R. F. Kuang: Katabasis
7 Minuten
Podcast
Podcaster
Beschreibung
vor 2 Monaten
Liebe Leserinnen und Leser,
vor knapp 2 Jahren wurde an dieser Stelle mit großer Begeisterung
Rebecca F. Kuangs Werk "Babel. Or the Necessity of Violence: An
Arcane History of the Oxford Translator’s Revolution"
vorgestellt.
R. F. Kuangs neuer Fantasyroman "Katabasis" ist eine neue Schrift
in der Reihe der klassischen Höllenromane und -beschreibungen,
die wir längst nicht alle gelesen, von denen wir aber immerhin
die Titel und vielleicht noch eine Synopsis gehört haben: Dantes
"Inferno", in dem der Schriftsteller selbst, geleitet vom Poeten
Virgil, die Kreise der Hölle durchschreitet um am Ende der Hölle
zu entfliehen. Oder auch die Geschichte von Orpheus und Eurydike,
die weniger erfolgreich verlief, denn obwohl der Deal zur
Wiederauferstehung von Eurydike klar war, musste sie doch
zurückbleiben, weil sich Orpheus auf dem Weg nach draußen nach
ihr umdrehte. Dann gibt es noch die Sage über Äneas, der nach dem
Fall Trojas flieht und auf seinen Irrfahrten mit der Seherin
Sybille in die Unterwelt hinabsteigt. Dies sind nur einige
Beispiele über die Reise in die Unterwelt/Hölle/Hades/Inferno mit
anschließender Wiederkehr.
Und auch R. F. Kuangs Heldin in "Katabasis" - doch eher
hemdsärmelig Alice Law genannt, wird nicht alleine in die
Unterwelt reisen. Warum sie die Reise überhaupt plant: Alice
arbeitet in Cambridge an ihrem Doktortitel. Für ihr Ziel
(universitärer Erfolg und eine entsprechende Laufbahn) hat sie
sich einen als "schwierig" geltenden Doktorvater herausgesucht:
Prof. Jacob Grimes. Dessen Seele hat sie bei einem Experiment aus
Versehen in die Hölle geschickt. Während des Experiments ist sein
Körper explodiert. Danach hat sie ihre Spuren beseitigt und das
Ableben des Professors wurde als tragischer Unfall eingestuft,
weil das Pentagramm, in dem er sich befand, nicht ganz
durchgängig gezogen war. Klingt vielleicht hanebüchen, macht aber
Sinn: Alice studiert analytische Magie (im englischen Original
hübsch als "Magick" statt des üblichen "Magic" bezeichnet) und
ihr Professor wurde durch den Fehler im Pentagramm in die Hölle
geschickt.
Die eigentliche Katastrophe ist aber, dass Alice dessen
Empfehlungsschreiben und ihren Doktortitel braucht, um den
eingeschlagenen Weg der akademischen Karriere fortsetzen zu
können. Es steht also ihre gesamte Karriere auf dem Spiel - und
wenn man betrachtet, wie viel Zeit und Aufwand sie hineingesteckt
hat, dann kann sie gar keine andere Wahl sehen: sie muss einen
Weg finden, Prof. Grimes aus der Hölle zurückzuholen.
Erfolgreiche Beispiele gibt es zuhauf: siehe die oben aufgeführte
Literatur.
Magick ist ein sich am Rande des universitären Betriebes
befindlicher Forschungszweig, dessen große Tage hinter ihm
liegen: die Erfindung des nie versiegenden Wassers oder des nie
endenden Brotvorrates halfen einst, den Krieg zu gewinnen.
Spätere als “Zirkus” verunglimpfte Experimente nahmen der
Forschung das frühere hohe Ansehen.
Funktionsgrundlage der Magick sind Paradoxe philosophischer und
mathematischer Natur. Entscheidend für den Erfolg der Magick ist
jedoch die Überzeugung, dass es funktioniert. Ein gerade heute im
kapitalistischen Krisengeschehen nicht selten hochgelobtes
Konzept: deine Einstellung (neudeutsch Mindset) entscheidet über
den persönlichen Erfolg.
Die Verquerung dieser Konzepte, die teilweise an den Neusprech
von “1984” erinnern, ist die Grundannahme der Prinzipien des
universitären Betriebs, insbesondere im Fachbereich der Magick:
Verzicht ist Gewinn, Ausbeutung ist eine ehrenhafte Sache, die
Herabwürdigung ist ein Kompliment. Unter diesen Annahmen, die den
Beteiligten umfassend eingeimpft wurden, dauert es überraschend
lange, bis es langsam ins Bewusstsein tröpfelt, dass diese
ausbeuterischen, grausamen Verhältnisse etwas sind, bei dem man
eigentlich gar nicht gewinnen, sondern nicht mehr mitmachen
möchte. Aber gut, in den vergangenen Jahrhunderten gab es auch
Zeiten, als Menschen als "gottgesandt" eingestuft wurden,
12-Stunden-Tage in der Fabrik als gottgegeben, der Platz einer
Frau am Herd, aber niemals an der Universität, und als sich das
dann änderte, ewige und große Dankbarkeit für die Brosamen
erwartet wurde. Wie vermutet, ist die Welt, aus der Alice Law in
die Unterwelt hinabsteigen möchte, keine schöne. Ihr Streben
darin ist zweifelhaft, aber vielleicht verständlich, wenn man
selbst drin gesteckt hat.
Wenig überraschend kommt nun also noch ein anderer Doktorand
hinzu, Peter Murdoch. Der hat eine ganz andere Motivation als
Alice, aber es braucht (siehe die ersten Absätze) unzweifelhaft
einen Gefährten, wenn man sich entschließt, sich auf den Weg in
die Hölle zu machen.
Wie dieser genau aussieht, und was eine*n erwartet, ist dabei ein
Streitpunkt zwischen beiden. Quellen für ihre Standpunkte sind
die literarischen Überlieferungen. Denn wenn diese existieren,
ist dies der Beweis, dass es möglich ist, den Hades wieder zu
verlassen. Die unterschiedlichen Wege sind alle möglich, die
Reise wird unternommen. Die Erlebnisse genauer zu beleuchten wäre
zu spoilern. Bui!
Bleibt die Frage: ist es eine Empfehlung? Die einen sagen so, die
anderen so. Persönlich hatte ich bei “Babel” mehr Erkenntnisse,
Überraschungen, Genuss. Trotzdem: Empfehlung, denn warum denn
nicht ein Fantasyroman, der Auswege zeigt, denn die Hölle: das
sind die anderen (und wir sind dabei).
This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com
Weitere Episoden
5 Minuten
vor 1 Monat
8 Minuten
vor 1 Monat
9 Minuten
vor 1 Monat
51 Minuten
vor 2 Monaten
4 Minuten
vor 2 Monaten
In Podcasts werben
Abonnenten
Hamburg
Kommentare (0)