117 — Der humpelnde Staat, ein Gespräch mit Prof. Christoph Kletzer
1 Stunde 7 Minuten
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Beschreibung
vor 9 Monaten
Die heutige Episode hat wieder viel Spaß gemacht. Zu Gast ist
Prof. Christoph Kletzer. Ich bin auf ihn gestoßen über einen
Artikel in der Presse mit dem Titel »Der humpelnde Staat« — und
das soll auch der Titel dieser Episode sein.
Prof. Christoph Kletzer ist Professor am King’s College London
und eine profilierte Stimme in politischen Debatten.
»Eine seltsame Krankheit hat unsere europäische Staatsordnung
befallen: Sie interessiert sich immer stärker für die kleinsten
Details unseres Lebens, wird immer einfallsreicher bei der
Tiefenregulierung des Alltags, lässt uns aber mit unseren
brennendsten Nöten allein.«
Wir beginnen mit der Frage nach den immer stärker werdenden
staatlichen Eingriffen. Welche Beispiele kann man dafür nennen?
»Im Grunde haben wir alle so kleine Sandboxen, in denen wir
spielen dürfen«
Und dennoch verlieren viele der westlichen Staaten zunehmend die
Fähigkeiten, ihre Kernaufgaben zu erfüllen.
Erleben wir in den vergangenen Jahrzehnten einen zunehmenden
Illiberalismus? Das Ganze scheint gepaart zu sein mit einer
wachsenden Moralisierung aller möglichen Lebensbereiche.
»Die Unfähigkeit im Großen wird durch aggressiven Kleingeist
kompensiert.«
Was ist die Rolle der einzelnen Akteure und des Systems?
»Die Funktion des Systems ist das, was es tut« — »The
purpose of a system is what it does«, Stafford Beer
Woher kommt dieses Verrutschen des staatlichen Fokus?
»Machtlosigkeit im Inneren wird mit technokratischem
Verwaltungsstaatshandeln kompensiert. Das ist zum Teil in die DNA
der Europäischen Union eingeschrieben.«
Sie wird als Neo-Funktionalismus bezeichnet. Was bedeutet dies?
Wurden wir in eine politische Einheit geschummelt? Wer hat
eigentlich welche Kompetenz und wer trägt für welche
Entscheidungen konkret Verantwortung?
»Das wirkt mir eher nach FIFA als nach einem demokratischen
System.«
Oder wie der Komplexitätsforscher Peter Kruse es ausgedrückt hat:
»In einem Krabbenkorb herrscht immer eine Mordsdynamik, aber bei
genauerem Hinsehen stellt man fest, dass eigentlich nichts
richtig vorwärtsgeht.«
Wie kann man komplexe Systeme strukturieren oder Ordnung in
komplexe Systeme bringen? Gibt es einen
verfassungsrechtlichen Geburtsfehler in der EU? Kann man diesen
noch beheben? Wird das Problem überhaupt diskutiert?
Welche Rolle spielen Preise in der Selbstorganisation komplexer
Wirtschaften?
Kann Innovation als Arbitrage betrachtet werden?
Wie viel kann bei einer komplexen Einheit wie der EU zentral
gesteuert werden und wie viel muss sich durch
selbstorganisierende Phänomene gestalten lassen? Sollten wir
bei Kernaufgaben (was sind diese?) zentralistischer handeln und
mehr Staat haben, aber beim Rest viel weniger Staat zulassen?
Was können wir von der Situation in Argentinien und Javier Milei
lernen? Warum sind Preiskontrollen fast immer eine verheerende
Idee?
Gleiten Top-Down organisierte, etatistische Systeme immer in
Totalitarismus ab?
Was sind Interventionsspiralen, wie entstehen sie und wie kann
man sie vermeiden?
Erleben wir eine Auflösung der regelbasierten globalen Ordnung
und wie ist das zu bewerten, vor allem auch aus europäischer
Perspektive? Werden wir vom Aufschwung, der aus Nationen wie
den USA oder Argentinien kommt, überrollt; haben wir mit unserer
Trägheit hier überhaupt noch eine Chance, mitzukommen?
Gibt es eine »Angst vor Groß« in Europa? Dafür aber dominieren
Sendungsbewusstsein und Hochmut? Wie spielt diese Angst
zusammen mit einer der aktuell größten technologischen
Veränderungen, der künstlichen Intelligenz?
Haben wir es im politischen und bürokratischen Systemen mit einer
Destillation der Inkompetenz zu tun? Oder liegt das Problem eher
bei einer Politisierung der Justiz?
»Die künftige Konfliktlage ist zwischen Justiz und Parlament.«
Wer regiert eigentlich unsere Nationen? Politik oder »Deep
State«? War der »Marsch durch die Institutionen« erfolgreich und
hat unsere Nationen nachhaltig beschädigt?
Wer hat eigentlich den Anreiz, in die öffentliche Verwaltung
zu gehen?
Braucht es die überschießende Rhetorik von Milei, um überhaupt
eine Chance zu haben, den Stillstand zu beenden?
