Elizabeth Strout: Lucy by the Sea - A Novel

Elizabeth Strout: Lucy by the Sea - A Novel

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Beschreibung

vor 1 Jahr

Als ich Anfang Februar 2020 von Berlin nach Bangkok flog, wurde
ich am Gate gefragt, ob ich kürzlich in China gewesen wäre.
Damals gab es die ersten Berichte über den Coronaausbruch und
vorsorglich war ein kurzer Abstecher nach Südchina, der ohne
Visum für 3 Tage möglich gewesen wäre, doch abgesagt worden.


In Thailand verbrachte ich Tage in der übervollen Stadt Bangkok,
aber die Ressorts waren bereits wie ausgestorben. In Vietnam
trugen die Hotelangestellten Masken, und sie berichteten, dass es
weniger Touristen als sonst gäbe.


Anfang März war ich das letzte Mal bei einem Konzert und kann
mich erinnern, wie man sich nicht mehr die Hand gab oder umarmte,
sondern sich mit der Berührung der Fußinnenseite begrüßte. Ich
sagte zu einigen, dass dies wohl das letzte Mal für lange Zeit
wäre und erntete ungläubige Blicke. Ich erinnere mich, dass ich
danach voller Wehmut in eine Kneipe ging und voller schlechter
Laune nach Hause. Die folgenden Monate sind seltsam verschwommen
und ich erinnere mich an einen Artikel, der mir half. Er
hieß: Was du fühlst ist Trauer.


Vor einigen Tagen las ich einen Essay, der sich mit dem Phänomen
beschäftigte, wieviel aus der Zeit hinter einem Schleier liegt,
obwohl es nicht lange her ist.


Über eine Kurzrezension stieß ich auf Elizabeth Strouts “Lucy by
the Sea - A Novel”, welches im Oktober letzten Jahres erschien
und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt.


Protagonistin des Werkes ist - Überraschung! - die im Titel
erwähnte Lucy. Diese ist eine ältere Autorin, deren 2. Ehemann
vor 2 Jahren verstorben ist, aus erster Ehe zwei erwachsene
Töchter hat und in New York lebt. William, ihr erster Ehemann, zu
dem sie ein gutes Verhältnis hat, organisiert, dass beide
gemeinsam in einem alten Haus an der Küste Maines Zeit verbringen
werden, nur ein paar Wochen, wie er ihr versichert. Während
William die Situation richtig einschätzt und auch für die Töchter
versucht ein geschütztes Leben zu organisieren, braucht Lucy
Wochen, und selbst dann scheint ihr vieles nicht klar, wie hinter
einem Schleier. Ein einsames Leben, von den Nachrichten wendet
sie oft die Augen ab. Nur wenige Ereignisse wie die Black Lives
Matter Bewegung und der Sturm aufs Capitol brennen sich ihr
ein. 


Dabei ist die Innensicht von Lucy nicht das Beherrschende in
diesem Roman. Elizabeth Strout ist viel zu schlau, um das
Innenleben einer älteren privilegierten Frau, die es sich leisten
kann, ihre geliebte Stadt zu verlassen, die später zu einem
dramatischen Brennpunkt der Pandemie wird, zum beherrschenden
Thema zu machen. Unterschiedliche Perspektiven werden durch ihre
Familie, ihren Bekanntenkreis, die Ereignisse im Leben ihres
ersten Ehemanns William, ihre neuen Freundschaften und Kontakte
zu Personen, die sie zurückhaltend als “Anhänger des aktuellen
Präsidenten” bezeichnet skizziert.


Elizabeth Strouts preisgekrönte Werke, für die sie unter anderem
den Pulitzer Preis, den Siegfried Lenz Preis oder Nominierungen
für den Booker Prize erhalten hat, beleuchten wiederholt die
gleichen Protagonisten an verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens,
bei einschneidenden Ereignissen. So ist Lucy auch einer der
Hauptpersonen in “My Name is Lucy Barton” und “Oh William!”. Die
Romane sind unabhängig voneinander lesbar, es braucht nicht die
Lektüre der anderen Werke. Dabei ist bemerkenswert, dass - anders
als manchmal in Romanreihen mit wiederkehrenden Protagonisten -
die Beschreibung vergangener Geschehnisse nicht gehetzt oder als
notwendiges Anhängsel und Wiederaufzählen vielleicht bekannter
Fakten erscheint, sondern diese Geschehnisse zu unterschiedlichen
Zeitpunkten ihrer Reflexion unterschiedlich bewertet werden, weil
die Personen älter geworden sind, sich ihre Sicht verändert hat.


Für jede Zeit - besonders bei herausragenden, die Geschichte
vieler Menschen berührender Ereignisse - wird in der Literatur
mithilfe von Romanen versucht, einen Sinn zu finden, eine
Erklärung, vielleicht Zusammenhänge und Einsichten. Elizabeth
Strouts “Lucy by the Sea - A Novel” gelingt dies für die noch
nicht beendete Corona Pandemie. Dabei ist Lucys Geschichte keine
allgemeingültige, die aber mit Mitgefühl symbolhaft auch andere
Lebensrealitäten abbildet. Am Ende des Romans sind Lucy und die
anderen gewandelte Personen, es wird kein Zurück zu einer
früheren Normalität geben, denn nichts ist mehr gleich,
vielleicht ähnlich.


Ein melancholisches Werk, welches seinen Reiz auch daraus
bezieht, dass wir gerade alle selbst diese Tage, Wochen, Monate
durchlebt haben: die dunklen Zeiten mit fieberhafter Forschung,
ohne Impfung oder Aussichten darauf, die ganzen geschlossenen
Orte, all die Unsicherheiten, die Angst und den Verlust von
Menschen. Später dann die Hoffnung, die bittere Erkenntnis, das
selbst ein so einschneidendes Erlebnis nicht dazu geführt hat,
dass irgendetwas gerechter wird. Und die Bestätigung, was uns
tragen kann: Freundschaften und Liebe.


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