In der Traumfabrik

In der Traumfabrik

26 Minuten

Beschreibung

vor 4 Monaten

Weil man hier einem großes Thema gegenübersteht, das
gleichermaßen mit praktischen, ästhetischen und
gesellschaftlichen Fragen zu tun hat, sind diese flüchtigen
Bemerkungen nur der Auftakt zu einer Reihe weiterer Texte zum
Tema


Sehr geehrte Damen und Herren,


ich will Ihnen ein paar Gedanken zu dem sonderbaren Verhältnis
darlegen, das unsere Zeitgenossen zur »Künstliche Intelligenz«
unterhalten. Und das konfrontiert uns mit dem befremdlichen
Umstand, dass dem eine fast religiöse Qualität innezuwohnen
scheint – oder weswegen sonst taucht im der Rede darüber
reflexhaft das Wortpaar »Fluch und Segen« auf? Damit das, was ich
Ihnen jetzt sage, nicht vollständig abgehoben erscheint, lasse
ich jetzt einfach ein paar Videoausschnitte nachfolgen, die wir
auf dem ex nihilo Blog publiziert haben, im Zusammenspiel mit
Dall-E und Google VEO, aber auch einer Software, die ich selber
geschrieben habe. Diese Software ist insofern ziemlich
ungewöhnlich, als sie klassische Essays, aber auch transkribierte
Gespräche in visuelle Metaphern zurückübersetzt. Und weil unser
Gehirn, genauer, weil unsere Sprache ein regelrechter
Zauberkasten ist, erzeugen diese die verwegensten
Bildkompositionen – Dinge, die ein noch so phantasiebegabter
Mensch sich kaum einfallen ließe. Lassen Sie mich, während die
Bilder an Ihnen vorüberlaufen, die Differenz in Worte fassen.
Normalerweise sitzt man vor einem Prompt und sagt dem magischen
Spiegel, was man zu sehen wünscht. Hier ist der Prozess ein ganz
anderer. Ausgangsbasis ist ein geschriebener Text – oder ein
transkribiertes Gespräch. Dann laufen mehrere Schritte ab. Die AI
erstellt eine Zusammenfassung – und identifiziert darüber die
Grundgedanken des Textes. Diese werden in Wortbilder übersetzt,
also in Metaphern – und diese bilden die Bausteine, welche die AI
dann in einen Prompt, also in eine Kompositionsanweisung
übersetzt. Die Anweisungen werden gespeichert – und dann werden
diese Bilder generiert. Die Ausgangsposition ist also nicht die
frei flottierende Einbildungskraft, sondern ein mehr oder minder
konsistenter Text – der ganz für sich alleine stehen will, ja, in
seiner Entstehungsphase nicht einmal diesen
Visualisierungsprozess antizipiert hat. Wenn wir den Begriff der
Einbildungskraft nehmen, der ja einen unübersehbaren visuellen
Einschlag besitzt, könnte man sagen, dass die visuelle Phantasie,
auch wenn das Ganze am Ende in eine Form der Bildproduktion
einmündet, hier gar keine Rolle spielt. Ausgangspunkt ist ein
Gedankengerüst, ein Text, der versucht, den Leser in eine
bestimmte Gedankenwelt hinein zu entführen. Das Kuriosum ist nun,
dass diese Form der Text- und Gedankenlastigkeit gar keinen
Nachteil darstellt. was ihrer Transformation in die Bilderwelt
anbelangt. Ganz im Gegenteil: Wenn Walter Benjamin einmal
festgehalten hat, dass ein Fotograf manche Dinge festhält, die
sich ihm erst später, beim Entwickeln und Betrachten der
Fotografie eröffnen – und wenn er dies ein „optisch Unbewusstes“
genannt hat –, so könnte man einen ganz analogen Vorgang hier
festhalten. Denn der Autor des Textes wird, indem er erlebt, dass
seine Sprachbilder eine Art Eigendynamik annehmen, mit einem
„gedanklich Unbewussten“ konfrontiert - und je komplizierter und
differenzierter Text ist, desto besser, vor allem überraschender
sind die Resultate. Ich muss gestehen, dass mich dieser Prozess
absolut fasziniert hat – umsomehr, als man sich hier in der Rolle
eines Marcel Duchamp wiederfindet, der nicht mit einem Gebilde
der eigenen Phantasie, sondern mit einem ready made konfrontiert
ist. Man beschäftigt sich also gar nicht damit, irgendwelche
Imaginationen auf den Schirm oder auf die Leinwand zu zaubern –
sondern man schaut einfach bloß hin. Und aus diesem Grund besteht
die entscheidende Aufgabe nicht in der Bildproduktion, sondern in
der Selektion – und da ist man mit der Frage konfrontiert, warum
dieses Bild die Phantasie anreizt, jenes aber nicht. Tatsächlich
ermangelt es etwa drei Vierteln der resultierenden Bilder an
einer solchen Qualität, sie mögen vielleicht ansprechend sein,
aber sie berühren den Betrachter einfach nicht (was ja nach
Baumgarten die eigentliche Aufgabe der Ästhetik ist, denn
aisthesis meint ja ursprünglich berühren und wahrnehmen). Nach
gut einem Jahr des Umgangs mit dieser Software muss ich gestehen,
dass mich diese Form der Bildproduktion, die ja nachgerade so
etwas wie eine Traumerzählung ist, weit mehr beschäftigt als
alles, was man sich, wenn man denn vor einem leeren Prompt sitzt,
so einfallen lässt. Denn letztlich kommt hier niemals mehr
heraus, als was man sich zuvor hat einfallen lassen: garbage in,
garbage out – oder wie Goethe das sehr viel eleganter gesagt hat:
Man spürt die Absicht und man ist verstimmt.


