Christoph Hein: Das Narrenschiff

Christoph Hein: Das Narrenschiff

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Beschreibung

vor 5 Monaten

Irgendwie sind wohl Ostwochen im Studio B. In meiner letzten
Rezension in diesem Newsletter, es ging um das hervorragenden
"Gittersee" von Charlotte Gneuß, war ich voll des Lobes ob der
präzis wiedergegebenen Sprache, die man hierzulande sprach, bis
wir alle "unter der Woche" und "zwischen den Jahren" zu sagen
lernten, um unseren neuen Overlords zu gefallen und unsere Chance
auf eine D-Mark-Lohnerhöhung zu erhöhen. Irmgard Lumpini fing
kurze Zeit später an (ostalgieinfiziert?) "Das Narrenschiff" zu
lesen, das jüngste Buch von Christoph Hein, und berichtete
seltsame Dinge: Die Sprache sei "DDR-Sprech", spoilerte die
Kollegin. Nun, Heins Sprache war nie ausschweifend oder gar
romantisch, das gaben seine Helden nicht her, aber als
ausgesprochen "ostdeutsch" geschrieben empfand ich seine Werke
nie. Was also war passiert? Ja, Christoph Hein, Jahrgang 44, ist
ein "ostdeutscher" Schriftsteller, ein "DDR-Kenner" gar, sagt der
Klappentext, wobei man sich fragt, ob denn dann jeder
westdeutsche Schriftsteller ein "BRD-Kenner" sei. Egal, ich wurde
seltsamerweise Fan und zwar mit seinem Erstling "Der fremde
Freund" und das im zarten Teenageralter von 12 Jahren, obwohl ich
doch damals literarisch zwischen Andromeda und Kassiopeia lebte.
Ein paar Jahrzehnte später, genauer: mehr als vier, war ich
wieder interessiert, war doch das neueste Buch von Hein
erschienen, und dessen Sujet, die Zeit um den Mauerbau herum, aus
der Sicht eines Abiturienten irgendwie faszinierend, wenn auch
literarisch eher so lala, ich berichtete. Ging es in “Unterm
Staub der Zeit” noch um einen recht kleinen Zeitraum in der
Geschichte der DDR, sollte es in "Das Narrenschiff" um des
ostdeutschen Staats gesamten Existenzraum, von der Idee bis zum
Scheitern ihrer Manifestation gehen. Warum nicht, machte ich mir
ob der 750 Seiten Mut, Geschichte muss nicht immer Cromwell sein,
lasst zur Abwechslung mal Zeitzeugen sprechen. Ich ging rein.


Der Roman beschreibt die Geschichte der DDR von ihrer Planung in
den Vierzigern im Moskauer Exil bis zu ihrer endgültigen
Beendigung mit der Währungsunion im Sommer 1990. Das passiert
über die Beschreibung der Leben eines Dutzend Personen, die,
familiär oder zufällig, intergenerational miteinander zu tun
haben, deren Wege sich treffen und verlieren. Ein "Roots" für
Zonis gewissermaßen.


Nun tu ich mich, gesegnet mit der Gnade der Geburt in eine
minuscule Familie (1x Eltern, 1x Bruder, 1x Großeltern,
Tante+Cousine) traditionell schwer mit der Zuordnung von so
komplexen Entitäten wie Nichten, Neffen, Schwägern oder gar
Schwippschwägern und war leicht besorgt, ob ich den
Familienbäumen folgen kann. Aber da war der Real Existierende
Sozialismus vor, der die DDR nach nur 40 Jahren im Schlaf
erstickte. Das war nicht genug Zeit für eine komplexe Genealogie
der Bewohner der 15 Bezirke. Ich konnte folgen.


