044 – Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom

044 – Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom

Auf diese Episode habe ich mich lange gefreut: Ich spreche mit dem Historiker, Philosophen, Autor und Generalisten Philipp Blom über Fortschritt und die Reflexion des Fortschrittsbegriffes in der Geschichte. Ich beginne das Gespräch mit einer persönl...
1 Stunde 14 Minuten
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Woher kommen wir, wo stehen wir und wie finden wir unsere Zukunft wieder?

Beschreibung

vor 2 Jahren

Auf diese Episode habe ich mich lange gefreut: Ich spreche mit
dem Historiker, Philosophen, Autor und Generalisten Philipp Blom
über Fortschritt und die Reflexion des Fortschrittsbegriffes in
der Geschichte.


Ich beginne das Gespräch mit einer persönlichen Frage zur
Bedeutung von Geschichte für das Verständnis aktueller Probleme
und der Suche nach einer lebenswerten Zukunft. Sehen wir aktuell
das »Auftauchen alter Probleme in neuem Gewand?« oder ist
Gegenwart und Zukunft doch etwas völlig anderes?


Wie so oft dürfte die Wahrheit in der Mitte liegen: zahlreiche
Muster scheinen sich zu wiederholen und moderne Konflikte sind
häufig ohne die geschichtliche Perspektive nicht zu begreifen und
dann gibt es doch Brüche:
»Die Möglichkeit unserer Auslöschung ist etwas Neues – die
realistische Möglichkeit, dass sich der Mensch selbst abschafft ist
etwas Neues.«

Dies wurde uns als Menschheit das erste Mal mit der Erfindung der
Atombombe bewusst, wiederholt sich aber in den letzten
Jahrzehnten mit den Folgen neuer Technologien, etwa
bei Klimawandel oder synthetischer Biologie. Waren
die Menschen früher ebenso töricht wie heute, hatten aber nicht
die notwendigen technischen Möglichkeiten um die ganze Welt und
sich selbst mit der Welt zu zerstören?


Philipp Blom gehört aus meiner Sicht zu den wichtigen
Generalisten der Zeit, weil er sich nicht auf eine enge
Betrachtung von Geschichte beschränkt, sondern das intellektuelle
Risiko eingeht sie im Wechselspiel mit Technik, Gesellschaft und
Natur zu beschreiben. Besonders auch der Aspekt der Natur wird im
Gespräch immer wieder vorkommen:


»Im Westen haben wir Geschichte ohne die Natur geschrieben.«


Wir diskutieren über die nur langsam reifende Erkenntnis
systemischen Denkens, eine Erkenntnis, die so langsam reift, dass
die Auto-Korrektur meines aktuellen Computers den Begriff
»systemisch« ständig in »systematisch« korrigieren will. Dieses
Verständnis, dass »alles mit allem« in komplexer Weise verbunden
ist, geht im europäischen Denken sehr stark auf Alexander von
Humboldt, einem Universalgelehrten des frühen 19. Jahrhunderts,
zurück.


Dem gegenüber steht ein für die christlichen Tradition
wirkmächtiger Satz in der Bibel: »Macht euch die Erde untertan«.
Ist dies ein Rückschritt im Vergleich zur mythologischen Welt der
Griechen? Die Vielzahl an Göttern konnte man als Metaphern für
verschiedene Aspekte der Natur begreifen — man steht in
Wechselwirkung mit der Natur und ist abhängig von ihr?


Diese Abwendung von der Interaktion mit der Natur als Ergebnis
technischer Naturbeherrschung – Erhöhung über die Natur, wie in
der Bibel dargestellt — kommt in der Neuzeit zu einem Höhepunkt
und es dauert auch nach Humboldt noch lange, bis sich dieses
Verständnis langsam zu ändern beginnt.


Ist Fortschritt somit historisch ein Fortschritt Mancher zu
Lasten Anderer? Ist Fortschritt notwendig mit der Unterwerfung
der Natur verbunden? Beginnt sich diese Logik heute umzukehren?


Der Begriff des »Fortschritts« findet zum ersten Mal in der
Neuzeit breite Verwendung — eine Zeit, in der unter anderem die
jungen Naturwissenschaften und die darauf bauende
Industrialisierung zeigen: man kann eine neue Welt gestalten,
eine Zukunft schaffen.


»Dass man tatsächlich eine neue Welt konstruieren kann, und nicht
nur auf sie warten muss bis der Herr beschließt, jetzt ist der
richtige Moment.«


Der Stein scheint ins Rollen gebracht. Die industrielle
Revolution treibt die Idee des Fortschrittes voran. Das
spiegelt sich dann auch tatsächlich in der Realität der Menschen
wieder: Leben in Städten mit steigender Wohlstand, mehr Dynamik,
Erfindungen, Neuigkeiten, aber auch ausufernder Glaube an
positive Veränderungen


»Wir werden Armut und Kriege ausrotten.«


Spätestens mit dem 20. Jahrhundert beginnt dieser Glaube aber
auch Risse zu bekommen. Am Beispiel des Begriffes der
Neurastenie sprechen wir über Verwerfungen in der
Gesellschaft — die Geschwindigkeit wirft uns um, und führt zu
einem »Zauberlehrlings-Moment«:


»Und sie laufen! Naß und nässer wirds im Saal und auf den Stufen.
Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! hör mich rufen!
–  Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die
ich rief, die Geister werd ich nun nicht los.« 


Mit dem Unterschied, dass uns kein »Meister« zu Hilfe eilen wird
um den Schlamassel, den wir angerichtet haben, aufzuräumen.