Wenn wir diesen Prozess auf seinen Materialwert abfragen, ist
hier eine Umkehrung zu beobachten, die bemerkenswert ist. Wenn
wir von Einbildungskraft sprechen, ja, wenn einige überaus
verwegene Theoretiker der 90er Jahre sich einen visual turn
zurechtgelegt haben, so ist zu sagen, dass die avancierte
Bildproduktion längst die visuelle Sphäre verlassen hat – und uns
zu Kopf gestiegen ist. Das ist deswegen bemerkenswert, weil wir
hier der Rückkehr eines mittelalterlichen Zeichenbegriffes
beiwohnen können. Denn damals war man der Meinung, dass ein
Zeichen umso wertvoller sei, je näher es bei Gott ist – oder wie
man heute sagen würde: je abstrakter es ist. Folglich galt der
Gedanke als das wertvollste Zeichen, dann kam das gesprochene,
dann das geschriebene Wort, erst dann das Bild und zuguterletzt
die Spur, die man in der Welt hinterlässt. Das ändert sich mit
der Renaissance, die nun tatsächlich jenen visual turn bewirkt
hat, den die Kulturwissenschaftler der 90er mit großer Verspätung
diagnostiziert haben – und da denkt Leonardo da Vinci darüber
nach, dass die Musik die kleine Schwester der Malerei darstelle,
einfach deswegen, weil sie verklingt, während die Malerei Werke
von Ewigkeitswert in die Welt entlässt. Wenn wir heutzutage also
behaupten, wir lebten in einer visuellen Kultur, dann mag das für
große Bevölkerungsteile so aussehen – aber das gedankliche und
ästhetische Triebwerk, das diese Welt speist, hat seine Gestalt
gewandelt. Wenn die Traumfabrik Hollywoods sich vor kurzem in
einen Streik hineinbegeben hat, so deswegen, weil die
Fortschritte unserer Computerkultur wahrhaft grundstürzend sind.
Man muss sich nur an einen der großen Historienschinken der 50
und 60er Jahre erinnern – wo ganze süditalienische Kleinstädte
als Statisten rekrutiert wurden –, um sich den Unterschied vor
Augen zu tagen. Denn heute stellt die CGI (d.h. die Computer
Generated Imagery) dem Regisseur eine ganz Armada
hyperrealistischer, gefügiger Akteure bereit. Und dieser
Rationalitätsschock betrifft nicht nur die Statisten, sondern im
gleichen Maße auch die Kulissen- und Bühnenbildner, ebenso wie
die Musiker, die ein Bernard Hermann noch, in Gestalt eines
ganzen Symphonierorchesters, ins Tonstudio gebeten hat. All dies
wird nun von Leuten wie Hans Zimmer bewerkstelligt, oder von
namenlosen CGI-Künstlern, welche die aberwitzigsten Dinge auf den
Schirm zaubern. Womit das, was man ehedem ein Set genannt hat,
nicht viel mehr ist als eine Halle, wo ein paar Schauspieler vor
einem Greenscreen agieren. Nun betrifft die
Rationalisierungsdrohung der künstlichen Intelligenz nicht nur
die unmittelbare Aufnahmesituation, sondern auch die
Postproduktion. Wenn man heutzutage nach Belieben Stimmen clonen
kann, ja, wenn selbst Übersetzung und Synchronisation
lippensynchron von einer AI bewerkstelligt werden können, so ist
die grundstürzende Revolution der Traumfabrik fait accompli.


