Charlotte Gneuß: Gittersee
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Beschreibung
vor 6 Monaten
"Wahrhaftigkeit" ist nicht mein erstes Kriterium beim Lesen eines
Buches. Im Gegenteil, mit allzu viel Sinn für das Mögliche wäre
Harry Potter ein sinnloser Streber in Eton gewesen statt eines
mäßig begabten Zauberlehrlings in Gryffindor und Drogon eine
überdimensionierte Echse in den Sümpfen um Venedig statt ein
feuerspeiender Drache über Braavos. Langweilig.
Bei Romanen, die etwas realere Begebenheiten abbilden hingegen,
sagen wir, das Leben in der DDR, weiß ich es zu schätzen, wenn
die Autorin oder der Autor, wenn sie schon nicht die
Begebenheiten 1:1 abbildet, dann doch die Gefühle, die in der
Luft lagen, die Erlebnisse, die die Protagonisten geprägt haben,
exakt wiedergeben, statt sich eine retrospektive Idylle zu bauen.
Looking at you, Uwe Tellkamp. Dessen absurder Roman "Der Turm",
den zu lesen uns das westdeutsche Kleinbürgertum im Jahr 2008
auftrug, weil sie endlich einen Ossi gefunden hatten, der sie
nicht verabscheute, hielt ich jahrelang für den Grund, dass ich
einen weiten, weiten Bogen um jeglichen "Wenderoman" machte.
Dabei entgingen mir Werke wie "89/90" von Peter Richter und sogar
das immens lustige "Vom Ende des Punks in Helsinki" von Jaroslav
Rudiš. Das muss ich nun alles nachholen. Denn, wie ich seit der
Lektüre von Charlotte Gneuß' "Gittersee" weiß, kann man über eine
Zeit, die man selbst kind of erlebt hat, lesen, ohne mit dem Kopf
zu schütteln. Es war wohl immer nur dieser auch hier im Studio B
saftig verrissene "Turm", der mir die Retrospektive versauerte.
Und natürlich die in den Neunzigern prävalente Ostalgie mit ihren
Superillus und MDR-Talkshows und dem ständigen Gejammer der
angeblich Abgehängten, von denen man genau die gleiche direkte
Linie zu einer AfD-tolerierten Landesregierung ziehen kann, wie
vom rechtsradikalen Uwe Tellkamp.
Unter einer ebensolchen präfaschistischen Konstellation lebt man
heute (Danke, Uwe!), wenn man in Gittersee wohnt, einem Vorort
von Dresden, welches wiederum der Geburtsort des Literaturpodcast
und -newsletter "Lob & Verriss" ist. Ich weiß also, wovon ich
lese, wenn dieses Städtchen im gleichnamigen Roman von Charlotte
Gneuß Schauplatz einer wahrhaftigen Begebenheit in tiefen, tiefen
DDR-Zeiten ist. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass Gittersee,
obwohl von meiner Hood nur fünf Kilometer entfernt, für mich
damals, in den 80ern, auf dem Mond lag. Denn der Mond lag in der
gleichen DDR und dort waren die Verhältnisse überall dieselben,
außer vielleicht in Berlin und von dem haben wir in
Dresden-Löbtau genauso geschwärmt wie Karin und Marie in
Gittersee.
Das tun die beiden Sechzehnjährigen im Jahr 1976 hauptsächlich
auf der Stein-Tischtennisplatte vor der Schule und langweilen
sich dabei ein bisschen. Es liegt sich nicht sonderlich bequem
auf dem heißen Beton, schon gar nicht im beginnenden Sommer.
"Unbequem" ist für Karin in diesem seltsamen Ort Gittersee
ohnehin irgendwie alles. Wir reden hier nicht von der
Unbequemlichkeit, die ein Teenager in 2025 erlebt, dessen
tägliches Internetkontingent schon um 16:30 Uhr aufgebraucht ist.
