Emily Tesh - Some Desperate Glory
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Beschreibung
vor 10 Monaten
Deutsche Verlage! Wir müssen reden. Ich verstehe, dass Marketing
im Kapitalismus Klappentexte braucht, denn kein Mensch fängt mehr
Bücher an zu lesen, um dann zu merken, dass ihm wertvollste Zeit
von seiner effektiven Lebensuhr genommen wurde, weil er nach 100
Seiten feststellen muss, dass das Thema denn doch nicht das seine
sei, und da muss man dann ein bisschen spoilern, ok. Egal, wer
clever ist, liest keine Klappentexte. Einen Hauch sinnloser wird
es, wenn man diese Klappentexte vor den Text von Ebooks setzt.
Also als Vorspann vor ein Buch, welches man dann ja schon gekauft
hat, vielleicht bewusst ohne den Spoiler auf Amazon gelesen zu
haben, weil, siehe oben, clever. Dass man dann, Augen zu, über
die entsprechenden Passagen drübertappen muss, ok, das schafft
man. Aber, und hier muss eine Grenze sein: wenn man aus dem sehr
schön vagen Titel "Some Desperate Glory" des englischen Originals
im deutschen "Die letzte Heldin" macht und man damit die sich so
schön unbestimmt entwickelnde Geschichte um die siebzehnjährige
Valkyre, Spitzname "Kyr", semi-spoilert, grenzt an
Körperverletzung. Was machen Heyne?!
Also vergessen wir den Titel augenblicklich und adressieren das
Buch in dieser Lobpreisung mit dem englischen "Some Desperate
Glory", was man hätte so entspannt zum Beispiel mit "Verdammte
Ehre" übersetzen können, was ein ganz hervorragendes Wortspiel
gewesen wäre, denn "Ehre" ist phonetisch nicht fern von "Erde",
und die, das erfahren wir auf der ersten Seite, ist nicht nur
verdammt, sie ist ganz konkret auf dem Weg, in die Luft gesprengt
zu werden.
Die dazu notwendige Antimaterie-Sprengladung steckt in einer Art
Torpedo, der wiederum rast gerade auf den blauen Planeten zu und
das Ding zu entschärfen gelingt Kyr schon zum vierten Mal nicht.
Wir ahnen: es ist eine Simulation. Puh. Aber, oh S**t, eine, so
erfahren wir, die auf der tatsächlichen Zerstörung der Erde
basiert. Das liegt jetzt schon ein paar Jahrzehnte zurück, aber
damit das nie vergessen wird, läuft die Simulation in einer Art
Holodeck in den Trainingsbaracken eines sehr, sehr kleinen
Asteroiden namens Gaia, in dem ein paar überlebende Menschen
durchs All fliegen. Valkyre haben wir schon kennengelernt, "Kyr"
wird sie genannt von ihrer Einheit, ihr geklonter Bruder jedoch
nennt sie "Vallie", was superniedlich ist für eine zwei Meter
große, blonde, genetisch verbesserte Soldatin und sie
entsprechend aufregt. Kyr will sie genannt werden! Sie ist die
beste in allen Disziplinen, die man als Soldatin und "Kind der
Erde" so trainiert und als Chefin ihrer Einheit, also sieben
gleichaltrigen Girls, sorgt sie dafür, dass bitteschön alle
genauso ehrgeizig sind wie sie. Hatte ich erwähnt, dass sie blond
ist und den Pferdeschwanz vorschriftsgemäß streng nach hinten
gebunden hat? Die BDM-Vibes sind Absicht. Und, ein letztes Mal
auf den deutschen Buchtitel bezugnehmend, ja, sie gebärdet sich
wie eine Heldin. Aber ob sie eine ist, wird, bleibt, ist unklar
und entwickelt sich, so wie alle Charaktere über den gesamten
Zeitraum des Buches. Denn Charakterentwicklung ist die
herausragende Qualität von "Some Desperate Glory". Wir lernen
Kyrs Bruder kennen, Kyrs FreundFeindinnen, Aliens, Nerds. Alle
sind sie uns innerhalb weniger Absätze vor Augen und entwickeln
sich permanent in ungeahnte Richtungen. Es ist eine Freude.
Dramaturgisch benutzt Emily Tesh einen alten, aber mir sehr
sympathischen Trick im SciFi/Fantasy-Universum: Sie behandelt
ihren Roman wie ein Rollenspiel. Wer noch nie eines gespielt hat,
muss keine Angst haben, es ist sublim. In einem RPG, wie die
Fachfrau sagt, führt man eine kleine Gruppe wohldefinierter
Helden durch viele kleine Abenteuer und erlebt diese mit ihnen.
Man ist mit ihnen verbunden, versetzt sich in sie hinein, fühlt
mit ihnen, man fiebert, leidet, lebt und stirbt mit ihnen.
Welche Abenteuer man dabei erlebt, ist fast schon egal, aber wenn
die Story wie hier eine aufregende und innovative ist, ist es
natürlich noch schöner. Und boah, pardon my french, hat Emily
Tesh eine Story in petto. Ich versuche nicht wirklich zu
spoilern, aber Puristen sollten jetzt einkaufen gehen, das Buch
lesen und bei Bedarf zurückkommen.