Ich könnte nun, was die Veränderung unseres audiovisuellen
Instrumentariums anbelangt, eine dystopische Suada anstimmen –
und diese wäre insofern berechtigt, als die uns bevorstehenden
Rationalitätsschübe wohl den ganzen Industriezweig in
Mitleidenschaft ziehen. Aber genau das möchte ich nicht tun.
Warum nicht? Nun – einfach deswegen, weil ich der Überzeugung
bin, dass man es a) hier mit einer Unausweichlichkeit zu tun hat,
und b) weil ich die ästhetischen und gedanklichen Möglichkeit,
die sich mit dieser Welt auftun, persönlich ganz großartig finde.
Das Dilemma, dem wir gegenüberstehen, ist vielmehr geistiger,
wenn nicht philosophischer Natur, eine Demütigung, die all das
übertrifft, was Sigmund Freud in seinem Unbehagen in der Kultur
festgehalten hat. Denn da hat er, wie Sie vielleicht erinnern,
drei geistige Demütigungen festgehalten: 1. die kopernikanische
Wende, welche bewirkt hat, dass man sich nicht mehr als Zentrum
der Welt fühlen kann, 2. die Darwinsche Evolutionsbiologie, die
den anthropologischen Suprematismus fragwürdig gemacht hat, 3.
das Unbewusste selbst, das dem Einzelnen klar macht, dass er
nicht einmal im eigenen Denken heimisch sein kann, dass er nicht
mehr Herr ist im eigenen Haus. Nun - halten wir uns vor Augen,
dass diese Erschütterungen, als die auftraten, nur eine kleine
Zahl von Menschen wirklich affiziert haben (die sogenannte Elite,
wenn Sie so wollen), so haben wir es bei der digitalen Revolution
mit einer sehr viel gravierenderen Situation zu tun: denn sie
zieht jeden, aber auch wirklich jeden Menschen auf dieser Welt in
Mitleidenschaft.


Das Dilemma, dem wir heute gegenüberstehen, lässt sich mit am
ehesten mit dem vergleichen, was Günter Anders einmal treffend
die prometheische Scham genannt hat – und was man als eine Form
der Schizophrenie auffassen kann: Ich bin’s, aber ich bin’s nicht
gewesen. Wenn Blaise Pascal einmal gesagt hat, das ganze Unglück
des Menschen rühre daher, dass der Mensch nicht ruhig in seinem
Zimmer bleiben könne, so ist evident, dass der vernetzte Mensch
per se ein Sozius, ein Gesellschaftstier ist – oder wie ich das
formulieren würde: ein Dividuum, das sich an seiner Teilbarkeit
und an seinem Mitteilungsdrang erhält. Aber weil das so harmlos
klingt, werde ich Ihnen, die doch zu großen Teilen mit den
Usancen unserer öffentlich-rechtlichen Sender vertraut sind, eine
kleine, persönliche Geschichte erzählen. Die hat damit zu tun,
dass ich als junger Mann mich nicht so recht entscheiden konnte,
ob ich der nächste Thomas Mann oder ein Komponist werden würde.
In jedem Falle habe ich doch, ziemlich früh, begreifen müssen,
dass die Heroengeschichte des modernen Autors den tempi passati
angehört. Das war Mitte der Achtziger - und weil ich zu dieser
Zeit, in der langjährigen Zusammenarbeit mit einem Musiker von
Tangerine Dream, tief in die Welt des Tonstudios und der
elektronischen Klangbearbeitung eingestiegen war, begriff ich
irgendwann, dass bestimmte, unhinterfragte Grundgedanken ihre
Haltbarkeitszeit überschritten hatten. Wenn Sie einen Sequencer
vor sich haben, mit dem Sie ihr Fingerspiel auf dem Klavier,
genauer: dem Keyboard, in unerhörte Geschwindigkeitsbereiche
hinaufjagen können, dann fragen Sie sich schon, warum Sie sich
mit Tonleitern und Czernys Schule der Geläufigkeit herumgeplagt
haben. Tiefer noch als dieser Zweifel am Virtuosentum war die
Entdeckung, dass mit dem Sample eigentlich die ganze Welt zu
einem Musikinstrument geworden war, ja, dass auch das Rauschen
einer Toilettenspülung eine großartige ästhetische Erfahrung sein
kann, ganz abgesehen davon, dass ein gesampeltes Geräusch
tatsächlich ein Multitude ist, eine Vielheit. Kurzum: Was mich
erwischt hat, war nichts anderes als die Proliferationsdrohung
der Digitalisierung.


