Neal Stephenson: The Diamond Age

Neal Stephenson: The Diamond Age

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Beschreibung

vor 1 Jahr

Neal Stephensons moderner Klassiker “The Diamond Age”, im
Untertitel “A Young Lady's Illustrated Primer” stammt aus dem
Jahre 1995, und es war ein großes Vergnügen, ihn für Studio B
nach 15 Jahren noch einmal zu lesen.


Die Rezensentin muss gestehen, bei der ersten Lektüre nur ca. 10%
des Buches nachvollzogen zu haben, denn schon damals zeigte sich
eine der größten Herausforderungen aller Werke von Neal
Stephenson, sofern sie nicht in vergangenen Zeiten, sondern wie
The Diamond Age in einer zeitlich nicht näher definierten Zukunft
angesiedelt sind: entweder ist man mit Visionen des technischen
Fortschritts vertraut und besitzt eine hohe visuelle und
gesellschaftliche Phantasie, oder ein großer Teil des Buches
bleibt im Dunkel, weil der Verstand der Leserin nur Bruchteile
fassen, nachvollziehen und einordnen kann.


Da ein Großteil der damals für mich unverständlichen
Schilderungen mittlerweile technischer Alltag und vorstellbare -
wenn auch noch nicht vollständig umgesetzte - gesellschaftliche
Entwicklungsprozesse sind, las sich The Diamond Age diesmal eher
wie ein literarischer Kommentar zu einer teilweise realen,
teilweise vorstellbaren Zeitgeschichte.


The Diamond Age spielt auf vergangene Zeitalter an, deren
kultureller Fortschritt durch die Verwendung, Entdeckung oder
-entwicklung von Materialien geprägt war, wir denken hier an die
Steinzeit oder auch die Bronzezeit. Jetzt hat sich die
Nanotechnologie endgültig durchgesetzt: durch die Möglichkeit,
einzelne Atome und Moleküle beliebig zu verbinden, entfällt der
Kampf um Rohstoffe, Reichtum wird nicht mehr über deren Besitz
erzielt, weil alles einfach hergestellt werden kann. Die
Herstellung von Fenstern aus Diamanten ist unvergleichlich
preiswerter als die Herstellung aus Glas. Ähnlich unserem
Stromnetz werden grundlegende Elemente verteilt, um anschließend
mit Hilfe von Feedern Mittel des täglichen Bedarfs zur Verfügung
zu stellen. Hunger gibt es also nicht mehr.


Allerdings sind auch die Nationalstaaten, wie wir sie heute
kennen, nun eine historische Angelegenheit. Verantwortlich dafür
sind neben der Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse
unabhängig von Wohlfahrtssystemen, die ausgrenzen, die fehlende
Kontrolle der Nationalstaaten über die Geldströme. Ein Staat, der
keine Steuern eintreiben kann, hat keine Mittel, um seine
Machtinstrumente zu bezahlen. Ersetzt wurden die Staaten durch
verschiedene sogenannte Phyles, Zusammenschlüssen von Menschen,
vielleicht Stämmen vergleichbar, die sich entweder aufgrund
gleicher politischer oder kultureller Überzeugungen organisieren,
dabei aber unterschiedliche Zugehörigkeitsvorgaben haben. Eine
der mächtigsten Gruppen sind die Neo-Viktorians, die die
Nanotechnologie entwickelt haben und die Feeds kontrollieren. Die
andere wesentliche Gruppe sind die Han, die die chinesische
Kultur nach Konfuzius repräsentieren. Dazu kommt eine Vielzahl
anderer Gruppen, die entweder streng geographisch begrenzt,
teilweise aber auch weltweit in kleinen Enklaven leben, und deren
Beziehungen untereinander durch das Common Economic Protokoll,
kurz CEP, geregelt wird. Bezeichnenderweise ist einer der
wichtigsten Punkte dieses Protokolls der Schutz des persönlichen
Eigentums, während Menschenrechte oder individuelle Rechte, wie
z. B. auf Bildung nur innerhalb der verschiedenen Gruppen in
verschiedenen Ausprägungen existieren, dafür aber Unterwerfung
unter deren jeweilige Paradigmen voraussetzen. Übertragen auf die
heutigen globalen Akteure ist das CEP am ehesten mit dem
Internationalen Währungsfonds vergleichbar, während die
Durchsetzung der Genfer Menschenrechtskonvention, nun ja.


Neben diesen Gruppen gibt es noch die Thete, Menschen, die keinem
Stamm zugehörig sind und damit auch keinen geregelten Zugang zu
Bildung oder damit verbundenem gesellschaftlichen Aufstieg haben,
also arm sind und mit großer Wahrscheinlichkeit arm bleiben
werden.


The Diamond Age sammelt eine Vielzahl von Handlungssträngen,
Protagonisten und großen Themen, bedient sich dafür innerhalb des
Buches unterschiedlicher Stile und ermöglicht verschiedene
Lesarten.


Den ungerecht geregelten Zugang zu gesellschaftlichen Gruppen und
damit verbundenen Möglichkeiten habe ich bereits kurz
angesprochen. Viele der Ereignisse in The Diamond Age beruhen auf
den kriminellen Handlungen verschiedener Protagonisten, die sich
dadurch ein besseres Leben für sich selbst oder ihre Kinder
erhoffen.


