133 — Desinformiere Dich! Ein Gespräch mit Jakob Schirrmacher

133 — Desinformiere Dich! Ein Gespräch mit Jakob Schirrmacher

1 Stunde 5 Minuten

Beschreibung

vor 3 Monaten

Der Titel dieser Episode lautet »Desinformiere Dich!« –
orientiert sich am Buch meines Gastes, Jakob Schirrmacher. Es
freut mich ganz besonders, Jakob zum Gespräch begrüßen zu dürfen.


Jakob Schirrmacher ist Referent für Medienbildung und
Digitalisierung, Publizist und Gründer der NGO Free Speech Aid.
Er beschäftigt sich mit Fragen rund um Meinungsfreiheit,
Desinformation und den gesellschaftlichen Folgen digitaler
Technologien. In seinen Essays – unter anderem für die WELT –
analysiert er kritisch den Umgang von Politik und Medien mit
Wahrheit und öffentlicher Debatte. Mit Free Speech Aid setzt er
sich für mehr Meinungsfreiheit ein – und dafür, wie wir diese in
Zeiten von Zensur- und Regulierungsdruck schützen können.


In dieser Episode sprechen wir über Wahrheit und das
vermeintliche Gegenteil, die Desinformation. Aber tatsächlich
geht es, glaube ich, um die fundamentalere Frage, wie man mit
Unsicherheit und mit unterschiedlichen Einschätzungen der Welt
umgeht. In diesem Gespräch verhandeln wir hauptsächlich die
gesellschaftlich/politischen Komponenten, aber die
wissenschaftliche Dimension ist ebenso offensichtlich und wird
von uns auch angesprochen.


Wir beginnen mit der Frage, was eine moderne und offene
Gesellschaft ausmacht, welche Rolle Individuum und Freiheit
spielen und welche zahlreichen Angriffe auf die offene
Gesellschaft und die Demokratie wir aktuell erleben. Was sollten
wir als Bürger beachten und wie damit in der Zukunft umgehen?


Ist offener Diskurs eine Bedingung für eine moderne Gesellschaft?
Warum ist ein Fokus auf das Individuum und individuelle Rechte
von Bedeutung?


Was ist Wahrheit? Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen
Naturwissenschaft und Aspekten des individuellen
gesellschaftlichen Lebens?
»An important scientific innovation rarely makes its way by
gradually winning over and converting its opponents: it rarely
happens that Saul becomes Paul. What does happen is that its
opponents gradually die out and that the growing generation is
familiarized with the idea from the beginning…«, Max Planck

Damit kommen wir zum Versuch der Definition verschiedener
Begriffe und deren Etablierung in gesellschaftlichen Strukturen:


»Wer entscheidet eigentlich, was Desinformation ist?«


Was bedeutet der Begriff Desinformation eigentlich und wofür
benötigen wir ihn? Ist er nützlich oder eher ein ideologischer
Kampfbegriff – also selbst in einem gewissen Sinne
Meta-Desinformation? Wie steht Desinformation in Bezug zum
Begriff »Fake News«?


»Elias Canetti in Masse und Macht diagnostiziert hatte: Wenn ein
Begriff zu viele Deutungsvarianten hat, kann er politisch umso
leichter instrumentalisiert werden.«


Ist es also gar der Versuch, sprachlich Verwirrung zu stiften?
Fallen viele Menschen gerade auf ein Machtspiel herein, das durch
Umdefinition und immer neue Begriffsverwirrungen gespielt wird?


»Es ist ein Herrschaftsinstrument – wir sehen, welche Maßnahmen
ergriffen werden, um Desinformation einzudämmen.«


Handelt es sich nur um einen wenig relevanten akademischen
Diskurs, oder hat diese Frage konkrete Folgen für unsere
Gesellschaft?


»Der Umbau unserer Informationslandschaft ist schon lange im
Gange«


Wir diskutieren dies anhand konkreter Gesetzesvorhaben. Was ist
der Digital Services Act und das vorausgehende
Netzwerkdurchsetzungsgesetz – beide im Grunde Made in Germany?


»D.h. die Regulierung, die wir heute sehen, ist eigentlich ein
deutsches Produkt.«


Sollte Deutschland stolz darauf sein? Oder erleben wir eher einen
schweren Angriff auf Freiheitsrechte, die Vorbildwirkung für
zahlreiche totalitäre Staaten haben? Wurde mit dem
Netzwerkdurchsetzungsgesetz außerdem ein weiterer Begriff
etabliert, oder gar erfunden, nämlich Hate Speech oder Hassrede
im Deutschen?


Welche schwerwiegenden (negativen) Folgen, wie Overblocking,
haben diese Regularien für die freie Meinungsäußerung im Netz?


Wird also das, was in demokratischen Gesellschaften eigentlich
ein Tabu ist – Zensur – durch geschickte, aber perfide
Regulierung und Anreizsysteme an Internetplattformen ausgelagert?


Ist auch Hassrede ein Gummibegriff, der wenig nützt, aber viel
Schaden anrichtet? Wie haben wir die stetige Krisenrhetorik zu
bewerten, mit der vermeintlich harte Maßnahmen und immer neue
Gesetze gerechtfertigt werden?


