Studio B Klassiker: Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror
8 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 1 Monat
Leider findet sich nicht immer die Zeit, um eine neue Rezension
zu schreiben und die Hörerinnen mit neuem Input zu erfreuen. Das
liegt zum einen daran, dass es manchmal einfach nicht zum
straffen Zeitplan passt und zum anderen, dass gelegentlich auch
einfach die Lektüre fehlt, die mich so mitreißt, dass ich
unbedingt etwas darüber schreiben will. Passend zum grauen Wetter
habe ich daher heute einen alte, bereits vor neun Jahren und
ebenfalls im November von mir veröffentlichte Rezension
ausgesucht, die es lohnt, noch einmal erneut Beachtung zu finden.
Bereits im Jahr 1869 schrieb der gerade einmal 23 jährige
Franzose Isidor Lucien Ducasse, besser bekannt unter dem
Pseudonym Lautréamont, sein Werk „Die Gesänge des Maldoror“,
welches 1963 in deutscher Übersetzung im Rowohlt Verlag erschien.
Dieses, sein einziges vollendetes Werk, gilt als Klassiker der
Schwarzen Romantik und übte gleichfalls großen Einfluss auf die
Surrealisten aus. Der Protagonist Maldoror besingt in sechs
Gesängen sowohl seine eigene als auch die Grausamkeit der
Menschen, ebenso wie seine Verachtung für den Schöpfer. Meine
Rezension möchte ich mit folgendem Zitat beginnen:
„Es liegt die Welt in Scherben,Einst liebten wir sie sehrNun hat
für uns das Sterben,Nicht viele Schrecken mehr.“ (1944)
Diese erste Strophe aus Hermann Hesses Gedicht „Leb’ wohl, Frau
Welt“, welches 1944 und damit circa 75 Jahre nach Lautréamonts
Werk erschien, deutet eine Thematik an, die die Dichter und
Philosophen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg beschäftigte
und beschäftigt und die auch in unserem Alltag fest verankert
ist. Die Medien berichten unablässig über die Gräueltaten der
menschlichen Rasse, sei es im kleinen oder großen Stil. Wir sind
jedoch nur begrenzt in der Lage, all diese Informationen zu
verarbeiten und halten uns bewusst vor der Auseinandersetzung
zurück, solange es uns selbst nicht betrifft und vielleicht auch,
um darüber nicht völlig zu verzweifeln.
Anders löst der Protagonist Maldoror dieses Thema für sich. Er,
dessen Name so viel wie„Sonne des Bösen“ (Aurore du Mal), oder
auch „Vergolder des Bösen“ bedeutet, zelebriert die
Abscheulichkeiten und besingt die Bösartigkeiten der Bestie
Mensch, nicht ohne dabei auch den Schöpfer ins Gericht zu nehmen,
der diese Kreatur erschaffen hat. Maldoror sucht einerseits die
Einsamkeit, indem er sich in Höhlen und anderen entlegenen
Plätzen aufhält, andererseits braucht er die Gegenwart der
Menschen, um seinen abartigen Neigungen zu frönen und den
Menschen größt mögliches Leid in Form von beispielsweise
Misshandlungen, Vergewaltigungen und Kindsmord zuzufügen.
Maldoror sieht das Leben nicht als Geschenk an, sondern als
fremdbestimmte Entscheidung, an der er keinen Anteil hat. Er wäre
lieber „der Sohn der Haiin […] und des Tigers“ (S. 20) geworden,
deren Grausamkeit bekannt ist und die die des Menschen trotzdem
nicht im Ansatz übertrifft. Die gottgegebene Fähigkeit zu leiden,
sieht er als verdienstreich und als Ideal an.
Während des Lesens stellt sich die Frage, welches Geschöpf
Maldoror selbst eigentlich ist. Zwar wird er im Klappentext des
Buches als gefallener Engel, satanischer Verführer und als
Verkörperung des absolut Bösen bezeichnet, doch beim genauen
Lesen wird deutlich, dass der Satan nicht nur sein Rivale,
sondern sogar sein Feind ist. (s. S. 137) Auch die aufkommende
Vermutung, dass er ein Vampir sei, negiert er im Text selbst, mit
der Begründung: „man hält mich zu Unrecht für einen Vampir, da
man Tote so nennt, die dem Grabe entsteigen; ich aber bin ein
Lebender“ (S. 198) Ich glaube vielmehr, dass Maldoror als
Metapher für das Böse im Allgemeinen gedeutet werden kann.
Nämlich für die über die Jahrhunderte und Epochen hinweg
herrschenden Übel der Welt, die in immer anderen Gesichtern
Unheil bringen.