John Percival Hackworth, dessen 2. Vorname auf Parzifal, den
Ritter auf der Suche nach dem Heiligen Gral verweist, ist ein
neoviktorianischer Ingenieur, der den Auftrag erhält, den im
Untertitel des Buches erwähnten “A Young Lady's Illustrated
Primer” zu entwickeln. Dabei handelt es sich um interaktives
Gerät, dessen Geschichten, Erklärungen und Gleichnisse jungen
Mädchen die Möglichkeit geben soll, durch die Erziehung mithilfe
des Primers - oder auch Fibel - ein interessantes Leben zu
führen. Dabei hat der oberste Lord der Neoviktorianer, Lord
Finkle-McGraw lediglich ein einziges Exemplar für seine Enkelin
vorgesehen. Sein Ziel ist es, seiner Enkeltochter eine gewisse
Subversivität zu ermöglichen, weil er den Niedergang seiner
Gruppe befürchtet, wenn alle konform den Regeln folgen, damit
aber keine Impulse für eine Weiterentwicklung geben können. Ihm
ist klar, dass die Weiterentwicklung von Gesellschaften und
Gruppen nie gleichförmig nach vorn, sondern sprunghaft, durch
Anstöße von Individuen, die abseits des herrschenden Mainstreams
handeln, in Gang gebracht wird. Hackworth, der Ingenieur, fertigt
jedoch einen 2. Prototypen, den er für seine Tochter Fiona
vorgesehen hat, um ihr damit später eine bessere
gesellschaftliche Stellung zu ermöglichen. Dieser wird ihm jedoch
gestohlen und gelangt so zu Nell, einem 4jährigen Mädchen, das
zusammen mit seiner Mutter und ihren wechselnden gewalttätigen
Freunden lebt und mithilfe der Fibel lesen und - wichtiger -
Denken lernt. Dabei ist die Fibel kein klassisches Buch, sondern
funktioniert eher wie ein Computerspiel, bei dem auf
verschiedenen Wegen versucht wird, Probleme zu lösen oder eben
das nächste Level zu erreichen.


Von der kriminellen Kopie des Primers erfahren 2 weitere
Protagonisten: zum einen der bereits erwähnte Lord Finkle McGraw
als auch ein mit dem kargen Namen Dr. X ausgestatteter Chinese,
der die Technologie des Primers für die Erziehung unzähliger
chinesischer Mädchen nutzen will. Der Ausweg aus dem Elend als
glücklicher Einzelfall oder als organisierte Revolte.


The Diamond Age verhandelt die unterschiedliche Auffassung von
Kulturen und die Basis ihrer Erfolge. So gibt es auch ein
längeres Gespräch über die ursprünglichen Viktorianer, deren
Erfolg im Zeitalter der Aufklärung auf der Ausbeutung und
Kolonialisierung anderer basierte.


Nun ist Information und der Zugang zu ihr, wie seit vielen Jahren
propagiert, eine wichtige Voraussetzung für Reichtum. Die
Verteilung von Informationen bzw. Modelle dazu sind eine weitere
Diskussion: so wollen Hacker, die im Buch die Gruppe CryptNet
bilden und die vorrangig im Untergrund agieren, das Verteilsystem
über Feeder abschaffen, und stattdessen mithilfe der
Seedtechnologie Ressourcen verteilen. Dies steht diametral zur
herrschenden Ordnung des Common Economic Protokolls, die den
Zusammenbruch und anschließende Anarchie befürchten, wenn jeder
selbst herstellen könnte, wonach ihn gelüstet, z. B. Waffen.
Widersprochen wird den Bewahrern des Common Economic Protokoll
dabei insbesondere von den Mitgliedern der Han-Gruppe, die sich
als diszipliniert genug begreifen, da sie nach den Konfuzius
zugeschriebenen Regeln leben.


Während im 1. Teil des Buches Personen eingeführt werden und die
Handlung in vielen Einzelsträngen, die zunächst nur lose oder gar
nicht verbunden erzählt wird, schreibt Neal Stephenson im 2.
Teil, der etwas abfällt, mehr über Hintergründe und die teils
fiktiven historischen Ereignisse, die zur Gesellschaft geführt
haben, in der die Protagonisten leben müssen.


Was kann man Menschen zutrauen, welche Haltung besteht gegenüber
der sogenannten “Natur des Menschen” - dies ist eine der
zentralen Fragen von The Diamond Age. Dabei schafft Neal
Stephenson mit eingestreuten Geschichten aus der Fibel, die durch
Nell gesteuert wird, nebenbei noch einen Rückblick auf
Technikgeschichte; erzählt neben den Möglichkeiten der
Nanotechnologie von ihren dunklen Seiten - so ermöglicht diese
auch die totale Überwachung, da diese nicht nur außerhalb,
sondern auch innerhalb von Körpern stattfindet; berichtet über
irre Aussenseiter, die handwerkliche Produkte von Hand herstellen
anstatt die Feeder zu nutzen; untersucht den Einfluss und die
Wichtigkeit von einzelnen Personen für die Erziehung von Kindern,
also: ist dies eine Aufgabe, die in Zukunft Technologie
übernehmen könnte?


Oder anders: den ausgedehnten Zustand des halbherzigen
andauernden Krieges, der Gesellschaft genannt wird. Neal
Stephensons Wälzer The Diamond Age kann auch mehr als 20 Jahre
nach seinem Erscheinen empfohlen werden.


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