Yael Inokai : Ein simpler Eingriff

Yael Inokai : Ein simpler Eingriff

9 Minuten
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Beschreibung

vor 6 Monaten

Ist es denkbar, dass ein medizinischer Eingriff, der am Gehirn
stattfindet und bei dem Teile der menschlichen Persönlichkeit
„eingeschläfert“ werden, simpel sein kann? Ein Eingriff, bei dem
ein Mensch eines Teils seiner Persönlichkeit, so unliebsam sie
auch sein mag, beraubt wird und sich anschließend wieder als
braves und folgsames Mitglied in die Gesellschaft einreiht? Es
ist schwer, sich solch ein Szenario vorzustellen und der Gedanke
daran weckt bei mir gleichzeitig Erinnerungen an reale, grausame
Experimente, die wir aus der Geschichte der Menschheit kennen. In
Yael Inokais 2022 im Carl Hanser Verlag veröffentlichten Roman
Ein simpler Eingriff sind diese Art Operationen bereits
alltäglich, was sie jedoch nicht weniger bedenklich oder gar
fehlerfrei macht.


Meret, eine der Protagonistinnen die uns durch den Roman führt,
ist Mitte Zwanzig und Krankenschwester in einer Klinik, in der
regelmäßig Eingriffe an, vorwiegend Frauen, vorgenommen werden,
die folgendermaßen beschrieben werden:


„Jene Eingriffe sollten Menschen von ihren psychischen Störungen
befreien und sie in eine neue Zukunft entlassen, eine echte
Zukunft, nicht nur eine fortwährende Existenz.“ (S.5)


Meret, die eine Verfechterin dieser Eingriffe ist, hat die
Aufgabe, die Patientinnen, die bei vollem Bewusstsein am Gehirn
operiert werden, während der OP zu betreuen, mit ihnen zu
sprechen, sie zu beschäftigen und ihnen Ruhe und Sicherheit zu
vermitteln. Ihr empathisches Wesen kommt ihr bei dieser Aufgabe
zugute und wird auch von ihrem Chefarzt – dessen Name nie genannt
wird – geschätzt, wohingegen beim Lesen der Eindruck entsteht,
dass der Doktor selbst von Mitgefühl nicht viel weiß, weshalb
Meret bei ihm eine besondere Stellung genießt und er sie
regelmäßig in diesen Dingen konsultiert:


„Er ließ mir Kaffee bringen. Er sagte, er interessiere sich für
das Mitgefühl. Er glaube, es werde vernachlässigt, inwiefern die
menschliche Komponente bei der Behandlung eine Rolle spiele.
Darüber wolle er mehr in Erfahrung bringen.“ (S. 36)


Es wirkt befremdlich auf mich, dass das medizinische Verfahren im
Roman so fortschrittlich ist, wohingegen die menschliche Ebene
und der Zusammenhang zwischen Körper und Geist im krassen
Gegensatz dazu stehen, da sie noch in der Erkundungsphase zu sein
scheinen. Ein Bruch der umso mehr verdeutlicht, dass die
spezifischen Bedürfnisse und eine wirkliche Heilung bzw.
Wohlbefinden in diesem Kontext und in dieser Gesellschaft gar
keine Rolle spielen, sondern dass die Menschen angepasst und
unauffällig sein sollen. Überhaupt lässt sich schwer sagen, an
welchem Ort und in welcher Zeit Yael Inokai ihren Roman
ansiedelt, da er technologisch futuristisch, vom Setting her aber
eher in der Vergangenheit zu spielen scheint.


Die drei Kapitel, in die sie ihren Roman gliedert, sind nach den
drei Protagonistinnen benannt, wobei Meret erst Titel des letzten
Kapitels ist. Kapitel Nummer eins ist mit Marianne überschrieben.
Sie ist das jüngste von vier Kindern, die einzige Tochter, der
wohlhabenden und Ansehen genießenden Familie Ellerbach und
Patientin in der Klinik, da sie unter unkontrollierbaren
Wutausbrüchen leidet, die durch den Eingriff beseitigt werden
sollen. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung beauftragt der
Chefarzt Meret, sich ausschließlich um Marianne zu kümmern, der
sich Meret zudem nach und nach auf besondere Weise verbunden
fühlt. Umso tragischer ist es, als der Eingriff bei Marianne
misslingt und sie nach der Operation nicht mehr ansprechbar ist.
Trotzdem besucht Meret sie weiter, auch nachdem Marianne in eine
andere Klinik verlegt wird. Neben einem von Mariannes Brüdern ist
sie damit jedoch die Einzige, da die Familie die Tochter nach dem
missglückten Eingriff aus dem öffentlichen Bild tilgt.