Und doch geht es Lautréamont mit seinem Roman nicht allein darum,
das Schlechte der Menschen aufzuzeigen. Vielmehr verbirgt sich
hinter seiner metaphernreichen Sprache, seinem Radikalismus,
seiner Vulgarität und seinen Übertreibungen der Wille, beim Leser
den Wunsch nach dem Guten im Menschen zu wecken. Auch sein
Protagonist ist nicht das ausschließlich Böse, sondern besitzt
Moral, wie sich meiner Meinung nach, an folgendem Zitat zeigt:
„...aber vor allem kommt es darauf an, richtige Begriffe über die
Grundlagen der Moral zu besitzen, solcherart, daß jeder von dem
Prinzip durchdrungen sein muß, das befiehlt, den anderen so zu
behandeln wie man vielleicht selber behandelt werden möchte.“ (S.
201/202)
Die Ambivalenz Maldorors zeigt sich darin, dass er einerseits
Freude daran hat, anderen beim Foltern zuzusehen, andererseits
aber auch hilft und verachtend auf die Unvernunft und
Rachsüchtigkeit der Menschen blickt, während die Tiere dem
Menschen in dieser Hinsicht überlegen sind. Der Vergleich mit
Tieren, der Wunsch des Protagonisten, selbst ein Tier zu sein,
sowie Tiere als Metapher sind ein von Lautréamont häufig
genutztes Stilmittel. Den Schöpfer bezeichnet er als hochmütig
und als Voyeur, der sich nachts die Träume der Schlafenden
ansieht.
„Die Gesänge des Maldoror“ sind keinesfalls einfach zu lesen,
schon aufgrund einer Sprache, die wir heute so nicht mehr
verwenden. Wenn der Zugang dazu einmal geglückt ist und man sich
sozusagen ‘eingelesen’ hat, ergeben sich weitere Schwierigkeiten.
Zum einen die mitunter sehr langen und verschachtelten Sätze, zum
anderen die Vermischung von Realität, Traum, Metapher und auch
Halluzinatorischen. Oft ist nicht ganz klar bzw. eindeutig mit
wem oder wovon Maldoror gerade spricht. Hinzu kommen die
Brutalität, Grausamkeit und der Sadismus, mit denen Maldoror
agiert und die Lautréamont bewusst einsetzt, um zu schockieren,
aber vor allem um zu läutern. Nicht ohne Grund hatte er daher
Schwierigkeiten, sein Buch verlegen zu lassen.
Und doch schafft es Lautréamont, dass der Leser nicht nur
Abneigung gegen Maldoror empfindet, sondern sich auch in ihn und
seine zutiefst menschlichen Fragen hinein fühlen kann, wie
beispielsweise folgende: „Oft habe ich mich gefragt, was leichter
zu ergründen sei: die Tiefe des Ozeans oder die Tiefe des
menschlichen Herzens!“ (S.24/25) Diese Frage mag zunächst etwas
pathetisch klingen, doch der Ozean ist ein wichtiges Motiv im
Roman. Denn der Ozean ist majestätisch und birgt eine enorme
Tier- und Pflanzenwelt und neben diesen bekannten Dingen auch
viele Geheimnisse und unerforschte Stellen. Maldoror geht sogar
soweit, ihn, also den Ozean, den ‘großen Junggesellen’ zu nennen,
was in diesem Fall eine Bezeichnung für Gott ist und deutlich
macht, welchen Stellenwert der Ozean für Maldoror einnimmt. Sein
innehalten und seine Gedanken über den Ozean, zählen für mich zu
den schönsten Stellen im gesamten Buch, da sie nicht nur Bilder
und Assoziationen in mir hervorrufen, sondern auch sehr treffend
formuliert sind, weshalb ich an dieser Stelle gern noch einmal
zitieren möchte:
„Alter Ozean, du bist das Symbol der Identität: immer dir selber
gleich. Im Grunde deines Wesens änderst du dich nicht, und wenn
deine Wogen irgendwo in Aufruhr sind, dann sind sie in einer
anderen, ferneren Gegend in vollendeter Ruhe. Du gleichst nicht
dem Menschen, der auf der Straße stehenbleibt, um zwei Bulldoggen
zuzusehen, die sich an der Gurgel packen, der aber auch nicht
stehenbleibt, wenn man einen Menschen zu Grabe trägt, der heute
morgen zugänglich ist und heute abend schlechter Laune; der heute
lacht und morgen weint. Ich grüße dich, alter Ozean!“ (S. 23)
„Die Gesänge des Maldoror“ sind keine einfache Lektüre, nichts
das man eben mal so nebenbei liest und doch sehr lesenswert, da
sie im Laufe der Zeit nicht an Aktualität verloren haben. Daher
möchte ich Lautréamonts einziges, vollendetes Werk unbedingt
weiter empfehlen, auch wenn das einmalige Lesen sicher nicht
genügt, um es in Gänze zu durchdringen, so doch um zunächst einen
Eindruck dessen zu gewinnen, worum es dem Autor ging, nämlich:
„um den Leser zu bedrücken und in ihm den Wunsch nach dem Guten
als Heilmittel zu wecken.“
This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com
Weitere Episoden
5 Minuten
vor 4 Wochen
9 Minuten
vor 1 Monat
51 Minuten
vor 2 Monaten
4 Minuten
vor 2 Monaten
7 Minuten
vor 2 Monaten
In Podcasts werben
Abonnenten
Hamburg
Kommentare (0)