Zeitsprung: Drei, vier Jahre später habe ich mit gemeinsam mit
einem Wolfgang Bauernfeind, einem Redakteur vom
rbb, und Johannes Schmölling, dem Musiker von
Tangerine Dream, ein Intensiv-Seminar an der Universität der
Künste abgehalten, bei dem wir Schauspieler und Tonmeister auf
die gemeinsame Arbeit eingestimmt haben – und weil das gesendet
werden sollte, war das nicht bloß eine beliebige Übung, sondern:
der Ernstfall. Und da kam mein Kollege vom Sender auf die Idee,
dass man den Tonmeistern doch ein mal vorführen solle, wie so die
Profis im Sender arbeiten. Aber da ich selbst als Regisseur in
großen Häuser gearbeitet hatte und wusste, dass die Tonmeister
nicht einmal bereit waren, die Mehrspurmaschine im Studio
anzufassen – wohingehend das Studio in der HdK schon voll
digitalisiert war -, sagte ich ihm, das sei keine so kluge Idee.
Aber er bestand darauf – und so betraten irgendwann (das war um
92 herum) ein halbes Dutzend Tonmeisterstudenten die heiligen
Hallen des Senders, das T5. Aber schon nach fünfzehn Minuten,
kaum dass die Profis ihr Werk begonnen hatten, kam der erste
Student schon zu mir – und flüsterte mir ins Ohr: Sag mal,
Martin, meinen die das ernst? Und tatsächlich war das, wie sich
herausstellen sollte, eine höchst berechtigte Frage. In jedem
Fall kam der Tonmeister, den ich ein paar Jahre später auf dem
Flur des Senders traf, auf mich zu und fragte, ob ich glaube,
dass man dort draußen noch jemand seines Schlages brauche könne.


Woher nur rührt der Widerstand, sich auf diese Welt einzulassen?
Die Antwort ist simpel: Man wehrt sich dagegen, weil die
Erfahrungen, die man macht, wenn man sich auf das neuartige
Instrumentarium einlässt, das eigene Selbstbild gravierend
erschüttern. Und einer solch ungewissen, irritierenden Zukunft
ziehen die meisten Menschen die Gespenster der Vergangenheit vor.
Folglich reden sie von wahrer Authentizität, von digital detox,
oder proklamieren, wenn der Versuch scheitert, die digitale
Souveränität zur Geltung zu bringen, die letzten Tage der
Menschheit: die Infokalypse. All das fällt deswegen so leicht,
weil sich die Künstliche Intelligenz, wie ein Alien, als
Fremdkörper geradezu aufdrängt – aus dem einfachen Grund, weil
man sich auf die Welt der Digitalisierung nie wirklich
eingelassen hat, oder bestenfalls als eine Art Konsument, der
irgendwelche Buttons drückt. Lassen Sie mich abermals eine kleine
Geschichte dazu erzählen. Ich bin Ende der Achtziger Jahre in die
USA gefahren und habe die ganzen Pioniere der künstlichen
Intelligenz interviewt. Da gab es eine reizende Begegnung mit dem
Urvater aller Chatbots, Joseph Weizenbaum, der mir – noch immer
kopfschüttelnd – von seiner Sekretärin erzählte.


