Taffy Brodesser-Akner: Die Fletchers von Long Island

Taffy Brodesser-Akner: Die Fletchers von Long Island

12 Minuten
Podcast
Podcaster

Beschreibung

vor 8 Monaten

Ja... ich weiß. Aber keine Angst, es wird nicht ganz so schlimm
wie damals in den 80ern, oder den 60ern, von den 40ern gar nicht
zu reden.


"Herr Falschgold hat gesagt, der Holocaust ist nicht mehr so
schlimm!"


Exakt.


In meiner Jugend, in der DDR, liefen am Jahrestag der Befreiung
des Konzentrationslagers Auschwitz noch Tausende von ehemaligen
Häftlingen in ihren gestreiften Anzügen mit dem gelben Stern oder
dem roten Dreieck die Strecke des Todesmarsches ab. Sowas brennt
sich ein in ein Kinderhirn.


Zwanzig Jahre später, in den Neunzigern, im Kibbuz in Israel als
Freiwilliger, freundete ich mich mit einem Bewohner an. Er hieß
Bedolf. Bedolf war ein alter Berliner mit Schnauze. Seine Heimat
hatte er damals, im Jahr 1998, schon seit fünfundsechzig Jahren
nicht mehr gesehen. Er hatte Anfang der Dreißiger, eher als viele
andere, die Zeichen der Zeit erkannt und ging nach Palästina. Er
hieß da noch Adolf, was ein ganz normaler Jungsname war, und
hätte ich in '98 schon gewusst, was ich heute von der Geschichte
des Zionismus, Palästinas und der Gründung des Staates Israel
weiß, hätten wir ein wirkliches Gesprächsthema gehabt. So habe
ich ihn natürlich befragt, ob er wirklich Bedolf heiße (unklar)
und über den Holocaust. Bedolf hat mich nur angeschaut, leise und
bestimmt gesagt, dass er lange vorher rausgekommen ist und damit
war das Thema erledigt.


Heute in den 2020ern gibt es nahezu keine Überlebenden der
Judenvernichtung mehr. Die Erinnerungen an die Shoa sind von den
Opfern auf deren Kinder, Enkel, Großenkel übergegangen, von der
Tätergeneration auf die unseren.


Die Shoa war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So ist sie
definiert, haben wir alle gelernt. Das Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Aber man kann das "Das" noch so kursiv setzen,
man wird ihm nicht gerecht. Gleich gar nicht in Worte zu fassen
ist die Innenansicht, die Gefühle der Überlebenden und ihrer
Nachfahren (und nur um die wird es in diesem Text gehen). Das
muss versucht werden, klar. Wenn man über etwas sprechen will,
braucht es Worte. Aber "Shoa" ist zu abstrakt, "Holocaust" zu
institutionalisiert. Ok, nennen wir es "Trauma"? Das ist
vielleicht zu allgemein, aber hat den Vorteil, dass es die
Gefühlswelt der Opfer in den Empfindungsbereich ihrer Mitmenschen
bringt. Trauma kennt jeder vom Sport, aus der Liebe, aus dem
Leben. Damit ist es vielleicht doch das beste Wort, wenn man über
das sprechen möchte, worüber man nicht sprechen kann. Heute nicht
mehr, weil fast alle Überlebenden tot sind, damals nicht, weil
sie noch gelebt haben. Aber wir müssen über den Holocaust
sprechen!


Das sagte sich Taffy Brodesser-Akner, nachdem sie mit ihrem
Debutroman 2019 "Fleishman is in trouble" einen wirklichen Erfolg
gelandet hatte. Die rasante Story um eine New Yorker
Middle-Class-Familie (also aus unserer Sicht "f*****g rich"), in
der unten, oben, männlich, weiblich, richtig und falsch wild
durcheinandergewirbelt wurden, voller Überraschungen und mit
genau der richtigen Mischung aus jiddisch/jüdisch/amerikanischer
Stereotype und deren Brechen, war der reine fun.


In den erzählenden Künsten sind Stereotype meist ein großer Spaß
(wenn man auf sowas steht) und haben auch im realen Leben eine
Funktion. Sie halten Erinnerungen wach, sie verbinden Gruppen,
deren Individuen oft gar nicht so viel gemein haben; da muss man
manchmal ein bisschen nachhelfen, passend machen,
verallgemeinern. Die Kehrseite des gruppenverbindenden
Holzschnittes ist, dass ein Stereotyp abgrenzt, nach und von
außen. Auch wenn der erste Gedanke in aufgeklärten Kreisen ein
"Nonononono!" ist: "Abgrenzung böse! Pfui! Aus!" sollte man das
anthropologisch neutral sehen. Nicht jede Abgrenzung ist eine
Ausgrenzung, ein Akt der Gewalt; zumindest geht sie vom
Grenzenziehen nicht zwangsläufig aus. Bei Juden ist die
Abgrenzung nach ein paar tausend Jahren Verfolgung, mit der
bekannten Kulmination vor achtzig Jahren, eher Selbstschutz. Man
weiß, was man aneinander hat und damit kein anderer. Leider ist
das neben seltsamen Haar- und Bartmoden, einer Sprache voller
Rachenlaute und absurden Ideen, wie man einen Fisch FILLT, vor
allem eines - ein Trauma.