Wir beginnen mit einem Blick auf die Gründer der Republik, wie
sie in den letzten Zügen des 2. Weltkrieges aus Moskau
eingeflogen werden, wobei es schon dort Gewinner und Verlierer
gab; beim Aufbau des sozialistischen deutschen Staates sollte von
Anfang nichts schief gehen, da wirst Du nicht berücksichtigt,
wenn Du die kleinste Abweichung von der Parteilinie gucken lässt.
Alles Männer, klar. Von der anderen Seite, geographisch wie
geschlechtlich, werden in den ersten Seiten des Buches Frauen
eingeführt, die ihren Mann respektive Vater während des Krieges
verloren haben, wenn auch nicht unbedingt so wie man denkt. Denn
Katinka ist eine Halbwaise und lebt mit ihrer Mutter Yvonne
allein im zerbombten Berlin, nicht weil der Papa vor Stalingrad
den gerechten Heldentod fand, sondern weil er ein Jude war und
ihm die Flucht nicht gelang. Ein paar Kapitel im Buch sitzt sie
neben Wilhelm Pieck, dem ersten Präsidenten der DDR, weil sie
Klassenbeste ist. Damit ist sie vom Alter her prädestiniert, die
DDR von Anfang bis Ende zu durchleben und uns das gesamte Buch
hindurch zu begleiten. Um sie herum werden sich Personen tummeln,
die einige prototypische Biographien des Landes repräsentieren,
den strammen Funktionär, den Hinterfragenden, den Idealisten, die
Karrieristin. Ab und an begegnen einem Personen, die wir als
"Berühmtheiten" zu erkennen meinen, Stasi-Abwehrchef Markus Wolf
definitiv (im Buch Fuchs) und auch der Anwalt und Unterhändler
Wolfgang Vogel als Kuckuck ist wohl zu erkennen. Gemeinsam ist
(fast) allen, dass sie der Nomenklatura angehören: selten in
höchsten Sphären schweben, aber nie Fußvolk sind. Das werte ich
nicht, das Buch ist mit seinen 750 Seiten für eine Biographie
eines ganzen Landes sicher nicht sehr lang, aber was die Lern-
und Lesebereitschaft eines potentiellen Publikums betrifft eher
am dicken Ende des Spektrums und da die Geschichte eines Landes
erzählt werden soll, welches vom Anfang bis kurz vor seinem Ende
ausschließlich Top-Down organisiert war, macht es irgendwie Sinn,
sich in die Innenleben der dem Staat ideell Verpflichteten zu
begeben. Den Opfern der DDR wurde in den letzten Jahren ausgiebig
Platz und Stimme gegeben, da ist es ok, einmal unapologetisch die
andere Seite der Story zu lesen.


Das heißt nicht, dass man viel Neues lernt (wenn man aus dem
Landstrich kommt), weder was die Fakten noch die Innenansichten
der Protagonistinnen betrifft, da bleibt sich Christoph Hein
treu. Verschlossen, manchmal fast autistisch sind oft seine
Romanhelden und auch auf dem "Narrenschiff", im Buch wie dem
diesen Namen gegebenen Land, lebte man unabhängig von der
gesellschaftlichen Schicht, jeder in seiner Bubble, dort wo man
safe war. Der Blick ging zum Nachbarn, nicht um Kontakt
herzustellen, sondern um die Gefahr abzuschätzen, die von ihm
ausgeht. Diese lauerten, wie in jeder Hierarchie, von oben wie
von unten und nur mit moralischer Flexibilität war es möglich,
sich ein so angenehmes Leben in der rationierten Welt der DDR zu
machen, wie es die Menschen, die wir begleiten, führen. Explizite
Kritik daran darf man vom Buch nicht erwarten, Verfolgte des
Regimes kommen nicht vor, aber wie gesagt, ich sehe das nicht
kritisch, nicht jedes Buch muss jede Seite beleuchten. Ich als
Leser entwickle eher Mitleid mit der grauen, unglücklichen
Existenz der Akteure. Bis zum Bau der Mauer getraut sich keiner
eine Perspektive zu haben und danach war sie zugestellt. Bitter.


