Kein Abbruch!
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vor 9 Monaten
Die Zeiten ändern sich, manchmal schnell. Noch am 8. August 2024,
also vor einem halben Jahr, warb ich hier für den Abbruch, das
nicht zu Ende Lesen von Büchern, am Beispiel von dreien solcher.
Zu schön war der Sommer und zu deprimierend, zu anstrengend, zu
weltfremd oder einfach nur zu lang waren die Werke.
Seitdem haben wir lange vergessene Habitus ( Mehrzahl, sagt
Google!) wiedererlernen müssen, das Anziehen von Anoraks zum
Beispiel oder dass es erst früh um 10 hell wird, so ein bisschen
und 15:00 Uhr wieder düster. Stockfinster wurde es
tageszeitübergreifend dann plötzlich am 5. November 2024. Nachdem
seit diesem verhängnisvollen Tag die, wie wir mittlerweile sicher
sein können, faschistische Machtübernahme in den USA läuft und
ähnliches hierzulande dräut, haben wir also alle das
Doomscrolling wiedererlernt, man will keine Nachricht, keine
Schweinetat, keine Unmenschlichkeit verpassen, um dann altklug
und rechthaberisch den Kopf zu schütteln. Irgendwann jedoch
schmerzt das Genick und man denkt wieder drüber nach, in
Fantasiewelten zu fliehen, fühlt sich aber auch ein bisschen
schuldig, im Angesicht der Diktatur des Bösen, komplett
abzuschalten.
Da erinnert man sich plötzlich, da war doch jemand, damals im
August, als es noch hell war, dem es damals schon so schlecht mit
der Welt ging, vielleicht weiß der ja Rat. Wie hieß er noch, es
war der tollste Name der Welt, genau, Shalom Auslander, dem ging
es so schlecht in "Feh", dass ich mir davon nicht die Laune
verderben lassen wollte und das Buch weglegte. Geschrieben hatte
er es vor der Pandemie von 2020 (man sollte sich langsam
angewöhnen, die Dinger zu spezifizieren), also in einer Zeit
voller fun in the sun für uns - nicht so für Shalom. Fünf Jahre
später lebt man selbst in dunklen Zeiten und wir alle gehören
jetzt zur Zielgruppe des Buches. Also habe ich "Feh" tatsächlich
zu Ende gelesen. Die Stories darin waren schon damals gut, das
war nicht mein Problem und die Verzweiflung an der Welt, damals,
im August noch als übertrieben empfunden, ist nun auch die meine.
Woran Auslander vor allem leidet ist, dass die Menschen so
unachtsam oder einfach "not nice" sind. Ja, ich sehe das jetzt
auch so. Bisher war meine Meinung: "Ja, wir alle sind das mal",
aber ich war sicher, alle Leserinnen von "Lob und Verriss", so
als Querschnitt durch die Gesellschaft, geben sich Mühe das so
selten wie möglich zu sein. Was sich seitdem verändert hat, in
die Welt gekommen zu sein scheint oder einfach nur an die
Oberfläche gespült wurde, ist eine systemische Brutalität. Nicht
nur die übliche Gedankenlosigkeit, der Alltagsrassismus,
-klassismus, -antifeminismus, whathaveyou, nein, das Pendel
schwingt zurück. Brutal. Und Shalom Auslander hatte das schon im
Blick, damals, prepandemisch. Also konnte er es damals schon
analysieren und, na klar, nichts lässt sich auf ein Problem, ein
System, ein Gift zurückführen, aber Auslander meint sich
konzentrieren zu müssen auf die Hauptursacher der ganzen Kacke:
die "Religion", genauer, die des Alten Testaments. Und
tatsächlich, da wird aktuell zum Beispiel von einem
Möchtegernintelektuellen, der sich in die luftigen Höhen des
Vizepräsidialamtes der US of A hochgebumst hat, die olle Schwarte
und ihre Interpretatoren zu scheinheiligen Argumentationen
herangezogen, nämlich, dass es eine "Reihenfolge der
Barmherzigkeit" gäbe, no s**t, das stehe schon in der Bibel. Nun,
da steht alles Mögliche drin und so nimmt er halt dieses Mal das
Prinzip "ordo amoris" (don't google it) und macht daraus
"Ausländer raus". Der F****r. Wie kann man die Bibel so falsch
lesen, fragt man sich, wenn man den Spruch gegoogelt hat (ich
sagte "Don't google it"!). "Duh!", sagte Auslander, wie wir jetzt
wissen, wo wir das Buch zu Ende gelesen haben, "It's a feature,
not a bug". Die Bibel als Lehrbuch der Barmherzigkeit? "Geh mir
weg!", argumentiert Shalom im Buch. Wo in der f*****g Bibel kommt
Gott als "barmherzig" davon? Die Sintflut, bei der im Grunde nur
Noah übrig blieb? Sodom und Gomorra, wo Gott direkt zwei
komplette Städte ausradierte, weil, falsch gefickt? Wenn man sich
diesen kleingeistigen Shithead zum Vorbild nimmt, kommt ziemlich
exakt das raus, was man in den USA gerade an realer Politik sieht
und was sich die CDU/CSU, als arschkriechende Nachahmer,
interessiert sabbernd anschauen.