Wir reden von dieser seltsamen Langeweile, vor der Langeweile,
die es nur im Osten gab, mit zwei TV-Programmen, zu wenig Brause
im Sommer, zu schweren Fußbällen auf unbeschatteten Hartplätzen,
wenn man ein Junge war und Klamottenproblemen, seltsam riechenden
Haarsprays und Jungs in Kutten als Mädchen. Für Karin beginnen
damit aber nur die Schwierigkeiten. Ihre spätgeborene kleine
Schwester im Krippenalter muss bespaßt werden, denn ihre Mutter
ist abwesend. Zunächst noch nicht körperlich, aber wenn sie
abgekämpft abends nach Hause kommt, hat sie keinen Nerv für den
Balg. Da kann Karin "die Kleine" noch so abgöttisch lieben, eine
Sechzehnjährige hat andere Sachen im Kopf. Zum Beispiel ihre
erste Liebe Paul, 17, der sie spontan bittet, mit in die
Tschechei zu fahren, sächsisch für die CSSR, von Gittersee nur
eine Stunde mit dem Moped entfernt, zum Biertrinken, Klettern und
Rummachen. Irgendwas ist seltsam an der Bitte, so kurzfristig am
Freitagnachmittag, wie stellt er sich das vor, drei Tage boofen
und schwoofen, pardon my sächsisch, das erlaubt Vati nie. Mutti
ist es eher egal. Seltsam ist: Paul hat für Ostverhältnisse
utopisch viel Geld dabei, 600 Mark. Um Kletterzeugs zu kaufen in
der Tschechei, sagt er. Klingt fast plausibel.
Natürlich darf Karin nicht mit, Paul und sein Kumpel Rühle fahren
los und nur einer kommt zurück. Ein paar Stunden später stehen
die Behörden vor der Tür: “Was wusste Karin von der
Republikflucht ihres Schwarms?”
Hier beginnt eine Odyssee durch einen Sommer, es ist der Sommer
'76, wird bald klar, durch einen Ozean von Teenagergefühlen,
durch den Schlund, den die Stasi jedem unter die Füße stellte,
den sie für vulnerabel hielt. Nichts, was eine 16-Jährige aus
einem Dorf fest in Stasihand auch nur ansatzweise managen kann.
Ich habe exakt fünf Kilometer von Karin entfernt gebebbelt. Unser
beider Hinterhöfe waren wiederum jeweils fünf Kilometer vom
Dresdner Hauptbahnhof entfernt, der, auf dem 13 Jahre nach der
Romanzeit die Leute auf fahrende Züge von Prag in den Westen
aufspringen wollten. Der Unterschied in diesem Ostdreieck war,
dass vor meiner Haustür die Straßenbahnlinie 7 in zehn Minuten
zum Hauptbahnhof fuhr, vor Karins Tür fuhr noch nicht mal ein
Bus. Warum das für die Volkswirtschaft der DDR, oder sind wir
ehrlich, der UdSSR, so wichtige Dorf von der Großstadt
abgeschnitten war, wird klar, wenn man weiß, dass dort Uran
abgebaut wurde. Dafür brauchte man Bergarbeiter, aber die sollten
sich nicht unbedingt mit dem Volk verschmischen, also stellte man
ihnen ein paar Platten hin und einen Konsum und eine Kneipe und
ließ das Dorf Gittersee nicht zur Vorstadt von Dresden werden.