Die Flussgeschwindigkeit des Buchs ist hoch, wir durchlaufen die
DDR in Höchstgeschwindigkeit. Zwischen manchen Kapiteln werden
ganze Jahre übersprungen, was auch eine Aussage ist: es war nicht
viel los in der Zone. Was los war, geschieht im Hintergrund von
Episoden des Privaten der Akteure: Liebschaften, Karrierebrüche,
Kinderkriegen, Sterben geben Anlass, wie nebenbei zu erzählen,
was in der DDR und, seltener, der Welt gerade geschieht: 17.
Juni, Prager Frühling, NATO-Osterweiterung, Mauerfall. Die
Erzählweise dieser Episoden erinnern ein wenig an Alexander Kluge
in seiner epochalen "Chronik der Gefühle", wenn man es
wohlwollend betrachtet; an eine Aneinanderreihung von
Schulaufsätzen, wenn man garstig ist. Die Sprache ist wohlwollend
"ungekünstelt" und böswollend "unkünstlerisch". Nun ist Christoph
Hein ein Künstler und das Buch bei Suhrkamp erschienen, also muss
die Plattheit der Dialoge, das Einheitssozialistisch der
Beschreibungen Methode sein. Aber so steif , Herr Hein? Ein
Jugendlicher studiert in einer fast ausschließlich weiblichen
Studiengruppe, was in diesem Satz zusammengefasst wird:


In seiner Seminargruppe war er der einzige männliche Student, was
ihn zum Hahn im Korb machte. Der Mittelpunkt in einem Pulk
gleichaltriger Mädchen zu sein, gefiel ihm, und er genoss es
sehr, von allen jungen Frauen umschwärmt zu werden und mit der
einen und anderen sogar ein intimes Verhältnis zu haben.


Es wimmelt in Charakterbeschreibungen von DDR-Zeugnisworten wie
"wissbegierig", "umsichtig" und "verantwortungsvoll" und zwar
nicht eingestreut, sondern in der vollen realsozialistischen
Breitseite. Hein beschreibt die Entwicklung eines Kindes in der
Schule mit:


Er war bei dieser Beschäftigung [dem Werken] sehr geschickt und
einfallsreich, lernte aufgeschlossen und wissbegierig alle
Techniken, die der Lehrer den Kindern beibrachte.


Ein schwuler Mann sagt zu seinem Freund nach dem Abendessen:


Du bist ein Weltmeister der kulinarischen Improvisationen, ein
Held des Herds.


Seriously? Nun konnte ich Charlotte Gneuß bestätigen, dass man in
der DDR oder mindestens in Gittersee exakt die Worte verwendete,
die sie ihren Protagonisten in den Mund legt. Da ich mich nicht
in den Kreisen der DDR-Nomenklatura bewegte, kann ich Christoph
Hein diese Bestätigung nicht geben, vielleicht sprach man in
Parteisekretariatsfamilien am Abendbrottisch wie Honni beim 8.
Parteitag, aber ich kann das nicht wirklich glauben. Und selbst
wenn es so war, muss man dann den ganzen Roman in diesem Stil
schreiben? Das über 750 Seiten durchzuhalten ist zweifellos
beeindruckend, und ich bin nicht sicher, ob ich das Kompliment
hier dem Schriftsteller oder dem Leser mache.


Kurzum: Wenn man kein traumatisierter Verfolgter des SED-Regimes
ist, der beim Lesen von Büchern, die klingen wie die
Anklageschrift, wegen der sie in Bautzen saß, PTSD bekommt,
sollte man „Das Narrenschiff“ angehen, vielleicht mit ein wenig
Wohlwollen und Offenheit der absurden Sprache gegenüber. So wie
einen der Brutalismus einer tschechischen Kleinstadt ästhetisch
nicht sofort begeistert, es einen aber irgendwie doch kriegt, so
ist der Blick auf 40 Jahre DDR, den das Narrenschiff über zwei
Buchlängen in reinem DDR-Deutsch liefert, den Aufwand wert, meine
ich, hoffe ich. Und wünsche mir und Christoph Hein im nächsten
Buch eine Rückkehr zu seiner eigenen Sprache.


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