Zunächst: "Some Desperate Glory" ist ganz vordergründig eine
Space Opera. Das ist aber nur das Setting, welches Emily Tesh
sich und uns gebaut hat, mit dem Zweck, uns permanent in
moralische Moraste zu führen. Und was für welche! Allein der
Bodycount! "Some Desperate Glory" muss der Roman mit der höchsten
Menge an Toten ever sein, locker! Der kleine militärische Posten
auf dem Asteroiden Gaia, auf dem die Handlung beginnt, fliegt so
einsam durchs Weltall, weil, wir sprachen es an, die Erde
gesprengt wurde. Das sind schon mal 15 Milliarden. Wie das
passieren konnte, ob es unvermeidlich war und was man darüber
denken soll, ist der rote Faden des Romans. Gesprengt wurde die
Erde im Auftrag einer Community von Aliens namens die Majoda und
zwar mithilfe eines "Dinges". Was für ein Ding? Mh, schwer. Es
ist ein weltendefinierendes. Es wird "Wisdom" genannt. Ist es ein
Alien? Ein Gott? Eine Technologie? Literarisch ist es eine Deus
Ex Machina. In gewöhnlicheren SciFi-Romanen ist das oft eine
Abkürzung durch den Plot und eher eine Sache für einfallslose
Autorinnen, um das Unmögliche möglich zu machen. Bei Emily Tesh
ist es der Dreh- und Angelpunkt von Stories, Handlungen, Personen
und Universen.
Diese "Weisheit" also hat die neu im intelligenten Universum
aufgetauchte Menschheit beobachtet, analysiert, kurz nachgedacht
und festgestellt: it's complicated. Wir lesen immer wieder
Einschübe über diese Menschen, hier zum Beispiel beschreibt ein
Alien-Wikipedia-Artikel, was wir selbst ungern über uns lesen:
Ein Mensch versucht instinktiv und mit allen Mitteln, die
Interessen seines Stammes zu verteidigen. Besonders die
männlichen Menschen sind dabei von Natur aus aggressiv und
territorial. Die gängige Vorstellung von Menschen als
gewalttätigen Wahnsinnigen rührt im Grunde von der Tatsache her,
dass wir nicht verstehen, wie genau die physischen Fähigkeiten
der Menschen mit ihren Instinkten zusammenhängen. Die Geschichte
der Menschen und auch deren Medien sind voll von »Soldaten« und
»Heldinnen« — von Individuen, die im Namen ihres Stammes Gewalt
ausüben —, und erstaunlicherweise werden diese als
bewunderungswürdig angesehen.
Am Ende kommt die "Weisheit" zum Schluss, dass der Mensch, wir
also, Du und ich, ist, wie er ist. Nicht so sehr ein guter. Arg
psychotisch könnte man sagen. Allein das Ding mit den zwei
Geschlechtern. Was da für Aggressionen im Spiel sind, welche
Ränke geschmiedet werden: Fortpflanzung, Darwinismus, Recht des
Stärkeren. Aber auch wie stark das diese Menschen gemacht hat,
man ist leicht entsetzt. Jetzt sind sie also hier, diese
Menschen, sie haben das Problem mit der Lichtgeschwindigkeit
geknackt und sitzen mit ihren riesigen, waffenstarrenden
Raumschiffen inmitten von total netten, auf Freundschaft
getrimmten Aliens, die seit Jahrtausenden friedlich ihr Ding
machen.
Dass sie so friedlich miteinander können, hat, so lernen wir,
viel mit besagtem Ding zu tun, der "Weisheit". Und die kommt zum
Schluss, dass es für die hunderte Trillionen netter
Universumsbürger Sinn macht, dass die 15 Milliarden Aggros besser
verschwinden, mitsamt ihrer Erde. Schade drum, wirklich, man hat
es sich nicht leicht gemacht, aber zu groß ist das zerstörerische
Potenzial von uns f*****g Menschen. Kommt uns bekannt vor? Genau.
Nur, bekommst Du, als, sagen wir, genetisch aufgepumpte Soldatin
"Kyr", 17, der seit dem sie "schießen" sagen kann, tagaus, tagein
erzählt wird, dass deine Milliarden Menschenbrüder und
-schwestern von Aliens gekillt wurden, nun, bekommst Du da
eventuell einen leichten Hass auf das Universum und seine
Einwohner? Sinnst du eventuell auf Rache? So ein kleines
Bisschen? Und sehen wir das als Leserinnen vielleicht auch so?
Allein diese Prämisse macht dieses Buch zu einem würdigen
Hugopreisträger. Was das Buch neben dieser Story auszeichnet, ist
etwas durchaus nicht Selbstverständliches im Genre. SciFi-Romane,
da machen wir uns nichts vor, sind nicht für jedermann. Selbst
ich, als wirklicher Enthusiast, der immer wieder nach dem
Extremsten des gerade noch so Vorstellbaren im Universum sucht,
habe oft die ersten Seiten eines utopischen Romans eine harte
Konzentrationsaufgabe vor mir. Je weiter weg in Zeit und Raum die
Welt ist, in die man geworfen wird, je abseitiger die Aliens, die
Perspektiven, die Erfindungen, desto steiler der Weg ins Buch.
