138 — Im Windschatten der Narrative, ein Gespräch mit Ralf M. Ruthardt

138 — Im Windschatten der Narrative, ein Gespräch mit Ralf M. Ruthardt

1 Stunde 19 Minuten

Beschreibung

vor 1 Monat

Der Titel der heutigen Episode ist: Im Windschatten der Narrative
und ich freue mich besonders, Ihnen meinen heutigen
Gesprächspartner Ralf M. Ruthardt vorstellen zu dürfen. Um den
politischen Diskurs zu verstehen, erscheint es von großer
Bedeutung, sich mit den Begriffen Narrativ und Framing
auseinanderzusetzen. Es freut mich sehr, dass sich Ralf M.
Ruthardt zu einem Gespräch bereiterklärt hat, in dem wir die
Frage stellen, was es bedeutet, sich im Windschatten von
Narrativen zu bewegen.


Ralf M. Ruthardt hat sich über zwei Jahrzehnte mit
Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz beschäftigt. Er ist
Unternehmer und gründete mehrere Startups mit innovativen
Lösungen zur Automatisierung von Geschäftsprozessen. Seit 2023
publiziert Ruthardt zu gesellschaftspolitischen Fragen, was als
Folge politischen und medialen Agierens in Deutschland während
der Pandemie gedeutet werden darf. Den konstruktiven,
versachlichten und freundlich geführten Diskurs zu unterstützen,
ist eine der wesentlichen Motivationen von Ralf M. Ruthardt als
Autor gesellschaftspolitischer Romane und als Herausgeber des
Magazins »mitmenschenreden«. Er hält den Wechsel der Perspektive
für wesentlich, um in Analyse und Lösung voranzukommen — und auch
die konstruktive Irritation, auf die wir noch zu sprechen kommen
werden.


Aber es gibt noch einen anderen, vielleicht ungewöhnlichen
Gedanken, der mir nach diesem Gespräch mit Ralf M. Ruthardt durch
den Kopf gegangen ist. Wieder eine meiner Abschweifungen, aber
folgen Sie mir bitte, ich glaube, das ist ein interessanter
Gedanke, der sich auch zwischen den Zeilen im Gespräch immer
wieder findet.


In der Biologie gibt es wohl ein Phänomen, das allerdings wenig
beschrieben ist — die sleeping functions, also die schlafenden
Funktionen. Ich verlinke in den Shownotes beispielhaft einen
Artikel. Wenn ich als Laie das Prinzip richtig verstehe, passiert
bei diesem Beispiel im Kern Folgendes: Ein Ökosystem gerät unter
Druck, weil bestimmte Spezies ausgerottet oder dysfunktional
werden. Als diese Spezies verschwinden, übernimmt eine
andere Art die ökologisch wichtige Funktion, die sie zuvor nicht
ausgeübt hat. Daher sleeping — schlafend. Wie sehr dieses
biologische Phänomen wirklich verbreitet ist, traue ich mich
nicht zu sagen, aber mir gefällt das Bild als Motiv für
notwendige gesellschaftliche Resilienz.


Wenn einzelne Systeme ausfallen oder ihren Dienst nicht mehr
richtig erfüllen, braucht es sozusagen »schlafende Funktionen«,
also Menschen wie Herrn Ruthardt und viele andere, die nun
einspringen und versuchen, ihren Beitrag zu leisten, um diese
gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Personen, die unter
anderen Umständen nie in diese Rolle geraten wären, wie er selbst
im Gespräch beschreibt.


Allein diesen Gedanke schlafender Funktionen von Bürgern, die in
Zeiten der Krise erwachen und versuchen, das System zu
stabilisieren, finde ich faszinierend. Was halten Sie von diesem
Gedanken?


Wir beginnen das Gespräch mit der Frage, wie man zum Titel »Im
Windschatten der Narrative« gelangt? Narrativ, Frame, Geschichte
— wie unterscheiden sich die Begriffe und was hat das mit einem
Beduinenzelt zu tun?


Sind die Begegnungspunkte, wo wir gemeinsame Narrative aufbauen,
weniger geworden?


»Die sinnstiftende Erzählung, wie die Welt funktioniert.«


Die Kernfrage ist nun: Wer liefert uns diese sinnstiftende
Erzählung? Woher stammt sie und mit welchem Motiv wird diese
verbreitet? Brauchen wir Narrative als Komplexitätsreduktion für
den Alltag und was sind die Risiken, die damit verbunden sind?


Haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr damit
beschäftigt, wie wir unseren Wohlstand genießen und ausleben
können, als woher er kommt? Und damit mehr und mehr die
Fundamente unserer bislang erfolgreichen Gesellschaft untergraben
und ausgehöhlt?


»Technology is anything that wasn't around when you were born.«,
Alan Kay


Torkeln wir geradezu von der Banalität zur konstruierten
(beziehungsweise selbstverursachten) Krise?


Wie sollen wir mit der Tatsache umgehen, dass große Teile der
ehemaligen Leitmedien nicht mehr in erster Linie informieren,
sondern versuchen, uns zu belehren und in bestimmte politische
Richtungen zu bewegen? Aber auch alternative Medien und soziale
Medien sind natürlich nicht neutral und bergen eigene Gefahren.