Und weil die Dame allein für ihn zuständig war, wusste sie
natürlich, dass Weizenbaum an einem Chatbot mit dem Namen Eliza
arbeitete – was eine Reverenz an die Eliza Doolittle aus George
Bernard Shaws Pygmalion-Stück war -, und sie wusste auch, dass
dieser Chatbot nichts anderes war als ein Programm, das
Weizenbaum mit der Computersprache LISP verfasst hatte.
Tatsächlich war das Programm nicht sonderlich sophisticated,
eigentlich kaum mehr als eine Paraphrasenmaschine. Wenn man da
beispielsweise eintippte: »Mir geht es schlecht«, war die Antwort
des Chatbots: »Ach, dir geht es schlecht?« Was nun Weizenbaums
Erstaunen erregte, war, dass, wann immer er seine Sekretärin zu
Gesicht bekam, sie immerfort auf der Tastatur herumklapperte – so
intensiv, dass sie sein Kommen gar nicht bemerkte. Und weil er
sich darüber verwunderte, was sie da eigentlich tippte – denn so
viel hatte sie bei ihm gar nicht zu tun -, trat er eines Tages
hinter sie und warf auf einen Blick auf den Schirm. Und was sah
er da? Dass seine Sekretärin seinen Chatbot als eine
Ersatz-Psychotherapeuten benutzte: »Mir geht es schlecht« - »Ach,
dir geht es schlecht?«. Diese Entdeckung hat ihn unglaublich
beschäftigt – begriff er doch, dass hier, ungeachtet der
Tatsache, dass seine Sekretärin wusste, nicht mit einem Menschen,
sondern mit einem simplen Programm zu kommunizieren, hier jener
Mechanismus am Werk ist, den Freud die Übertragung nennt.