Nun können es nicht nur deutsche Schulkinder nicht mehr hören,
wenn ihnen der Holocaust so erklärt wird, wie das noch vor
fünfzig Jahren üblich war. Zu abstrakt, zu brutal oft, zu
abstumpfend gleichzeitig, wird institutionalisiert erklärt, was
nicht zu verstehen ist. Ein anderer Ansatz scheint nötig, das
Verbrechen und seine Nachwirkungen auf ein menschlich erfühlbares
Niveau zu bringen. Zum Beispiel, indem man die Geschichte der
nachfolgenden Generationen erzählt, ohne Holzhammer und
Zeigefinger, verpackt in eine absolut packende, moderne Story.
Eine Familiengeschichte vielleicht, mit ein bisschen
Kriminalität, Drama, Eifersucht. Wir denken "Billions",
"Yellowstone" oder "Succession". Inklusive bekommt man bei einem
solchen Herangehen aber den zwangsläufigen kollektiven Aufschrei
der Aufpasser, vor der "Verharmlosung der unvergleichlichen Shoa"
wird gewarnt werden. Das ist so reflexhaft wie unvermeidlich und
somit kann nur eine Jüdin eine solche Story schreiben. Exakt das
ist es, was Taffy Brodesser-Akner mit "Die Fletchers von Long
Island" anging und was ihr, vorab, ziemlich hervorragend gelingt.


Hervorragend deshalb (auf das "ziemlich" kommen wir zum Schluss),
weil "Long Island Compromise" (so der Originaltitel) zunächst
einmal eine ganz normale amerikanische Geschichte ist, in den
Fußstapfen eines Franzen, eines Irving oder Updike. Wir schreiben
die frühen 1980er und lernen die Fletchers kennen, eine
prototypische weiße, reiche Industriellenfamilie aus Long Island,
also im Norden aus New York City raus und dann rechts abbiegen.
Welchem ethnischen Hintergrund sie entstammt, erfahren wir
sofort, wird doch gerade eine Bar Mizwa vorbereitet. Der
Familienvater, so um die 40 Jahre alt, Sohn eines aus Deutschland
1943 geflohenen Juden, tritt aus der Tür des stattlichen Anwesens
und auf dem Weg zu seinem Auto wird er, Sack überm Kopf,
entführt. Bummer.


Aber Brodesser-Akner hält uns nur ein Kapitel lang in Atem, dann
kehrt der Entführte, äußerlich fast unversehrt, zurück. Das
Lösegeld, $250.000, ist weg - aber scheißegal, es sind Peanuts
für die Zeit und die finanziellen Umstände, in denen sich die
Familie befindet. Ist ja nix passiert. Ok, wirklich? Das fragen
wir uns gerade noch, so schnell geht das alles, da macht das Buch
einen Cut und wir sind in den Zwanzigern des aktuellen
Jahrhunderts und finden uns wieder im ziemlich kranken Schädel
des jüngsten Sohns des damals Entführten, Spitzname "Beamer",
einem eher erfolglosen Screenwriter mit "Problemen". Vielen. Er
hat Frau und Kinder und einen frühen und leider einmaligen
Kinohit auf der Haben-Seite und gegenüber so ziemlich jede Droge,
die man in L.A. finden kann. Das ist amüsant bis schmerzhaft zu
lesen und, wir kommen zum oben genannten "ziemlich": Das ist
alles ziemlich lang. Wir fangen an die Seiten mit den endlosen
Exzessen und Ausflüchten und lahmen Entschuldigungen des
Mittvierzigers zu überfliegen und wollen schon aufgeben, da kommt
der Schnitt zu seinem Bruder Nathan, dem ältesten Sohn des
Entführten, der das Familienunternehmen weitergeführt hat und nur
äußerlich ein stabileres Leben als sein Bruder in Hollywood
führt. Während Beamers Drogen "richtige" sind, beruhigt Nathan
sein angsterfülltes Hirn mit dem Kauf von Versicherungen oder dem
Verschenken von Handbüchern, mit denen er nicht nur seinen
Kindern beibringen möchte, wie man sich durch die achso
gefährliche Welt sicher bewegt. Er ist ein Kontrollfreak, ein
Langweiler. Soweit so überspitzt, aber auch gut lesbar und wieder
fast zu lang. Erst als wir auch hier sagen "Wir haben es
verstanden, Taffy, er ist auch ein Wrack!" kommen wir zur
scheinbar normalsten der drei Geschwister: Jenny von der Gnade
der späten Geburt, war sie doch zum Zeitpunkt der Entführung des
Vaters noch nicht geboren. Sie stellt sich also exakt die gleiche
Frage wie viele Enkel von Überlebenden der Shoa: was sie denn mit
der ganzen Scheiße zu tun habe? Nichts! Und warum es ihr trotzdem
schlecht geht. Jenny war damals, 1983, noch gar nicht auf der
Welt, so wie ihre Eltern 1943 noch nicht geboren waren und
dennoch kommt sie, wie diese, in dieser nicht so zurecht, wie sie
es sollte. "Survivors Guilt kann doch beim besten Willen nicht
vererbt werden?", fragt sie sich.


