Studio B Klassiker: Monika Helfer: Die Bagage

Studio B Klassiker: Monika Helfer: Die Bagage

7 Minuten
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Beschreibung

vor 4 Monaten

Spreche ich mit anderen Menschen über das Thema Familie, wir oft
schnell klar, dass die meisten Familiengeschichten nicht
gleichförmig sind oder gar reibungslos verlaufen, sondern immer
auch von Konflikten und Unstimmigkeiten geprägt sind und sie
äußeren Einflüssen unterlegen sind, die sie auf die eine oder
andere Weise zu beeinflussen vermögen. Denn immer agieren
Menschen miteinander und selbst wenn sie es nicht tun, löst dies
eine Reaktion aus. Aber die Familie ist auch die kleinste
gemeinsame Zelle, wir erwachsen aus ihr und sie bildet unseren
Ursprung. Aus Mangel an Wissen über die eigene Familiengeschichte
kann es dazu kommen, dass wir im Laufe unseres Lebens eigene
Wahrheiten dazu erfinden, die sich in uns so manifestieren, dass
wir sie für die Wahrheit halten. Vielleicht lässt es sich mit
selbst erdachten Geschichten manchmal auch einfacher Leben. Das
Streben nach Wissen über die eigene Herkunft ist auf jeden Fall
eine Triebfeder, die viele Menschen antreibt. Ähnlich ging es
vielleicht auch Monika Helfer, als sie ihren, in diesem Jahr im
Carl Hanser Verlag veröffentlichten, Roman „Die Bagage“ schrieb
bzw. schon vorher, als sie sich mit ihrer eigenen
Familiengeschichte befasste. Diese setzt sie in ihrem Roman teils
aus eigenen Erinnerungen, teils aus Erinnerungen von Angehörigen
und sicher auch mit etwas Fantasie und Wohlwollen zusammen.


Sie setzt ein im Jahr 1914 bei ihren Großeltern Maria und Josef
Moosbrugger. Diese leben in einem Bergdorf im Vorarlberg nahe
Bregenz und werden von der restlichen Dorfgemeinschaft nur als
die Bagage bezeichnet. Ihr Haus befindet sich weit abgeschieden
von den anderen – bis zum nächstgelegenen dauert es eine Stunde –
denn ihre Vorfahren waren zu spät gekommen und hier war der Boden
am billigsten gewesen, jedoch auch am schwierigsten zu bebauen.
Der Postadjunkt stellt hier nur einmal die Woche die Post zu,
aufgrund des beschwerlichen Weges, und er ist es auch, der Maria
die Nachricht übermittelt, dass Josef in den Krieg einberufen
wird. Zu diesem Zeitpunkt haben Maria und Josef vier Kinder:
Hermann, der Älteste und stillen Gemüts, der sich eher den Tieren
verbunden fühlt, dann sein zwei Jahre jüngerer Bruder Lorenz, der
als eigensinnig beschrieben wird und mit seinen Rechenkünsten die
Lehrer ins Staunen versetzt. Tochter Katharina, die zu diesem
Zeitpunkt elf Jahre alt ist und der Mutter im Haushalt helfen
soll und der kleine Walter, der laut Helfers Worten „[...]noch zu
nichts zu gebrauchen [war]“. (S. 22)


Der Stand der Familie im Dorf ist schwierig. Sie sind die
Außenseiter und das aus vielerlei Gründen. Neben der schon
erwähnten randständigen Lage ihres Hauses kommt auch noch Marias
ausgesprochene Schönheit hinzu. Es wird betont, dass es keinen
Mann im Dorf gibt, der ihr nicht gern einmal nahe gekommen wäre,
was fast zwangsläufig auch den Neid und die Missgunst der Frauen
nach sich zog. Aber auch Josef ist den übrigen Dorfbewohnern
suspekt. Er spricht nicht mit und auch nicht wie die anderen
Männer und beteiligt sich nicht an ihren Aktivitäten, zudem er in
ihren Augen den Neid um seine schöne Maria ablesen kann. Die
Ausnahme ist der Bürgermeister Gottlieb Fink. Mit diesem macht
Josef seine „Geschäftchen“, wie es heißt und von denen niemand
etwas Genaues weiß und um die er ebenfalls beneidet wird. Der
Bürgermeister ist es auch, den Josef bittet, auf seine Maria
aufzupassen, während er im Krieg ist, und dieser verspricht es
ihm.