Wir sprechen auch über Szientismus, in dessen Folge etwa Eugenik
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weit akzeptierten
und progressiven Agenda wird. Spätestens mit dem Erste
 Weltkrieg zeigt der Fortschritt seine schreckliche Seite.
Wir leben in der Ambivalenz der Maschine, die dem Menschen
helfen, ihn aber auch immer leichter töten kann:


»Der Fortschrittsgedanke kippt mit dem ersten Weltkrieg. […]
 Die Soldaten merken, dass sie den Wettlauf gegen die
Maschine verloren haben.«


Wir verwenden heute den Begriff der Eugenik nicht mehr
gerne, aber es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis genetische
modifizierte Menschen auf die Welt kommen. Stecken wir immer
häufiger in ethischen Dilemmata und Zugzwängen
fest? 


Wir haben seit der Neuzeit auch immer weniger gesicherte
Identitäten — mit allen Vor- und Nachteilen: einerseits
erleben wir reale individuelle Freiheit, andererseits wird diese
Freiheit auch zur Zumutung.


Wir sprechen weiter über die Ästhetik des Fortschrittes — wie
reflektiert Kunst und Propaganda den Fortschrittsgedanken — und
damit verbunden die Frage, ob Technik ein Mittel der
Demokratisierung oder der sozialen Trennung ist.


»Wir leben in einer besonderen historische Phase, in der die
Freiheit selbst Zwänge hervorruft. Die Freiheit des Könnens
erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische Sollen, das
Gebote und Verbote ausspricht. Das Soll hat eine Grenze. Das Kann
hat dagegen keine.«, Byung-Chul Han


Woher kommt mit zunehmender Technisierung und individueller
Freiheit nach der Aufklärung die Struktur, die wir als
Menschen brauchen? Wie lässt sich das Dilemma an der aktuellen
Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen diskutieren?


Letztlich stellt sich die Frage: wie frei sind wir wirklich?
Lässt sich Erkenntnis aufhalten, oder sind wir letztlich
vom Technium getrieben?


»It is almost as if life has an imperative. It wants to
materialize certain patterns.«, und »We are at a second tipping
point where the technium's ability to alter us exceeds our
ability to alter the technium.« Kevin Kelly


Was können wir somit überhaupt noch über die Zukunft entscheiden?
Über den Fluß der Technik? Haben wir die Hoffnung für eine
bessere und lebenswerte Zukunft verloren und denken nur noch in
Retropien?


Andererseits: kein Mensch der Macht hatte, kannte zu seiner Zeit
den Namen von Baruch Spinoza, und dennoch hat er sich als äußerst
wirkmächtig herausgestellt. Die Rolle von sozialen Bewegungen in
der Entscheidung, wohin unsere Welt sich bewegt ist kaum
vorherzusagen. 


Manchmal scheint magisches, kontrafaktische Denken auch das
einzige zu sein, das uns als Menschheit wachsen lässt.


»Wir wissen noch nicht vor was wir gelebt haben werden.«


Referenzen


Philipp Blom


Webseite von Philipp Blom

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln (2017)

Philipp Blom, Was auf dem Spiel steht, Hanser (2017)

Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent, 1900-1914 (2011)

Philipp Blom, Die zerrissenen Jahre, 1918-1938, dtv (2016)

Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent: Europa 1900–1914
(2011)

Philipp Blom, Böse Philosophen (2013)



Andere Episoden


Episode 4 und Episode 5: Was will Technologie?

Episode 12: Wie wir die Zukunft entdeckt und wieder verloren
haben

Episode 15: Innovation oder Fortschritt?

Episode 16: Innovation und Fortschritt oder Stagnation?

Episode 21: Der Begriff der Natur — oder: Leben im
Anthropozän

Episode 29: Fakten oder Geschichten? Wie gestalten wir die
Zukunft?

Episode 37: Probleme und Lösungen

Episode 41: Intellektuelle Bescheidenheit: Was wir von
Bertrand Russel und der Eugenik lernen können



Fachliche Referenzen


Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der
Natur, C. Bertelsmann (2016)

Byung Chul Han, Psychopolitik, S. Fischer (2014)

Kevin Kelly, What Technology Wants, Penguin (2011)

Kevin Kelly, Inevitable, Penguin (2016)

Zygmunt Bauman, Retrotopia, Suhrkamp (2017)

Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart: Eine Geschichte der
Zeit im 17. Jahrhundert, S. Fischer (2014)

Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling

Walt Disneys Interpretation des Zauberlehrlings aus Fantasia

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