»By liberty, was meant protection against the tyranny of the
political rulers.«, John Stuart Mill
Erleben wir eine Umkehrung der hart erkämpften Werte der
Aktivisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts? Ist der Schutz
von Politikern wichtiger als die freie Meinungsäußerung? Wo sind
wir hingeraten?
Was bedeutet Liberalismus überhaupt und wie hat sich der Begriff
verändert? Wie setzt sich der liberale Staat gegen seine Feinde
zur Wehr? Aber wer entscheidet, wer der Feind ist Wie weit kann
der Staat »neutral« bleiben, wie weit muss er Werte haben?
Von der Wiege bis zur Bahre, vom Staat bevormundet? Ist das dann
zu viel? Oder wollen das viele wirklich?
»Die Schwierigkeit der Menschen, erwachsen zu werden, ist auch
ein Wohlstandsphänomen. Der Wohlstand, den wir haben, führt auch
zum ewigen Kind.«
Aber dazu kommt noch eine weitere Dimension:
»Auch die Hypermoral ist ja eine infantile Geschichte.«
Woher kommen eigentlich die großen Veränderungen im späten 20.
und 21. Jahrhundert?
»Die neue Revolution ist nicht ausgegangen von der
Arbeiterschaft, sondern von der administrativen Elite«, James
Burnham
Schafft der administrative Staat immer neue Situationen, die
immer neue Eingriffe notwendig machen und die eigene Macht
verstärken? Werden also immer neue paternalistische Strukturen
notwendig, um die Probleme zu »lösen«, die selbst zuvor
verursacht wurden? Und diese Problemlösung erzeugt wieder neue
Probleme, die … Ist das Lösen der Probleme im Sinne der
Machtstruktur gar nicht wünschenswert?
Trifft dies nicht nur auf politische, sondern auch auf andere
Organisationsstrukturen zu?
Was ist die »eisige Nacht der polaren Kälte« nach Max Weber? Kann
man eine Bürokratie der Debürokratisierung und damit eine
Multiplikation des Problems vermeiden? Lässt sich dieses Dilemma
rational, vernünftig lösen oder stecken wir hier in der
Pathologie der Rationalität fest?
Braucht es einen Clown, um den gordischen Knoten durchzuschlagen?
Aber steckt in dieser Irrationalität nicht auch eine Gefahr?
Welches unbekannte Know-how steckt — nach konservativer Logik —
in den etablierten Strukturen?
Stehen wir vor der Wahl einer tödlichen Verfettung oder einer
gefährlichen Operation? Was wählen wir?
Welches Hindernis stellt Statusdenken und Verhaften in
Hierarchien dar? Signalisierung vor Bedeutung?
Hilft das Denken von Foucault, um diese Problemlagen besser zu
verstehen?
»Academia has a tendency, when unchecked (from lack of skin in
the game), to evolve into a ritualistic self-referential
publishing game.«, Nassim Taleb
Spielen wir in der Wissenschaft Cargo-Kult im 21.
Jahrhundert?
»Wenn man nur die richtigen Wörter sagt [passend zum jeweiligen
Kult], dann ist es schon wahr.«
Und der Cargo-Kult applaudiert.
»Status können wir in Europa. Und Status ist per definitionem
Abwendung von Realität.«
Wie gehen wir in die Zukunft?
»Ich bin für den Einzelnen optimistisch, fürs Kollektiv weniger.«
Referenzen
Andere Episoden
Episode 111: Macht. Ein Gespräch mit Christine Bauer-Jelinek
Episode 107: How to Organise Complex Societies? A
Conversation with Johan Norberg
Episode 106: Wissenschaft als Ersatzreligion? Ein Gespräch
mit Manfred Glauninger
Episode 103: Schwarze Schwäne in Extremistan; die Welt des
Nassim Taleb, ein Gespräch mit Ralph Zlabinger
Episode 99: Entkopplung, Kopplung, Rückkopplung
Episode 96: Ist der heutigen Welt nur mehr mit Komödie
beizukommen? Ein Gespräch mit Vince Ebert
Episode 95: Geopolitik und Militär, ein Gespräch mit
Brigadier Prof. Walter Feichtinger
Episode 88: Liberalismus und Freiheitsgrade, ein Gespräch mit
Prof. Christoph Möllers
Episode 77: Freie Privatstädte, ein Gespräch mit Dr. Titus
Gebel
Episode 72: Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft,
Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann
Christoph Kletzer
Kings College
X
Fachliche Referenzen
Christoph Kletzer, Presse Kommentar, Der humpelnde Staat: So
geht sicher nichts weiter (2024)
Stafford Beer, The Heart of Enterprise, Wiley (1979)
Thomas Sowell, intellectuals and Society, Basic Books (2010)
Friedrich von Hayek, The Road to Serfdom, Routledge (1944)
John Stuart Mill, On Liberty (1859)
David Graeber, The Dawn of Everything, A New History of
Humanity, Farrar, Strauss and Giroux (2021)
Max Weber, Politik als Beruf (1919)
Nassim Taleb, Skin in the Game, Penguin (2018)
Steven Brindle, Brunel: The Man Who Built the World, W&N
(2006)
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