Songdo – Die Stadt, die alles weiß | Von Günther Burbach

Songdo – Die Stadt, die alles weiß | Von Günther Burbach

36 Minuten

Beschreibung

vor 1 Monat

Ein Standpunkt von Günther Burbach.


Es gibt Orte, an denen die Zukunft längst begonnen hat. Orte, an
denen der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern Teil
eines Datensatzes ist. Songdo, Südkorea, ist so ein Ort. Eine
Stadt, die keine Geschichte hat, weil sie am Reißbrett entstanden
ist, auf Land, das es vor zwanzig Jahren noch gar nicht gab. Eine
Stadt, die nicht gewachsen, sondern programmiert wurde.


Auf den ersten Blick wirkt alles perfekt: gläserne Türme, breite
Boulevards, künstlich angelegte Parks und Kanäle, die an Venedig
erinnern sollen. Die Straßen sind sauber, die Luft klar, die
Ampeln intelligent. Aber diese Sauberkeit ist kein Zufall, sie
ist System. Songdo wurde nicht gebaut, damit Menschen dort gut
leben, sondern damit Daten fließen.


In dieser Stadt hat alles eine Adresse: Laternen, Mülltonnen,
Parkbänke, Hunde, Menschen. Sensoren registrieren Bewegung,
Kameras erkennen Gesichter, Mikrofone messen Lärmpegel, und jeder
Schritt wird in Echtzeit an das zentrale Kontrollzentrum
gemeldet, das sogenannte City Operations Center. Von dort aus
steuern Techniker das Leben wie in einem Strategiespiel. Ein
Knopfdruck, und der Verkehr fließt anders, die Beleuchtung dimmt,
die Abfallröhren saugen den Müll ab. Alles funktioniert präzise,
reibungslos, kontrolliert.


Die Bewohner wissen, dass sie beobachtet werden. Es ist kein
Geheimnis. Man nennt es Transparenz, Effizienz, Fortschritt. In
Wahrheit ist es eine neue Form von Dressur: die Perfektion der
Kontrolle. Wer weiß, dass jede Bewegung registriert wird,
verändert sein Verhalten. Man bleibt auf dem Gehweg, wartet an
der Ampel, wirft den Müll korrekt ein. Nicht, weil man Angst hat,
sondern weil man gelernt hat, dass Abweichung auffällt.


Stell dir vor, du gehst abends mit deinem Hund spazieren. Eine
Kamera verfolgt dich über mehrere Straßenzüge hinweg, eine andere
misst den Bewegungsradius deines Tieres. Der Algorithmus erkennt:
„Verstoß gegen Hygieneverordnung, Kategorie: Tierverunreinigung.“
Am nächsten Morgen bekommst du eine Benachrichtigung auf dein
Smartphone, höflich formuliert, automatisiert erzeugt. Ein
kleiner Hinweis auf dein Verhalten. Kein Mensch hat sich
beschwert. Kein Beamter hat dich angezeigt. Es war das System
selbst, das entschieden hat, dass du falsch gehandelt hast.


Das ist Songdo: eine Stadt, in der Abweichung zur Ausnahme wird,
weil niemand sie sich mehr leisten will. Die Perfektion der
Maschine spiegelt sich in der Disziplin des Menschen. Man
funktioniert freiwillig, effizient, vorhersehbar. Die Stadt ist
sauber, sicher, klimaneutral. Und doch liegt über allem eine
Kälte, die schwer zu beschreiben ist.


Denn wer in Songdo lebt, lebt nicht einfach. Er wird gelebt.
Seine Wohnung ist vernetzt, der Stromverbrauch analysiert, die
Vitaldaten gesendet, das Konsumverhalten registriert. Die
Klimaanlage weiß, wann du das Fenster öffnest, die Stadt weiß,
wann du schläfst. Nichts davon ist bösartig gemeint, aber alles
ist politisch. Songdo ist die materialisierte Vorstellung davon,
wie sich Regierungen und Konzerne die „perfekte Gesellschaft“
vorstellen: sauber, effizient, berechenbar. Eine Gesellschaft
ohne Überraschungen.


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