»Die Erfahrung zeigt, dass Gesetze und Verordnungen nur selten
wieder abgeschafft werden, sobald Machtstrukturen erst einmal
gefestigt sind.«


Wird mit Angst (durch tatsächliche oder vermeintliche Krisen
ausgelöst) gearbeitet, um immer härtere Maßnahmen umzusetzen, die
aber unsere Demokratie und die offene Gesellschaft untergraben
und zersetzen?


Nicht nur langfristige Effekte sind zu bedenken: Nur weil sich
etwas gut anhört, bedeutet das noch lange nicht, dass es auch das
Ziel erreicht, beziehungsweise mit angemessenen Nebenwirkungen
erreicht.


»Lofty goals have long distracted attention from actual
consequences«, Tom Sowell


Im Extremfall der Cancel Culture brauchen wir oftmals gar keine
Gesetze mehr:


»Wir schaffen ein soziales Klima, das auf bestimmte Fragen
dermaßen emotional reagiert, dass […] man sofort in eine Ecke
geschoben wird. Da wollen die wenigsten rein und dann sagt man
besser nichts.«


Immer mehr wird direkt oder indirekt »nach oben« delegiert, und
führt zu immer stärkerer Machtansammlung. Davor hat Karl Popper,
der Autor der »Offenen Gesellschaft«, aber schon vor Jahrzehnten
eindringlich gewarnt:


»Das Wichtigste ist es, all jenen großen Propheten zu misstrauen,
die eine Patentlösung in der Tasche haben, und euch sagen, wenn
ihr mir nur volle Gewalt gebt, dann werde ich euch in den Himmel
führen. Die Antwort darauf ist: Wir geben niemandem volle Gewalt
über uns, wir wollen, dass die Gewalt auf ein Minimum reduziert
wird. Gewalt ist selbst ein Übel. Und wir können nicht ein Übel
mit einem anderen austreiben.«


[…] 


»Die Grundidee der Demokratie ist es, die Macht zu beschränken.«


Warum schauen so viele Menschen tatenlos zu, wie unsere
Demokratie substanziell beschädigt wird?


»Wir haben es uns schon bequem gemacht in unserer Demokratie und
sind mittlerweile in Strukturen angekommen, in denen es relativ
unsexy geworden ist, gegen den Staat zu sein.«


Besonders kritisch wird es, wenn man die Rolle betrachtet, die
der Journalismus spielen sollte. Staatskritisch zu agieren ist
das Kerngeschäft von politischen Journalisten. Stellen sich aber
nicht weite Teile des Journalismus immer stärker als Bollwerk vor
den Staat und verteidigen alle möglichen staatlichen Übergriffe?


Was ist die Rolle, die der Staat in einer offenen Gesellschaft
einnehmen sollte? Haben wir uns zum Nanny-Staat entwickelt, den
wir bei allem und jedem um Erlaubnis fragen, statt
Eigeninitiative zu entwickeln? Sind wir als Untertanen
sozialisiert worden und haben vergessen, dass die Idee der
offenen Gesellschaft war, dass wir frei sind und dass der Staat
die Aufgabe hat, uns maximale individuelle Freiheit zu
ermöglichen, die staatlichen Übergriffe auf ein absolutes
Mindestmaß zu reduzieren?


Haben wir den kritischen Umgang mit Herrschaftsstrukturen
verlernt? Wie sieht das über Generationen aus? Woher kommt diese
Hörigkeit?


Was macht die ständige Krisenrhetorik mit uns, besonders auch mit
jüngeren Menschen – selbst wenn es dafür oftmals wenig Grund
gibt? Sind wir krisenmüde geworden? Wird das strategisch
eingesetzt, um uns zu zermürben?


Ist das Internet eine unfassbar mächtige Manipulationsmaschine?
Oder ist das alles übertrieben? Was ist der
Censorship-Industrial-Complex? Warum hat das mit klassischer
Zensur weniger zu tun, war aber – gerade unter einer vermeintlich
liberalen Regierung in den USA – ein etabliertes Mittel, um
Information zu unterdrücken, die staatlichen Stellen oder
bestimmten Eliten nicht in den Kram gepasst hat?


Cambridge Analytica und Konsorten werden als Beispiel für die
Macht der Wahlbeeinflussung diskutiert, oder handelt es sich eher
um einen millionenschweren Marketing-Gag? Ist dieser
Desinformationshype ein Geldsegen für soziale Medien? Wenn man
angeblich über die Mechanismen der Internetdienste den
Wahlausgang verändern kann, dann wird es wohl auch dazu reichen,
mehr Cola zu verkaufen.


Sind die Menschen nur Schafe, die schlicht dem nächsten
Propagandisten folgen? Brauchen wir daher die Experten, die diese
Schafe mit der richtigen Wahrheit auf den guten Weg führen?


Wozu dann aber Demokratie – dann können wir das mühsame Getue
auch gleich abschaffen und die Experten entscheiden lassen, oder?
Was haben wir von NGOs zu halten, die in erheblichem Umfang von
staatlichen Mitteln leben, aber vorgeben, im Interesse der
»Zivilgesellschaft« zu handeln? Was hat es mit dem sogenannten
post-faktischen Zeitalter auf sich?