Mögen wir diese Geschichte belächeln, so ist das Sonderbare, dass
ein Großteil unserer Zeitgenossen einem vergleichbaren Verhalten
frönt - und dass diese Form der Übertragung (siehe Ray Kurtzweil,
der da von einer Superintelligenz träumt) nicht einmal die
Spezialisten des Fachs ausnimmt. Das hat mich in eine lange
kulturgeschichtliche Unternehmung hineingeführt – die sich gleich
in mehren Büchern niedergeschlagen hat. Und dabei stand immer die
Frage im Mittelpunkt: Wie kommt es dazu? Was überhaupt ist eine
Maschine? Was bringt Menschen dazu, sie auf metaphysische, nicht
selten religiöse Art aufzuladen? Lassen Sie mich, bevor uns zu
der Frage versteigen, was wir uns überhaupt unter Künstlicher
Intelligenz vorstellen können, eine sehr schlichte, gleichwohl
ungewöhnliche Deutung der Computerwelt anbieten. Was ist das
Besondere daran? Was hat mich, als junger Autor, an der Welt der
Geräusche begeistert? Man könnte sagen: Was immer elektrifiziert
werden kann, kann auch digitalisiert werden. Das bedeutet: Das,
was wir Schrift nennen, ist nicht mehr ein Abstraktum, das wie
der Geist Gottes (oder die Buchstaben des Alphabets) über den
Wassern schwebt, sondern es kann jede erdenkliche Form annehmen.
Das können die Positionsdaten eines Wals sein, das Geräusch einer
Toilettenspülung oder die Wisch-und-Weg-Handbewegung, mit der
paarungswillige Großstädter diejenigen aussortieren, die sie
definitiv nicht kennenlernen wollen. Beziehen wir diese Logik auf
die Welt der Arbeit, die doch die einzige ist, der wir Wert
zumessen, ließe sich sagen, dass jede Arbeit, die einmal
digitalisiert worden ist, ins Museum der Arbeit eingeht. Auch
hier eine Erinnerung aus den frühen 90ern: Da kam ein wunderbarer
Pianist ins Tonstudio, spielte ein Schumann-Stück und ging. Aber
kaum dass er das Studio verlassen, gab der Flügel, der seine
Fingerbewegungen via Midi-Sensoren gepeichert hatte, dieses Stück
wieder – und wenn uns danach gewesen wäre, hätten wir uns an
Cubase oder Protools setzen und sein Spiel nach Belieben
verändern können. Und dies wirft die Frage auf: Was bedeutet es,
dass jede Arbeit, die einmal digitalisiert worden ist, im Museum
der Arbeit verschwindet? Die Antwort ist einfach und uns allen
bekannt. Weil die Elektrizität die Entfernung der Welt hinter
sich lässt, kann das Programm, also der musealisierte
Arbeitsvorgang, an einen x-beliebigen Ort dieser Welt
transplantiert und von dort aufgerufen werden: anything,
anywhere, anytime. Was uns damit heimsucht, ist das Dilemma der
Lichtgeschwindigkeit. Und dies hat erst einmal nicht das
Geringste mit einer künstlichen Intelligenz zu schaffen. Lassen
Sie uns hier noch einen Schritt weitergehen, genauer, lassen Sie
uns die Grundformel unseres digitalen Geisteskontinents in den
Blick nehmen. Die findet sich in einem Werk, das der englische
Mathematiker George Boole im Jahr 1854 veröffentlicht hat. Obwohl
das die Boole’sche Algebra und Logik antreibt und jeder
Programmierer wie selbstverständlich seine Booleans benutzt, ist
diese Formel noch immer eine terra incognita. Probieren Sie’s bei
der nächsten Gelegenheit aus, da werden Sie – oder, je nachdem,
ihr programmierendes Gegenüber - Ihr blaues Wunder erleben. Dabei
müssen Sie sich nicht einmal in die höheren Sphären
hineinbegeben. Denn George Boole, der das Projekt verfolgte, den
»Repräsentanten aus der Mathematik zu entfernen«, stellt sich
eine sehr simple Frage: Was haben die Null und die Eins, die
beiden Königszahlen der Mathematik gemeinsam – und was
unterscheidet sie von allen anderen Zahlen? Wenn ich eine Eins
mit sich selbst multipliziere, kommt immer Eins heraus, und wenn
ich eine Null mit sich selbst multipliziere, ist das Ergebnis
immer Null. Das unterscheidet die Null und die Eins von allen
anderen Zahlen. Wenn wir das formalisieren, kommt die Grundformel
alles Digitalen heraus: x= xn. Wenn Sie das in eine natürliche
Sprache zurückübersetzen, geraten Sie geradezu in einen Schwindel
hinein: Denn das bedeutet das Ende des Originals, das Ende der
Identität, das Ende der Authentizität. Nimmt man das ernst und
bezieht diese Formel auf sich selbst, müsste man sagen: Ich bin
ein anderer, ich bin überflüssig, ich bin eine Population. -
Inwieweit diese Logik sich schon unseres Denkens bemächtigt hat,
wird klar, wenn wir uns vor Augen halten, dass jedes
digitalisierte Objekt (sei’s ein*.pdf-Dokument, ein Audio oder
ein Video-File) strukturell überflüssig ist. Dies, so scheint
mir, ist eine tiefe Erschütterung, deren Folgen wir noch gar
nicht wirklich absehen können.