Eben doch! Zumindest laut wissenschaftlichen Forschungen, die
schon vor dem Aussterben der direkten Holocaustüberlebenden
begannen. Nicht dass mir das einleuchtet, mit dem Wissen um
Mendels Chromosomen aus Biounterricht und überhaupt als jemand,
der zu lange aus der Schule raus ist. Wie soll das gehen, frage
ich mich, das (genetische) Vererben von Traumata? Aber, so gebe
ich zu, an der Kreuzung von Nature und Nurture liegt ein großer
ausladender Sumpf, namens "Gesellschaft" und in ebendiesem Sumpf
gären Meinungen über und untereinander, blubbern, fallen aus und
kristallisieren sich über Generationen. Man nennt das dann
"Stereotype" und die vererben sich natürlich und zwar sowieso,
siehe: Juden, siehe: Deutsche, siehe: "Amis", siehe: die
“Anderen".


Und so haben wir es nun wirklich begriffen, das Buch ist auch
schon sehr lang, dass alle handelnden Personen von einem
Ur-Trauma abgefuckt wurden: der Entführung des Vaters im ersten
Kapitel, von der jeder weiß und trotzdem niemand spricht, damit
das nur noch in sich selbst existierende "Familienoberhaupt" (in
dicken Anführungen) nicht getriggert werde. Und, ich muss es
nicht aussprechen, sprach Herr Falschgold es aus: Dem Holocaust,
das Trauma der Spätgeborenen, das der heutigen dritten und
vierten Überlebendengeneration, über das erst recht niemand
spricht. Wie geht man damit um? Muss es so abgefuckt enden, wie
für die Söhne und Töchter Fletcher? Taffy Brodesser-Akner macht
nicht viel Hoffnung: ja es muss. Wie anders? Aber wir, die un-
oder kaum Traumatisierten sollten davon erfahren, sollen wissen,
dass es sie gibt, die Abgefuckten, die Stummen, auch drei, vier
Generationen danach und sicher noch ein paar in der Zukunft und
wir müssen mit diesen umgehen und wenn wir es nicht können,
müssen wir das eben lernen.


Das kann man in wissenschaftlichen Abhandlungen vermitteln, in
Vorträgen oder Dokumentarfilmen, alles wichtig. Aber die
Abstraktion, welche die Belletristik bietet, das ein, zwei
emotionale Schritte entfernt sein von schwarzweißen Filmrollen
mit Leichenbergen, hilft, die heutigen Generationen von
Mitmenschen der Überlebenden der Shoa zu erreichen. Zu erreichen,
dass wir nicht gleich abschalten, wenn wir an den Holocaust
erinnert werden, denn es ist nicht nur deren Holocaust, es ist
auch unserer.


Und natürlich hilft dabei auch Humor, eine stimmige Story, ein
Bild vom abgefuckten Amerika mit seinen absurden Unterschieden
zwischen Arm und Reich, denen sich Taffy Brodesser-Akner auch
stellt. Sie lässt uns da manchmal etwas zu lange warten. Wir
stöhnen durchaus manchmal: "S**t, tough luck, rich kid!" wenn
einer der handelnden Personen mal wieder fast scheitert und dann
doch gerettet wird von den nahezu unendlichen finanziellen
Polstern, die so eine Industriellenfamilie nunmal hat.


Aber alles Geld der Welt kann das Trauma der Entführung wie das
der Shoa, und sei es noch so lange her, nicht wirklich lindern
und da kann man dann halt nicht sagen "Tough luck, idiot!", schon
gar nicht als Deutscher, aber auch einfach als empathischer
Mensch. Ja, reiche Leute haben auch Probleme, so klitzekleine,
wie die vergasten Vorfahren, vor 80 Jahren, im Holocaust.


Und über den müssen wir sprechen.


This is a public episode. If you would like to discuss this with
other subscribers or get access to bonus episodes, visit
lobundverriss.substack.com

Kommentare (0)

Lade Inhalte...

Abonnenten

15
15