Lauren Groff: Die weite Wildnis
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Beschreibung
vor 8 Monaten
Wir richten unseren Blick in die Neue Welt, zumindest in eine
Zeit und ein Setting, in dem dieser Begriff noch zutreffender
war, als er es heute ist. Es ist die Zeit, in der die Engländer
diese neue Welt entdecken, erforschen und sie sich vor allem zu
eigen machen wollen, also schätzen wir den zeitlichen Rahmen auf
das frühe 17. Jahrhundert, obwohl genaue Zahlen im Roman nicht
genannt werden, aufgrund der Umschreibungen nicht nötig sind und
wir als Leserin die Handlungen auch anhand der Beschreibungen –
zumindest nach und nach – einordnen können.
In Lauren Groffs Die weite Wildnis begleiten wir ein Mädchen,
vielleicht kann sie auch als junge Frau bezeichnet werden – ihr
Alter liegt zwischen 16 und 18, so genau weiß das keiner – die
als Teil einer Gruppe englischer Siedler die noch unbekannte neue
Welt erreicht. Sie gehört zur Gefolgschaft ihrer Dienstherrin,
welche mit ihrem zweiten Ehemann, einem Pfarrer, sowie ihrem Sohn
Kit und ihrer Tochter Bess aus erster Ehe reist. Unsere
Protagonistin selbst, die von ihrer Herrin mit vier oder fünf
Jahren aus dem Waisenhaus adoptiert wurde, trägt den Namen
Lamentatio, der genauso eine Beleidigung ist, wie die anderen
Namen die man sie ruft, doch oft wird sie im Roman auch einfach
nur das Mädchen genannt. Sie war Dienstmädchen, in einem einst
liberalen und großzügigen Künstlerhaushalt und kümmerte sich
voller Herzblut um Bess, die Tochter ihrer Dienstherrin, die zwar
nicht der geistigen Entwicklung ihres Alters entsprach, dafür
umso feiner und schützenswerter war und für das Mädchen wie eine
Tochter war. Mit Bess' Tod endet auch die Zeit, die das Mädchen
bei ihrer Adoptivfamilie im Fort der englischen Siedler
verbringt, welches ohnehin mittlerweile von Hunger, Gewalt, Kälte
und Tod geprägt ist.
Den genauen Grund der Flucht des Mädchens, mit nichts als dem
Nötigsten, erfahren wir als Leserin, das darf an dieser Stelle
schon erwähnt werden, aber erst kurz vor Ende des Romans.
Vielmehr ist man von Anfang mit der Protagonistin in Bewegung,
weg aus dem Fort und hinein in den Wald und immer Richtung
Norden, wo sie eine französische Siedlung vermutet, von der sie
sich Schutz verspricht. Doch bis es soweit ist, sind die weite
Wildnis, wie es im Titel heißt und der Wald das zu Hause des
Mädchens.
Die Natur bildet dabei das prägnante Motiv in Lauren Groffs
Roman. Sie symbolisiert einerseits das Unbekannte in Form eines
neuen Kontinents, damit einhergehend einer neuen Umgebung und
neuer Vegetation, neuer Lebensumstände und Möglichkeiten.
Andererseits, wirft sie den Mensch bzw. in unserem Fall das
Mädchen auf sich selbst zurück. Die Natur stellt also die Frage
nach dem Selbst, da das Mädchen auf ihrer Flucht fast vollständig
den Gegebenheiten der Natur unterworfen ist und es schafft, sich
anzupassen, herauszufinden, was sie ohne Schaden essen kann, wie
und wo sie unter schlüpfen kann, um die Nacht und viel mehr die
Kälte und Nässe zu überleben. Schließlich wird ihr bewusst, dass
sie die Natur zu kennen glaubte, was ein Irrglaube war, der sich
nun aber ins Gegenteil verkehrt, denn nun lernt sie in ihr zu
leben. Dies steht im krassen Gegensatz zu den Besiedlern, die
sich das neue Land unterwerfen wollen, die Wälder roden,
Siedlungen bauen und eher für Zerstörung als Bewahrung stehen.
Was durchaus als klarer Verweis auf unsere heutige Zeit gelesen
werden kann und sollte. Auch die Dankbarkeit und Wertschätzung
des Mädchens gegenüber allem, das sie aus der Natur nimmt,
verweist auf die krasse und gegensätzliche Ausbeutung des
Menschen eben dieser und las sich für mich dennoch nicht wie ein
erhobener Zeigefinger, den Lauren Groff auf jemanden richtet,
vielmehr ist es die Erinnerung daran, sein Bewusstsein wieder
mehr für die Dinge zu schärfen, die einen umgeben.
Zu diesen Dingen gehören für das Mädchen auch Männer, vor denen
sie sich in erster Linie fürchtet. Einer von ihnen ist zu Beginn
des Buches noch auf der Jagd nach ihr. Dass er diese Jagd schnell
verliert, erfahren aber nur wir Leserinnen. Andere sind Männer,
in denen sie in ihrem Leben als Dienstmädchen begegnet ist und
die, bis auf eine Ausnahme, alle mit negativen Erfahrungen in
Verbindung gebracht werden. Auch auf ihrer Flucht durch die
Wildnis ist sie ständig auf der Hut, denn auch in der
vermeintlichen Abgeschiedenheit lauern Gefahren für sie. Dazu
schreibt Groff Folgendes:
„Und es lief ihr eiskalt durch Mark und Bein, ein Reflex, denn
sie fürchtete das Schicksal, das Frauen überall auf der Welt
fürchten müssen, wenn sie in der Stadt allein auf einer dunklen
Straße unterwegs waren oder auf einem abgelegenen ländlichen Weg
fernab menschlicher Ohren oder an irgendeinem anderen Ort ohne
die Gegenwart von Zeugen.“ (S. 199)
Und selbst der Pfarrer, der Mann der Religion und des Glaubens,
wird als Negativbeispiel nicht ausgelassen. Die Religion selbst
wird im Roman immer wieder thematisiert und in Frage gestellt.
Das Mädchen erkennt Gott in ihrer Not und ihren Schrecken in der
Natur selbst und ist sich sicher, dass viele Völker, auch wenn
sich ihre Namen für Gott unterscheiden, doch denselben anbeten.
Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass viele als unumstößliche
Wahrheiten oder Tatsachen getarnten Aussagen vor allem dem
Streben nach Macht und Unterdrückung entspringen und lehnt diese
ab.
Während man als Lesende der Protagonistin, dem Mädchen, immer
weiter in die Wildnis folgt und sich fragt, wie es einem Menschen
möglich sein kann, all die Widrigkeiten zu überwinden, die sie
überwindet, zieht einen der Roman in einen Sog, dem man nicht
mehr widerstehen kann. Dabei lässt Lauren Groff wenige
Abscheulichkeiten, menschliche Abgründe und körperliche
Ausscheidungen aus, die einen abstoßen und dennoch weiterlesen
lassen. Die weite Wildnis ist ein Roman, der viele Themen
beinhaltet, die uns in vielfältiger Weise im Alltag begegnen, die
Art sie literarisch zu verarbeiten finde ich jedoch besonders und
mitreißend. Der starke Drang und unbedingte Wille Gemeinschaft zu
finden, ihr anzugehören und sich geborgen zu fühlen, ist dabei
ein Motiv, dass in vielerlei Hinsicht bewegend ist. Eine
unbedingte Leseempfehlung.
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