Die 2014er Hugopreisträgerin Ann Leckie ist hier ein
Paradebeispiel, ihr auch im Studio B vorgestellter Bestseller
"Ancillary Justice" erzählte eine Story in weiten Teilen aus der
Sicht eines sich selbst bewussten Raumschiffes, welches die Welt
durch hunderte Augenpaare betrachtet, die in Androiden stecken,
die mal Menschen waren. Komplizierter Tobak. Und eine tolle
Möglichkeit für wilde Storys, Überfälle, Schießereien,
Kapitalismuskritik, what have you. Es ist aber eben auch hart, da
erst mal reinzukommen.
Emily Tesh führt uns hingegen mit spielerischer Leichtigkeit in
ihr nicht weniger seltsames Universum ein. Das Buch ist somit
durchaus für ganz normale Menschen geeignet, Lyrikfreunde,
Gesellschaftsromanleserinnen und so. Denn so groß die
Unterschiede zwischen unserer geradlinigen menschlichen Realität
und dem nicht ganz so linearen Raum-Zeit-Kontinuum von "Some
Desperate Glory" auch sind, mit ein bisschen Flexibilität im
Denken ist man sofort drin. Diese Anforderung verbindet den Leser
mit den handelnden Personen im Buch. Auch diese müssen alsbald
ein bisschen beweglich im Kopf werden. Zum Beispiel was
Geschlecht und Sexualität betrifft: Es gibt erwartbar auf Gaia,
der "Garnison der letzten Menschen", in der Kyr und ihr Bruder
aufwachsen, keine große Toleranz für nicht-reproduktive Gefühle.
Gleichzeitig lebt man inmitten von Aliens und trotz
Informationsembargo, Nord-Korea-Style, trotz Abschirmung und
Indoktrination, dringt die Weichheit, Güte, Freiheit, Seltsamkeit
einer Aliengesellschaft alsbald ins Leben unserer Protagonisten
und dort auf die explosive Mischung von einerseits
indoktrinierten, aber eben auch hormonell nicht ganz
ausgeglichenen Teenagern. Resultat: Emotionale Ambivalenz!
Verwirrung! Nicht-Binäre Aliens! Personalpronomen!
Da sind wir aufgeklärten Leserinnen natürlich spitze drin, wir
lesen ja seit Jahren schon Hugo-Preisträger, und ein solcher wird
man seit ein paar Jahren nicht mehr, wenn man auf Seite 8 nicht
mindestens drei neue Geschlechtsfürwörter eingeführt hat. Das
wirkt oft genug recht aufgesetzt (Ann Leckies jüngstes Buch
"Translation State" ist da ein recht trauriges Beispiel, wenn
auch ein gutes Buch). Emily Tesh jedoch zeigt, wie es gehen kann.
Homosexualität, erzwungene Binarität und ja, auch ein paar neue
Personalpronomen sind hier nicht Statements, sondern genuine
Handlungstreiber und wir beginnen bald im Roman über Stereotype
und deren Sinn und Unsinn nachzudenken. Nicht, weil das gerade
woke ist, sondern weil wir uns ziemlich schnell in der Story in
die Weltsicht der Aliens versetzen und uns sagen: Was zum Teufel
machen diese Menschen hier eigentlich? Warum dieser ewige Kampf
um die "richtige" Sexualität, die "richtige" Sprache, der
seltsame Krampf, wie was sein soll und wie nicht?
"Some Desperate Glory" oder auch dessen hier nicht nochmal
benannte deutsche Übersetzung ist also eine klare Empfehlung. Für
alle, die das abkönnen und den ultimativen Spoilerschutz haben
wollen, rate ich dringend, den Roman auf einem elektronischen
Gerät zu lesen. Diese haben die unterschätzt brillante Funktion,
dass man den Fortschritt im Buch verbergen kann, etwas, was bei
einem Paperback bekanntermassen schwer ist. Bei "Some Desperate
Glory" lohnt das ungemein. Denn nach der ersten großen Explosion
im Buch (falsch, der zweiten, nach der Erde und ich verrate hier
nicht, was da apokalyptisch knallt) denken wir nämlich, das Buch
ist zu Ende: 'Danke, ein bisschen dark, aber so ist es..' und
merken: 'Oups, no no no, noch lange nicht!' Wie und wann die
Story dann wirklich endet, wird auf dem fortschrittslosen Kindle
zum Metarätsel und trägt enorm zum Lesevergnügen bei.
Um dieses nicht noch weiter hinauszuzögern, empfehle ich somit
den sofortigen Spontankauf beim elektronischen Buchhändler der
Wahl und man nehme sich die nächsten Abende nichts vor. So gut
ist "Some Desperate Glory" von Emily Tesh!
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