ad absurdum, zeigt
"Spinnewipp" doch beiläufig die Zwänge, denen die ihr zugehörig
Imaginierten ausgesetzt sind, und wie widrige Lebensumstände ohne
die finanziellen Mittel eben nicht zu verlassen sind, und dass
Bildung eben auch nicht allen offen steht. Gleichzeitig gelingt
es ihm, nicht nur seine persönlichen Lebensumstände zu
beschreiben, sondern er zeichnet ein klares Abbild des
opportunistischen unteren Bürgertums, welches nur zu bereit ist,
für seinen Aufstieg nach oben nach unten zu treten.


Egon Neuhaus starb 2008 an Krebs, aber erst, nachdem er sicher
sein konnte, dass sein autobiographischer Roman veröffentlicht
würde. Die Veröffentlichung zwei Jahre später hat er nicht mehr
erlebt, der Text wurde in einer Fassung veröffentlicht, der der
Autor noch zugestimmt hatte.


Im Münchener Stadtarchiv sind 0,2 m mit Papieren und Dokumenten
aus dem Nachlass von Egon Neuhaus aufgehoben, und er wird dort
als Schriftsteller geführt.


"Spinnewipp" ist eine Autobiographie, die in das Lektüreprogramm
jeder Schule aufgenommen werden sollte, und eines Tages
hoffentlich als Klassiker - jedoch gelesen - in jedem
Bücherschrank stehen wird.


In der nächsten Woche besprechen wir die Bücher der letzten
Wochen gemeinsam.


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