Es folgt die Zeit von Josefs Abwesenheit. Der Leser erfährt
beispielsweise wie der Bürgermeister Maria mit auf ein Dorffest
in einer nahe gelegenen Ortschaft nimmt, wie sie dort einen
Deutschen kennenlernt, der kurze Zeit später vor ihrem Haus
steht. Und dann wechselt Monika Helfer von der Erzählenden dazu,
wie sie selbst vom nun Folgenden erfuhr:


„Diese Anekdote hat meine Großmutter ihrer ältesten Tochter
Katharina erzählt, aber erst einige Jahre später. Meine Tante
Kathe hat sie mir dann weitererzählt. Sie sagte, ein einziges Mal
sei ihre Mama, also meine Großmutter, betrunken gewesen in ihrem
Leben, sie wisse nicht was der Anlass war, da habe sie plötzlich,
wie aus dem himmelblauen Himmel heraus gesagt, sie habe sich ein
einziges Mal verliebt in ihrem Leben, nämlich in diesen Mann und
seither wisse sie, dass Verliebtsein nichts bedeute, aber Liebe
bedeute viel. – Niemals in einem nüchternen Zustand hätte Maria
so zu ihrer Tochter gesprochen“ (S. 37)


Einige Zeit später wird Maria erneut schwanger und das gesamte
Dorf beginnt zu rechnen, ob Josef überhaupt der Vater sein kann,
da seine Urlaube von der Front sehr kurz waren, oder ob nicht
viel eher der Fremde aus Deutschland der Vater sein könnte. Maria
gebärt schließlich ein Mädchen – Margarethe, kurz Grete genannt –
die einmal Monika Helfers Mutter werden wird und die Josef
angeblich nie angesehen oder angesprochen habe. Nach Grete folgen
noch zwei weitere Kinder.


In Monika Helfers Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte geht es
aber nicht nur um ein vermeintliches Familiengeheimnis, in dessen
Mittelpunkt die Frage nach der Vaterschaft von Grete steht,
sondern auch darum, wie sich Maria und die restliche Familie in
Josefs Abwesenheit durchsetzen müssen. Durchsetzen gegen ein
Dorf, in dem einstige Verbündete zu einer Bedrohung werden, so
dass die Kinder, besonders Lorenz, plötzlich und auch mit einem
gewissen Selbstverständnis, die Rolle seines Vaters einnimmt und
so zum Beschützer und Versorger wird. Es zeigt, was
Erwachsenwerden in einer solch hierarchisch geprägten Umgebung
bedeutet. Aber auch, welchen Stand eine Frau hat, die nicht den
Konventionen entspricht, wodurch wiederum die Doppelmoral der
Kirche und der Menschen entlarvt wird.


Auf gerade einmal 160 Seiten rekonstruiert Monika Helfer die
Geschichte ihrer Familie. Es ist eine Mischung aus Biografie und
Leerstellen, die Helfer mittels eigener Vorstellungskraft,
Fantasie und sicher auch Empathie für ihre eigene Herkunft füllt.
Dabei entsteht nicht der Eindruck, dass sie Dinge verklärt,
sondern im Gegenteil, es führt dem Leser einmal mehr vor Augen,
wie traurig und auch wie komplex und verstrickt das Netz der
Menschen sein kann, die wir unsere Familie nennen.


Monika Helfers „Die Bagage“ erhält meine ausgesprochene
Empfehlung und ich möchte meine Rezension mit folgendem Zitat von
Leo Tolstoi beenden: „Glückliche Familien sind alle gleich, jede
unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“


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