Sarah Easter Collins - So ist das nie passiert

Sarah Easter Collins - So ist das nie passiert

7 Minuten
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Beschreibung

vor 2 Tagen

„Ich grüble über all die kleinen Dinge nach, die uns aufbauen und
zerstören, all die Kleinigkeiten, die wir verbergen und
enthüllen, vergessen und vergeben möchten. Dass wir alle
verborgene Geschichten mit uns herumtragen, zu denen wir ständig
zurückkehren, Dinge, die uns hochfliegen oder langsam
herunterkommen lassen. Ich denke über das Leben nach, das ich
gelebt habe, und über all die Dinge, die ich weiß.[...]“ (S. 382)


So lässt Sarah Easter Collins ihre Protagonistin Robyn in ihrem
Roman So ist das nie passiert ihre Gedanken formulieren und es
ist gleichzeitig ein Rückblick auf ihr Leben, der ebenso die
Frage aufwirft, was wir wirklich wissen und wie fehlerhaft
Erinnerungen sein können; ein Thema welches sich durch den
gesamten Roman zieht und tragend für den Verlauf der Handlung
sein wird.


Ausgangspunkt des Romans, der 2024 im Heyne Verlag erschien und
im Original den Titel Things don`t break on their own trägt, ist
ein Abendessen. Zugegen sind die Protagonistin Robyn und deren
Frau Cat, die auch gleichzeitig die Gastgeberinnen sind. Außerdem
Robyns Bruder Michael und dessen Freundin Liv, Robyns gute
Freundin Willa und deren Freund Jamie sowie Cats Bruder Nate und
dessen Freundin Claudette. Dabei spielen vor allem Robyn und
Willa eine zentrale Rolle und aus ihren Blickwinkeln wird auch
der Roman kapitelweise erzählt. Besonders dramatisch ist dabei
vor allem Willas Geschichte, denn ihre Schwester Laika
verschwand, als sie noch ein Teenager war und wird zum Zeitpunkt
des Dinners, an dem die Geschichte einsetzt, bereits seit über 20
Jahren vermisst. Neben der Tatsache, dass Willa die Hoffnung,
ihre Schwester zu finden, nie aufgegeben hat, was ihr Leben in
erheblichem Maß bestimmt hat, kommt an diesem Abend noch hinzu,
dass sie in Claudette, der Freundin von Cats Bruder, plötzlich
ihre lange verschollene Schwester zu erkennen glaubt. An diesem
Punkt setzen die Erinnerungen und Rückblicke auf die
Geschehnisse, die bis zu diesem Punkt reichen bzw. geführt haben
ein und werden kapitelweise abwechselnd von den Protagonistinnen
erinnert, wodurch sich für die Leserin nach und nach ein sehr
differenziertes und unerwartetes Bild ergibt.


Robyns und Willas gemeinsame Geschichte beginnt im Internat, auf
welches Willa kurz nach dem Verschwinden ihrer Schwester von den
Eltern geschickt wird. Die Elternhäuser der beiden Mädchen
könnten kaum unterschiedlicher sein. Während Robyn in einem
liebevollen Haushalt aufwächst, in dem viel miteinander
gesprochen, agiert und diskutiert wird, in dem es gegenseitige
Wertschätzung und Respekt gibt und den man landläufig wohl als
liebevoll bezeichnen würde, erfährt Willa in ihrem zu Hause vor
allem Unterdrückung, Aggressionen und Gewalt durch den Vater,
wobei sich dessen physische Gewalt nicht an Willa selbst, sondern
deren Mutter und Schwester entlädt. Es ist ein zu Hause der
Abhängigkeiten und des Machtmissbrauchs, in der die Mutter
Bianka, versucht ihre Töchter zu schützen und in dem der Verlust
der Tochter und Schwester kaum zu verarbeiten ist. Das
unterschiedliche Aufwachsen der Mädchen ist auch ein wichtiger
Grund, warum sie letztlich zueinander finden und nicht nur eine
tiefe Zuneigung und Freundschaft, sondern auch Liebe füreinander
empfinden, denn die ausgeglichene Robyn kann Willa die
Geborgenheit und Ruhe schenken, die sie in ihrem eigenen zu Hause
kaum erhält und findet gleichfalls in Robyns Familie eine Art
Ersatzfamilie, die sie liebevoll aufnimmt. Umso tragischer ist
es, dass es zwischen Willa und Robyn kurz vor Ende ihres
Abschlusses am Internat zu einem Bruch kommt, der vor allem
Willas Verhalten zuzuschreiben ist und zwar später wieder
aufgelöst werden kann, anhand dessen Sarah Easter Collins aber
ebenfalls aufzeigt, wie sehr ihr Handeln von ihrem großen Verlust
beeinträchtigt wird. Ein weiteres Beispiel für die zentralen
Dynamiken inklusive Machtverhältnisse und Beziehungen im Roman
beschreibt Collins anhand der Partnerschaft, die Willa mit ihrem
Freund Nate führt. Zunächst liebevoll und zugewandt, wandelt sich
dies unter dem Einfluss von Willas Vater, der Nate regelrecht für
sich beansprucht, ins komplette Gegenteil, wobei es Willa lange
Zeit nicht gelingt, angemessen auf dieses Verhalten zu reagieren
bzw. sich daraus zu lösen.


Zentrales Motiv des Romans ist, neben dem traumatischen Verlust
und den Auswirkungen innerhalb der Familie, aber auch die Frage
danach, wie wir Dinge erinnern und wie trügerisch Erinnerungen
sein können. Es ist bekannt, dass Erinnerungen vom Gehirn jedes
Mal neu rekonstruiert werden und nicht wie eine Art Video
ablaufen, dabei werden aber auch Lücken einfach mit Informationen
aufgefüllt, die plausibel erscheinen und nicht real sind bzw.
erlebt worden sein müssen. Vor allem starke Emotionen können dazu
führen, dass Erinnerungslücken falsch aufgefüllt werden und sich
durch häufiges Erzählen verfestigen. Die eingangs erwähnte
Dinnerparty zu welcher sich Freunde und Familie treffen und bei
der Willa glaubt, ihre verschollene Schwester wiederentdeckt zu
haben, stellt im Roman den Ausgangspunkt dafür dar, dass vor
allem Willa beginnt sich, beginnend bei ihrer Kindheit, zu
erinnern. Durch die Perspektiven anderer Protagonistinnen wird
dann allmählich deutlich, dass Dinge teilweise falsch erinnert
wurden bzw., und ich denke, so ist es häufig der Fall, einfach
Teil ihrer Wahrheit und ihres Erlebens sind, die auch darauf
beruhen, dass ihr Informationen schlichtweg fehlen. Wodurch sich
für die Leserin – und auch die Akteurinnen – schließlich nach und
nach aus einzelnen Puzzleteilen ein Gesamtbild ergibt und damit
generell aufzeigt wird, dass Wahrheit und Perspektiven
miteinander verwoben sind.


Dadurch gelingt Sarah Easter Collins mit So ist das nie passiert
ein komplexer Roman, der thematisch sehr breit aufgestellt ist,
trotz der Schwere der Themen einfach und flüssig zu lesen ist und
dessen Verlauf man einfach immer weiter folgen möchte, um zu
sehen, welches Bild die einzelnen Teile ergeben. Er hat mich aber
auch einmal mehr dankbar und demütig gegenüber meiner eigenen
Familie und Freunde zurückgelassen und ist, nun wenig
überraschend, eine klare Empfehlung von mir.


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