Lassen Sie uns an dieser Stelle noch einen Schritt weitergehen
und die künstliche Intelligenz in den Blick nehmen, die ja
tatsächlich soetwas wie eine Pseudo-Intelligenz ist. Denn was uns
aus dem Spiegel da entgegenblickt, ist eine, im Wortsinne,
„mittelmäßige“ Version unserer selbst. Lassen Sie mich dazu auf
eine kleine Erzählung zurückkommen, die Edgar Allen Poe im Jahr
1840 veröffentlicht hat, Der Mann in der Menge. Was Poe zu dieser
Kurzgeschichte veranlasst hat, dessen Motto interessanterweise
den Bezug zum Elend des Menschen herstellt (Ce grand malheur, de
ne pouvoir être seul – das große Elend, nicht allein sein zu
können) war die Lektüre eines Textes, den der Computerpionier
Charles Babbage ein paar Jahre zuvor veröffentlicht hatte: The
Ninth Bridgewater Treatise. – Das ist derselbe Mann, auf den auch
die Gründung der Royal Statistical Society zurückgeht – und
dessen Analytical Engine, die Vorform eines Computers, 10.000
französischen Rechensklaven das Handwerk legte. In der Tat
verhält sich Edgar Allen Poes Held, der in einem Londoner Café
die Passanten vorübergehen sieht, wie ein Statistiker – denn er
klassifiziert die Arbeiter, die kleinen Angestellten, die
Putzfrauen, die Hausmädchen usw. Dann aber erregt ein älterer
Mann seine Neugierde, der sich auf merkwürdige, unvorhersagbare
Weise bewegt. Und er steht auf und beginnt ihm nachzugehen. Im
Laufe dieser Verfolgungsjagd, die geschildert ist wie ein Krimi,
begreift der Erzähler, dass dieser Mann sein inneres
Bewegungszentrum verloren hat – dass er einzig, und zwar wie
magisch, angezogen wird von den Geschehnissen ringsum. Das ist
das Geheimnis, das sich nach einer langen Verfolgungsjagd endlich
erschließt: Dieser Mann hat sein Zentrum verloren – und er geht,
weil er dezentriert ist, ganz im Gesellschaftlichen auf, in der
Welt ringsum. Und diese Einsicht wiederum trifft Edgar Allen Poes
Erzähler wie ein Schock:


»Dieser alte Mann«, sagte ich schließlich, »ist das Urbild und
der Dämon des Triebes zum Verbrechen. Er kann nicht allein sein.
Er ist der Mann der Menge. Es wäre vergeblich, ihm zu folgen,
denn ich werde weder ihn noch sein Tun tiefer durchschauen. Das
schlechteste Herz der Welt ist ein umfangreicheres Buch als der
Hortulus Animae - und vielleicht ist es nur eine der großen
Gnadengaben Gottes, dies: Es läßt sich nicht lesen.«


Wenn wir einen Text in ChatCPT oder in Claude eingeben – oder
wenn wir ein Bild über Dalle-E, Flux oder Stable Diffusion
erzeugen, ist das, was herauskommt, unser stochastisches Selbst,
der Mann in der Menge. Das mag intelligent scheinen – und sogar
intelligenter sein, als das, was ganze Kohorten von
Bachelor-Studenten zu Papier bringen –, aber es hat mit wahrer
Intelligenz nichts zu tun. Man bekommt die Antworten, genauer,
die Muster geliefert, welche das Machine Learning, mit der
Lichtgeschwindigkeit der Prozessoren begabt, im Fundus hat
ausfindig machen können. Man könnte sagen: Was uns da aus dem
Spiegel entgegen schaut, ist der Mann in der Menge. Wenn man sich
klar macht, dass bereits die Rede von der Künstlichen Intelligenz
eine Art Selbsttäuschung ist, stellt sich die sehr viel
interessantere Frage: wie geht man mit dieser Intelligenz um? Und
wie entkommt man jenen Dilemmata, die für das stehen mögen, was
Edgar Allen Poe im Mann in der Menge dingfest gemacht hat: das
Urbild und den Dämon des Triebes zum Verbrechen. Die Antwort ist
einfach und schwierig zugleich. Einfach, weil dieser Dämon in dem
Augenblick, da man sich seiner bewusst wird, seine Macht
verliert. Schwierig, weil wir uns als Gesellschaft längst in
bestimmte Schizophrenien eingehaust haben. Und da finden es
Menschen keineswegs sonderbar, mit der Berufung auf eine digitale
Souveränität (und gespeist vom Denken eines Carl Schmitt) die
freie Rede im Internet beschneiden zu wollen. Diese geistige
Verwirrung, die kognitive Dissonanz zu nennen beinahe eine
Untertreibung ist, scheint mir weit gefährlicher als all das, was
wir mit den Mitteln der Künstlichen Intelligenz bewerkstelligen
können. Ja, es wird möglich sein, dass wir in Zukunft Avatare von
uns selbst erstellen können, die beim Konsumenten den Anschein
eines wirklichen Menschen erwecken – aber dies hat sich lange
zuvor schon, lange, bevor dies zu einer technischen Realität
wurde, im Denken der Menschen eingebürgert. Wenn der Anrufer aus
dem Call-Center, seinem Lehrbuch folgend, seine Sätze herunter
spult, dann habe ich es nicht mehr mit einem menschlichen
Gegenüber, sondern mit einem Androiden zu tun. Man vergisst ja
leicht, wo bestimmte Konzepte ihren Anfang genommen haben. Nehmen
wir den Cyborg. Damit hat man in den sechziger Jahren den
Menschen bezeichnet, der in lebensfeindlicher Umwelt – also im
Vakuum des Weltraums – nur mit kybernetischen Mitteln am Leben
gehalten werden kann, also den cybernetically augmented organism.
So besehen sind wir alle, die wir an unseren Smartphones und
Computerbildschirmen hängen, längst zu Cyborgs mutiert. Gibt es
daran etwas auszusetzen? Ich würde sagen: Nein – oder wenn da
etwas zu bemerken ist, dann das, dass ein solches Cyborg-Sein
sich mit Behauptungen von Identität, Authentizität und digitaler
Souveränität nicht verträgt.