Leider ist das Buch noch nicht übersetzt, aber seine kleinen
moralischen Gleichnisse und Geschichten sind in leicht
verdaulichem Englisch verfasst und man erfährt nebenbei noch ein
bisschen Hollywood-Gossip. Es gibt herzzerreißende Stories von
seinem Freund Philip Seymour Hoffman und einen sehr
geheimnisvollen Beef mit Paul Rudd. Und am Ende einen Hauch
Hoffnung. Irre.
Schon lange unter dem Titel "Corvus" auf Deutsch erschienen war
das zweite im August weggelegte Buch. Im Original hieß es "Fall;
or, Dodge in Hell", geschrieben von Neal Stephenson und natürlich
ist auch das Ding jetzt wieder ganz oben auf der Leseliste
gelandet, schließlich verbraten im Buch Tech-Bros absurde Mengen
an Ressourcen um für die Mehrheit der Menschen unnützen Scheiß zu
machen - wo haben wir das schon mal gehört? Für den theoretischen
Überbau dieser inhumanen Kacke, sprich, des sich Konzentrieren
auf die Probleme einer fernen Zukunft, statt der realen
Schwierigkeiten im Hier und Jetzt, habe ich letztens schon diesen
Vortrag empfohlen, der mir erst bei Wiederaufnahme der Lektüre
wieder einfiel, beschreibt er doch sehr verständlich die absurden
aber tatsächlichen, realen Gedanken der aktuell unser aller Leben
bestimmenden Multimilliardäre. In der Fiktion von Stephenson gibt
es diese F****r auch, auch diese wollen eine Erde ohne Menschen,
wenn auch irgendwie "positiver", vielleicht auch nur (vom Autor)
unreflektierter. Aus irgendeinem Grund muss das Buch ja für Neal
Stephenson Verhältnisse gefloppt sein. Aber da die real
existierenden Arschlöcher, die Musks, Horowitzs, Thiels nicht
genug bekommen können von Science Fiction und Fantasy und völlig
ungeniert ihre Milliardenbuden nach absolut negativ konnotierten
Fantasyobjekten wie z.B. Palantir, benennen, ist es fast
Pflichtlektüre, die aktuellen Vorlagen mal nicht nur unter dem
Unterhaltungsaspekt zu konsumieren sondern als Forschung, um zu
erkennen, was in den kranken Köpfen der Superreichen aktuell so
an Plänen für uns Biomasse heranreifen könnte. Also bin ich jetzt
doch wieder dran am Werk und nebenbei ist Stephenson natürlich
immer noch ein brillanter Schriftsteller und "Fall"/"Corvus",
wenn auch viermal zu lang, super zu lesen, wenn man sich die Zeit
nimmt und nicht erwartet einem gefühlt 4000-Seiten-Roman (ok,
1153 im deutschen) zu 100% folgen zu können.
Und was ist aus dem dritten Buch in der Reihe der Nicht-zu-Ende
gelesenen geworden? Taffy Brodesser-Akners "Long Island
Compromise"? Ja, das habe ich auch zu Ende gelesen und es hat
sich als das beste der drei herausgestellt und als ein wichtiges
zudem. Das war nicht wirklich abzusehen und da es am 10. März
2025 unter dem Titel "Die Fletchers von Long Island" auf deutsch
erscheint, bekommt es aus diesem Anlass eine eigene Rezension.
Sie wird überschrieben sein mit "Wir müssen über den Holocaust
sprechen" - also wie gewohnt ein Brüller vom Herrn Falschgold.
Bis dahin, genauer bis zum 16. März 2025, verbleibt Derselbige.
P.S. Als konkrete Lebenshilfe für Winterdeprimierte empfehle ich
aktuell das Hören (!) des "Zauberberg 2" von Heinz Strunk. Die
Jahreszeit passt und wer nicht spontan in hysterisches Lachen
ausbricht, wenn der Heinz von der Therapiegruppe im Sanatorium
erzählt und schief singt:
The river she’s flowing, Flowing and growing, The river she’s
flowing, Back to the sea.Mother Earth carrying me, Your child I
will always be, Mother Earth carrying me, Back to the sea.
dem geht's nicht schlecht genug.
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