»Wollen wir als Gesellschaft Journalismus so verstehen, dass die
dort agierenden Personen — ohne ein gewähltes Mandat zu haben —
uns als Gesellschaft über die Selektion von Informationen und
indem sie uns die Informationen so präsentieren und die
Interpretation gleich mitliefern, so führen, dass wir zu einem
bestimmten Ergebnis kommen? Wenn wir das wollen, müssen wir eine
andere Staatsform wählen.«


Was ist die Folge, wenn es immer weniger persönliche und direkte
Kontakte mit politisch handelnden Personen gibt? Ist Politik ein
Beruf — oder anders gesagt: Was ist die Folge von Politikern, die
ohne Politik keinen Beruf haben?


Wie spielen nun Narrative und Macht zusammen?


Irgendwann beginnt die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen so
stark vom medialen Narrativ und Framing abzuweichen, dass diese
kognitive Dissonanz schlicht nicht mehr haltbar ist. Was passiert
dann?


Was geschieht, wenn über Sachverhalte nicht mehr faktisch
diskutiert wird, sondern quasi-religiöse Bekenntnisse
ausgetauscht werden? Vor jedem Argument müssen dann zunächst
Glaubensbekenntnisse ausgedrückt werden, um zu signalisieren,
dass man eh zur richtigen Seite gehört.


Welche Rolle sollten Demut und das Zulassen von Nicht-Wissen
spielen? Was kann der öffentlich-rechtliche Rundfunk in dieser
Gemengelage (noch) leisten? Welche Rolle spielen hier
Skaleneffekte?


Sind wir als europäische Gesellschaft überhaupt noch in der Lage,
große Dinge auf die Beine zu stellen und alte Zöpfe
abzuschneiden? Es gibt mehr als die Baustelle des ÖRR; andere
aktuelle Beispiele sind die deutsche Bundeswehr oder die deutsche
Bahn, beides Sanierungsfälle, die eher hoffnungslos erscheinen.


Die schwerwiegende Frage ist: Was machen wir, wenn wir in einer
Situation angelangt sind, wo eine evolutionäre Verbesserung
eigentlich nicht mehr möglich ist? Aber die klassische Erkenntnis
des Konservatismus sagt, dass es viel einfacher ist, etwas
Funktionierendes zu zerstören, als es aufzubauen.


»Keine Lüge, die etwas auf sich hält, enthält Unwahres. Was
letztlich präpariert wird, ist vielmehr das Weltbild als Ganzes,
das aus den einzelnen Sendungen zusammengesetzt wird; […] Dieses
Ganze ist dann weniger wahr, als die Summe der Wahrheiten seiner
Teile; […] Die Aufgabe derer, die uns das Weltbild liefern,
besteht also darin, aus vielen Wahrheiten ein Ganzes für uns
zusammenzulügen.«, Günther Anders


Ist die Meinungslandschaft in den Eliten wirklich so homogen,
oder sind wir eher einer lautstarken und aggressiven Minderheit
auf den Leim gegangen, weil die Vernünftigen Angst hatten, sich
zu exponieren?


»Wir haben hier eine Konstellation, wo wenige über viele Macht
ausüben und im Grunde genommen die Aufgabe von Religion ersetzt
haben.«


Wichtiger als schnell zu sein bei Antworten wäre es, mehr Zeit
damit zu verbringen, die richtigen Fragen zu stellen!


Aber brauchen wir als Gesellschaft wirklich gemeinsame Narrative
oder können wir darauf verzichten?


»Wir brauchen gemeinsame Erzählungen, die aber nicht abdriften
ins Detail.«


Referenzen


Andere Episoden


Episode 135: Friedrich Hayek und die Beschränktheit der
menschlichen Vernunft. Ein Gespräch mit Nickolas Emrich

Episode 133: Desinformiere Dich! Ein Gespräch mit Jakob
Schirrmacher

Episode 131: Wot Se Fack, Deutschland? Ein Gespräch mit Vince
Ebert

Episode 130: Populismus und (Ordo)liberalismus, ein Gespräch
mit Nils Hesse

Episode 125: Ist Fortschritt möglich? Ideen als Widergänger
über Generationen

Episode 122: Komplexitätsillusion oder Heuristik, ein
Gespräch mit Gerd Gigerenzer

Episode 117: Der humpelnde Staat, ein Gespräch mit Prof.
Christoph Kletzer

Episode 116: Science and Politics, A Conversation with Prof.
Jessica Weinkle

Episode 111: Macht. Ein Gespräch mit Christine Bauer-Jelinek

Episode 109: Was ist Komplexität? Ein Gespräch mit Dr. Marco
Wehr



Ralf M. Ruthardt


Ralf M. Ruthardt auf LinkedIn und X

mitmenschenreden Magazin

Ralf M. Ruthardt, Das laute Schweigen des Max Grund, Edition
PJB (2023)



Fachliche Referenzen


Bellwood et al, Sleeping Functional Group Drives Coral-Reef
Recovery, Current Biology (2006)

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen Bd. I: Über
die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, Teil
1 und 2, C.H. Beck (2018)

Andy Clark, Surfing Uncertainty: Prediction, Action, and the
Embodied Mind, Oxford University Press (2019)



 

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