Welche Rolle spielen hier die verschiedenen Akteure? Von
Regierungsorganisationen über Medien, Internetdienste, selbst
ernannte Faktenchecker, sogenannte NGOs und viele andere mehr.


»Man schafft es, den Eindruck zu erwecken, dass bestimmte
Perspektiven aus der Mitte der Gesellschaft kommen,
schlussendlich ist es aber genau das Gegenteil der Fall.«


Wie sieht es mit der Lüge aus – soll diese verboten werden, oder
hat der Mensch gar ein Recht zu lügen? Ist es manchmal vielleicht
sogar Pflicht zu lügen?


»In einer offenen Gesellschaft ist nicht die Lüge selbst das
größte Risiko, sondern die Existenz einer Institution, die das
ausschließliche Recht hat, Wahrheit zu definieren. […] Wer heute
Lügen verbieten will, schafft morgen den Präzedenzfall für das
Verbot unbequemer Wahrheiten«


Zum Abschluss: Wie hat sich die Medienlandschaft über die letzten
Jahrzehnten verändert – Frank Schirrmacher, Jakobs Vater, war ja
Herausgeber der FAZ. Dazu ein Zitat von Hanns Joachim Friedrichs,
das wie aus der Zeit gefallen wirkt:


»Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht
gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.«


Wo gilt das heute noch? Es scheinen eher Haltung und Aktivismus,
als die Suche nach der Wahrheit zu gelten – manchmal sogar
verblüffend offen ausgesprochen, wie etwa von Katherine Maher,
CEO von NPR, über Wikipedia:


»The people who write these articles, they are not focused on the
truth. They are focused on something else: what is the best that
we can know right now […] Perhaps for our most tricky
disagreements, seeking the truth and seeking to convince others
of the truth, might not be the right place to start.«


»I think our reverence for the truth might have become a bit of a
distraction that is preventing us from finding consensus and
getting important things done.«


Findet die Reibung, der Versuch, Wahrheit zu finden, sich
ernsthaft mit harten Themen auseinanderzusetzen, in den früheren
Leitmedien oder gar im ÖRR noch statt? Oder erleben wir in Medien
und Politik eine Konsenskultur statt harter thematischer Arbeit?


Werden Medienorganisationen, die sich früher selbst ernst
genommen haben und tatsächlich eine wesentliche Rolle in der
Gesellschaft gespielt haben, immer mehr zu polarisierenden und
nicht ernst zu nehmenden Randerscheinungen? Denken wir an das
Etablieren von Fact-Checking bei der BBC?


»Der Journalismus, wie wir ihn kennen, hat sich stark entkernt.«


Ist die zunehmende »Demokratisierung« der Medienlandschaft –
damit auch der Bedeutungsverlust klassischer Medien – eine
positive oder negative Entwicklung?


»Mein Vater [Frank Schirrmacher] hat mir früher immer gesagt: So
lange wird es die FAZ nicht mehr geben.«


Wo laufen wir als Gesellschaft hin, und was können wir selbst
tun, um die Situation zu verbessern?


Referenzen


Weitere Episoden


Episode 131: Wot Se Fack, Deutschland? Ein Gespräch mit Vince
Ebert

Episode 130: Populismus und (Ordo)liberalismus, ein Gespräch
mit Nils Hesse

Episode 125: Ist Fortschritt möglich? Ideen als Widergänger
über Generationen

Episode 117: Der humpelnde Staat, ein Gespräch mit Prof.
Christoph Kletzer

Episode 111: Macht. Ein Gespräch mit Christine Bauer-Jelinek

Episode 94: Systemisches Denken und gesellschaftliche
Verwundbarkeit, ein Gespräch mit Herbert Saurugg

Episode 93: Covid. Die unerklärliche Stille nach dem Sturm.
Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann

Episode 88: Liberalismus und Freiheitsgrade, ein Gespräch mit
Prof. Christoph Möllers



Jakob Schirrmacher 


Jakob Schirrmacher, Desinformiere dich! Eine Streitschrift

Jakob Schirrmacher auf X

Free Speech Aid NGO

Frank Schirrmacher (FAZ)



Fachliche Referenzen


Thomas Sowell, Knowledge and Decision, Basic Books (1996)

Karl Popper, die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1 &
2, Routledge (1945)

Max Planck Zitat: The Philosophy of Physics Chapter III (p.
97) W.W. Norton & Company, Inc. New York, New York, USA. 1936

Whistleblower der Cambridge Analytica – Brittany Kaiser im
Interview; SRF Sternstunde Philosophie (2020)

Matt Taibi, Michael Shellenberger,
Censorship-Industrial-Complex, US Congress

EU-Umfragen, was denkt Europa

Streisand Effekt (Reason, Unintended Consequences)

Hanns Joachim Friedrichs

Katherine Maher, CEO von NPR, What Wikipedia teaches us about
balancing truth and beliefs, TED Talk (2021)

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