Die dritte Protagonistin ist Sarah, die ebenfalls
Krankenschwester ist und in derselben Klinik wie Meret, aber auf
einer anderen Station arbeitet, so dass sie sich im beruflichen
Umfeld, auch aufgrund ihrer Schichten nie begegnen. Sie teilen
sich jedoch ein Zimmer im Schwesternwohnheim und sehen sich
anfangs auch hier nur selten. Nach und nach wird der Kosmos ihres
gemeinsamen Zimmers jedoch zu ihrer Welt. Sie nähern sich
vorsichtig einander an, tauschen sich über ihre Familien aus,
beginnen kleine Ausflüge zu unternehmen und sich Nachrichten auf
Zetteln zu hinterlassen, auf denen sie sich verabreden. Daraus
erwächst schließlich nicht nur eine Freundschaft, sondern Liebe,
die jedoch ausschließlich auf ihr gemeinsames Zimmer begrenzt
ist. Während Meret sich in dem System, in dem sie lebt, wohl
fühlt – Regeln und Vorgaben sind ihr wichtig und geben ihr
Sicherheit – und sie auch an die Wirksamkeit der Eingriffe
glaubt, stellt Sarah diese in Zweifel, was zu Konflikten zwischen
den beiden führt.


„Manche waren gut darin geworden, sich jede Meinung abzugewöhnen.
Die Vorgaben und Regeln fingen einen immer auf. Meinungen konnten
das nicht.“ (S. 25)


Die Liebe zwischen den beiden jungen Frauen bewirkt aber auch
einen Wendepunkt in Merets Einstellung, denn Homosexualität
entspricht nicht der gesellschaftlichen Norm und soll ebenfalls
mittels der Eingriffe 'geheilt' werden – was sie zu potenziellen
Patientinnen machen würde – und auch der missglückte Eingriff bei
Marianne sowie Sarahs kritische Einstellung, lassen Meret langsam
erste Zweifel kommen.


Wir wissen, wann Yael Inokais Roman veröffentlicht wurde, in
welcher Zeit er spielt, wissen wir nicht und müssen es auch
nicht, denn die Themen sind aktuell. Es geht um eine
Gesellschaft, die bestimmen möchte, was normal ist und diesen
Zustand, wenn es sein muss, mittels operativer Eingriffe
herstellt. Unterworfen sind ihr vor allem Frauen, deren Verhalten
und Gemütszustände bewertet werden. Sind sie beispielsweise zu
laut, zu wütend, oder lieben die 'falschen' Personen, dann sind
sie unliebsam und geeignet für den Eingriff. All dies geschieht
unter dem Deckmantel, ihnen helfen zu wollen, so wie es auch der
Doktor gegenüber Meret deklariert , denn er hat sehr wohl
erkannt, welches Verhältnis sie zu ihrer Mitbewohnerin pflegt.


„ »Es gab in anderen Kliniken gute Erfolge«, sagte er, »mit
Störungen wie den Ihren. Neigungen, die nicht in einen Menschen
gehören...so etwas muss nicht unbehandelt bleiben. Ich möchte
hier auch damit anfangen. Vielleicht könnte das dann auch eine
Lösung für Sie sein. Ich würde Ihnen gerne helfen.« “ (S.150)


Dass er gar nicht um Hilfe gebeten wurde und nur er es als
Störung wahrnehmen könnte, spielt dabei für ihn keine Rolle. Der
Doktor bleibt, wie viele andere, vor allem männliche Personen im
Roman, namenlos, weil er für viele steht; für die Unzähligen, die
Unterdrückung und Übergriffe als Hilfe tarnen. Auch Merets Vater
wird nicht namentlich benannt und ihre familiäre Situation ist
geprägt von Gewalt durch ihn, durch aushalten, still sein und
ertragen ihrerseits. Ihre Schwester ist anders, sie provoziert
und steckt die Schläge ein wie einen Triumph, als ein Zeichen
dafür, dass sie die Kontrolle behalten hat.


Meret geben ihr ihre Arbeit und der Krankenhausalltag Sicherheit.
Es ist ein System in dem sie eine von vielen ist, ihre Aufgaben
kennt und diese gern erledigt. Ihre Schwesterntracht, die sie mit
den anderen gleich macht, spielt dabei eine wichtige Rolle. Das
Uniformieren generell scheint ihr wichtig zu sein, trägt sie doch
auch immer ein und dasselbe Kleid, wenn sie ihre Eltern besucht.
Durch ihre Liebe zu Sarah wird zwar das Gefüge in dem sie sich
eigentlich wohl fühlt nicht aufgebrochen, es bekommt aber nach
und nach Risse, denn Meret beginnt sich zu emanzipieren und die
Dinge, die ihr gut tun selbst in die Hand zu nehmen, für sie
einzustehen. Als Frau ein selbstbestimmtes Leben zu führen ist
generell eines der großen Themen des Romans, dass Inokai uns an
fast allen ihren weiblichen Figuren auf unterschiedliche Weise
vor Augen führt. Ihre Sprache ist dabei voller Andeutungen und
Unausgesprochenem, das wir uns selbst denken müssen oder beim
Lesen direkt fühlen. Ihre Beschreibungen des Krankenhausalltags
wirkten anfangs fast kammerspielartig auf mich, was durchaus eine
eher trübsinnige Stimmung auslöste, die sich aber mit dem
Fortgang der Geschichte veränderte.


Yael Inokais Ein simpler Eingriff ist ein Plädoyer für
Selbstbestimmtheit und Emanzipation, dafür zu hinterfragen und
für nichts weniger als Freiheit. Dabei kommt es nicht donnernd
daher, sondern weiß ruhig und eindringlich auf gerade einmal
etwas mehr 200 Seiten zu erzählen und hat, wie ich finde, dafür
zu Recht den Anna-Seghers-Preis erhalten. Auch von mir eine
Empfehlung.


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