Die Wahrhaftigkeit im Roman entsteht durch Charlotte Gneuß'
Sprache. Zum Beispiel hat kein Kind über fünf im Osten "Mama und
Papa" gesagt. "Mutti und Vati" war der Kompromiss zwischen
Zuneigung und Respekt, der die Kindheit zur Jugend machte. Ein
Fahrrad wurde "ab-" nicht "an-" geschlossen und man erinnert das
erst, wenn man es nach Jahrzehnten wieder liest. Es geht hier
nicht um Lokalkolorit, es geht um die Exaktheit in der Sprache,
die es braucht, um ein wahrhaftiges Bild einer Zeit und eines
Lebens zu erzeugen, völlig wertungsfrei. Ich kann mir vorstellen,
dass das in extrazonalen Ohren possierlich oder sozialistisch
klingt, je nach Vorurteil, aber ich habe das Privileg bestätigen
zu können, dass hier handwerklich genau gearbeitet wurde. Damit
erarbeitet sich der Roman eine Ehrlichkeit, die er braucht, wenn
er von der Zustandsbeschreibung des real existierenden
Sozialismus zur "realen Fiktion" kommt. Hier: wie die Stasi
versucht, die sechzehnjährige Karin zur Informantin, zum IM, zu
machen. So psychologisch perfide wie geschickt arbeitet sich die
Staatsmacht, "der Apparat", an der gerade von ihrer ersten großen
Liebe verlassenen Jugendlichen ab, es bricht einem das Herz beim
Lesen. Ob es gelingt, überlassen wir der Leserin. Ich im gleichen
Alter wie Karin war pre-89 natürlich der Meinung, dass ich die
Schergen aus der Tür gelacht habe, denn ich hatte, ganz der
Rebell, zur NVA-Musterung einen P.I.L. Sticker an meinem FDJ-Hemd
zur Musterung, ey! Und post-89 spielte es keine Rolle mehr, es
gab Techno und Drogen und die Gewissheit, dass man ein
standhafter Oppositioneller gewesen war. Es brauchte 35 Jahre, um
mir wieder Zweifel an der eigenen Heldengeschichte einzuimpfen
und allein dafür gebührt "Gittersee" jede Lobpreisung.
Das Buch hätte natürlich im Jahr 1991 von einem der ehemaligen
IMs geschrieben werden und erscheinen müssen, von jemandem, der
in der gleichen Position war wie die Protagonistin. Aber das ging
nicht. Nicht weil es unter denen keinen gegeben hätte, der das
genauso präzise und wahrhaftig hätte beschreiben können wie
Charlotte Gneuß, who knows, unter den Hunderttausenden hätte es
sicher Talente gegeben, looking at you Sascha Anderson, sondern
weil eine wahre Story einer Autorin wie der Protagonistin die
gesellschaftliche Vernichtung durch Spiegel und BILD bedeutet
hätte. So muss es ein paar Jahrzehnte später eine “wahrhaftige”
Geschichte tun, statt einer wahren, geschrieben von einer
Spätgeborenen. Vielleicht etwas zu spät, um aus dem Überleben in
der vergangenen Diktatur zu lernen, für die kommende gerade
richtig. Mit dem Vorteil, dass die Freiheit der Fiktion aus einer
schnöden Lifestory einen durchaus dramaturgisch spannenden Roman,
fast einen Krimi, macht. Und da man eine Autorin wie Charlotte
Gneuß, Jahrgang 1992, schwerlich des Mitläufer- oder gar
Tätertums in der DDR bezichtigen kann, versuchte das deutsche
Feuilleton uns zu erklären, dass so jemand ja schwerlich einen
Roman schreiben kann, der das Leben in der DDR realistisch
wiedergibt, nur weil ihre brutale Erzählung den
"Heile-Welt-Uwe-Tellkamp-Fanboys and -girls" in den FAZ u.ä.
Redaktionsstuben das Lesevergnügen versaut.
Denn insgesamt ist Gittersee eine beeindruckende Erinnerung
daran, dass die DDR nicht nur Poliklinik und Rechtsabbiegerpfeil
war. Dass die Legende von der Solidarität, dem achso happy Leben
in den Brigaden, dem vertrauensvollen und hilfsbereiten
Zusammenleben, exakt das war: eine Legende. Dass die DDR
vornehmlich ein Gefängnis war, welches die Leute, die darin
eingesperrt waren, gegeneinander auf- und um den Verstand
gebracht hat, in den Wahnsinn trieb. Und eine Erinnerung daran,
dass Gefängnisse nicht nur Wärter brauchen, sondern auch Capos,
und wie man zu keinem solchen wird, ist eine Weisheit, die auch
heute nicht unnütz ist.
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