Um zum Ende zu kommen. Ich sehe durchaus, dass die digitale
Disruption, der Einbruch von Machine Learning und KI, eine Art
Paradigmenwechsel darstellt – und die politischen Folgen können
so dramatisch sein wie der Einbruch des Räderwerkautomaten, der
das Mittelalter in eine wahre Glaubenskrise gestürzt hat. Man
sieht’s ja allerorten: eine Art allgemeines Unbehagen in der
Kultur, das sich, um sich gleichwohl behaupten zu können, in eine
Erotik des Ressentiments hineinflüchtet, ein Great Again, das wie
ein postmoderner Don-Quixotismus anmutet: ein Kampf nicht gegen
die Windmühlen, sondern die Prozessoren, die uns, gerade so wie
Don Quixote, erscheinen wie die Monster der Vergangenheit. Wie
kein anderer Philosoph hat wohl Nietzsche dieses Dilemma erfasst,
als er schrieb:


Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum
Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst,
blickt der Abgrund auch in dich hinein.


Wenn ich von all diesen politischen Fragen absehe und mich
stattdessen auf das fokussiere, was sich mit den Mitteln der KI
heute bewerkstelligen ließe, vor allem, welche geistigen und
ästhetischen Räume sich hier auftun, verändert sich die Szenerie,
aber auch die Tonlage schlagartig. Mag sein, dass wir damit in
ein Terrain vorstoßen, dass Ihnen fremdartig, wenn nicht gar
unheimlich ist. Meinerseits würde ich nichts Geringeres ansetzen
als das, was die Renaissance für unsere Kultur bewirkt hat. Denn
der Raum der Zeichen (siehe oben) durchläuft eine radikale
Revolution. Eigentlich könnte jeder, der sich heutzutage mit der
Manipulation audiovisueller Objekte beschäftigt, ein Lied davon
singen. Wenn Sie sich in ein Programm wie DaVinci-Resolve
vertiefen – was für ein passender Name!-, haben sie plötzlich mit
der Frage zu schaffen, welche Wirkung eine Klangdatei auf die
Farb- oder Lichtgestaltung hat, oder sie beschäftigen sich mit
der Ästhetik des LightLeaks, des Glitches und der
Partikelemissionen usw. All diese Fragen mögen Ihnen so abseitig
erscheinen, wie der Umstand, dass ich meinem Nachdenken über die
Philosophie der Maschine zu einer Alien Logic gelangt bin – und
ich will’s Ihnen offengestanden gar nicht verargen. Als mein
Sohn, als 9-jähriger Waldorfschüler gefragt wurde, was sein Vater
so macht, hat er hinreißenderweise geantwortet: »Mein Vater
schreibt Bücher, die niemand versteht!« Der Punkt ist bloß: All
die Überzeugungen, zu denen ich im Laufe der Zeit gelangt bin,
sind keine Erfindungen meinerseits, sondern haben mit dem
Gesellschaftstriebwerk zu schaffen, das uns alle betrifft.


In diesem Sinn


danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit


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